menu +

Nachrichten



Kabul (Afghanistan)/Providence (USA). Neta C. Crawford, Professorin für Politikwissenschaften an der Boston University und Autorin des preisgekrönten Buches „Argument and Change in World Politics“, sagt für Afghanistan dunkle Zeiten voraus. Angesichts der neuesten Opferstatistik, die jetzt aus Kabul gemeldet wird, fühlt sie sich in ihrer Prognose bestätigt. Der Krieg in Afghanistan sei längst noch nicht beendet, meint Crawford. Im Gegenteil: „Es wird schlimmer.“ Richtungweisende Zeichen dafür gab es bereits im vergangenen Jahr. Denn 2014 hat die Zahl der zivilen Opfer im Land am Hindukusch nach Angaben der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen (United Nations Assistance Mission in Afghanistan, UNAMA) ein Rekordhoch erreicht. Erfasst worden waren 3699 getötete und 6849 verletzte Zivilisten. Im Vergleich zum Jahr 2013 bedeutete dies einen Anstieg der zivilen Kriegsopfer in Afghanistan um 22 Prozent.

UNAMA zufolge war diese im Vorjahr ermittelte Zahl – 10.548 – die höchste seit 2009, dem Beginn der offiziellen Dokumentation der Vereinten Nationen über afghanische Zivilopfer. 2015 nun eskaliert die Lage in Afghanistan weiter. Hauptschuldige dieser schrecklichen Entwicklung sind die Taliban mit ihrer Frühjahrsoffensive. Der massive Vorstoß hätte vor wenigen Wochen fast zur Einnahme der Provinzhauptstadt Kunduz geführt. Tausende Menschen versuchten, dem Chaos zu entkommen.

Keine Hoffnung in den Flüchtlingscamps am Rande von Kabul

Wie die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl in einem am 3. Juni veröffentlichten Beitrag schreibt, sind derzeit wegen der Kämpfe zwischen Sicherheitskräften und Aufständischen allein in der Kunduz-Provinz immer noch mehr als 15.000 afghanische Zivilisten auf der Flucht. Landesweit werden zum jetzigen Zeitpunkt etwa 800.000 Vertriebene geschätzt. Zehntausende hausen bereits seit einer Ewigkeit in Slums und Zeltstädten vor den Toren der Metropole Kabul. Nach Informationen von Pro Asyl fehlt es dort an medizinischer Hilfe, Versorgung mit Lebensmitteln, sauberem Trinkwasser und menschenwürdigen Unterbringungsmöglichkeiten.

Am Dienstag dieser Woche (9. Juni) nun gab in Kabul der stellvertretende UNAMA-Missionsleiter Mark Bowden bekannt, dass in den ersten vier Monaten dieses Jahres durch die Kriegshandlungen in Afghanistan 978 Zivilisten umgekommen und 1989 verwundet worden sind. Dies bedeute einen Anstieg um ein Viertel gegenüber dem Vorjahreszeitraum 1. Januar bis 30. April 2014, sagte er.

Auf dem Rücken der Zivilbevölkerung – Bushs „Krieg gegen den Terror“

Neta Crawford, die wir zu Beginn zitierten, ist Mitherausgeberin der Studie „Costs of War“, die seit vielen Jahren die kriegsbedingten Todesfälle, Verletzungen und Vertreibungen im Irak sowie in Afghanistan und Pakistan dokumentiert. Das Langzeitprojekt wird betreut vom Watson Institute for International Studies der Brown University in Providence (US-Bundesstaat Rhode Island). Das Team, das die verfügbaren Daten aus den drei Ländern aufbereitet und analysiert, besteht insgesamt aus 30 Wirtschaftswissenschaftlern, Anthropologen, Politologen, Juristen und Medizinern.

Nach den am 22. Mai veröffentlichten aktuellen Zahlen der Studie kostete der „Krieg gegen den Terror“ in den drei Ländern bislang etwa 350.000 Menschen unmittelbar das Leben (andere Studien, die auch die Kriegsfolgen berücksichtigen, gehen von einer weitaus größeren Opferzahl aus; siehe auch hier). Dieser „Global War on Terrorism“ war nach den Anschlägen vom 11. September 2001 durch den damaligen US-Präsidenten George W. Bush ausgerufen worden. In seiner Rede vor dem Kongress und dem amerikanischen Volk hatte Bush am 20. September 2001 erklärt: „Unser Krieg gegen den Terrorismus beginnt mit al-Qaida, aber er wird dort nicht enden. Er wird nicht eher zu Ende sein, bis jede weltweit tätige terroristische Gruppe gefunden, am weiteren Vorgehen gehindert und besiegt worden ist.“ Das Leitmotiv und der Deutungsrahmen für die amerikanische Außenpolitik der nächsten Jahre waren damit gefunden.

Hoher Blutzoll der afghanischen Sicherheitskräfte

Laut „Costs of War“ starben in Afghanistan seit Oktober 2001 bis April 2015 etwa 92.000 Zivilisten und bewaffnete Kräfte. Rund 29.900 afghanische Zivilisten wurden in diesem Zeitraum verwundet. Die Studie der Brown University führt für diesen Kriegsschauplatz in der Übersicht der Getöteten im Einzelnen auf: rund 26.000 Zivilisten, 2357 US-Soldaten, 1114 Angehöriger anderer Koalitionsstreitkräfte, 23.470 Soldaten und Polizisten der afghanischen Sicherheitskräfte, 3401 Mitarbeiter von privaten US-Militärdienstleistern, 331 Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen, 25 Medienvertreter. Die Aufständischen, allen voran die Taliban, sollen „Costs of War“ zufolge in den vergangenen 13 Jahren und sechs Monaten etwa 35.000 Kämpfer verloren haben.

Noch desaströser wird die Bush-Bilanz, rechnet man zu der Afghanistan-Statistik die Zahlen aus den Kriegs- und Krisenländern Pakistan und Irak hinzu. Demnach starben an allen drei Schauplätzen des Leidens seit 2001 bis heute zwischen 343.000 und 371.000 Menschen. Darunter befanden sich rund 210.000 Zivilisten – die meisten davon wurden im Irak getötet.


Zu unserem Bildmaterial:
1. Kabul, 18. Februar 2015 – Vorstellung des UNAMA-Jahresberichts über die zivilen Opfer des Afghanistankrieges im Jahr 2014. Die Aufnahme zeigt den UNAMA-Missionsleiter Nicholas Haysom und Georgette Gagnon, die UNAMA-Direktorin der Sektion „Menschenrechte“. Der Südafrikaner Haysom leitet die Mission der Vereinten Nationen in Afghanistan seit Oktober 2014; er ist Nachfolger des Slowaken Ján Kubiš.
(Foto: Fardin Waezi/UNAMA/United Nations)

2. Das Hintergrundbild unserer Infografik „Zivile Opfer des Afghanistankrieges im Zeitraum Januar 2009 bis Dezember 2014“ entstand am 19. April 2012 unmittelbar nach einem Selbstmordattentat im Garmsir-Distrikt in der Provinz Helmand. US-Sanitätspersonal leistete Erste Hilfe.
(Foto: Reece Lodder/U.S. Marine Corps)

3. Die Infografik „Zwischen den Fronten“ erklärt, welche Konfliktparteien in Afghanistan hauptsächlich für das Leiden der Zivilisten verantwortlich sind. Das Bild zeigt den Schauplatz eines Autobombenanschlags in der Hauptstadt Kabul am 15. Dezember 2009. Bei dem Attentat starben acht Menschen, mehr als 40 wurden verletzt.
(Foto: Adam Ferguson/VII. Mentor Progr.)

4. Vor den Toren Kabuls leben immer noch Tausende von Flüchtlingen in Elendsbehausungen. Besonders in den kalten afghanischen Wintermonaten ist hier schon die Hölle.
(Foto: Mats Lignell/Save the Children)

5. Die Politikwissenschaftlerin und Mitautorin der Langzeitstudie „Costs of War“ Neta Crawford.
(Foto: boston.com)

6. Unsere dritte Infografik „Gefallene und Getötete“ baut auf auf einer Aufnahme vom 14. Februar 2012 aus der Helmand-Provinz. An diesem Tag stellte Spezialkräfte hier eine große Menge Waffen, Munition und Drogen der Aufständischen sicher.
(Foto: PRC Embedded Mentoring Team/British Armed Forces/Crown copyright)


Kommentieren

Bitte beantworten Sie die Frage. Dies ist ein Schutz der Seite vor ungewollten Spam-Beiträgen. Vielen Dank *

OBEN