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Kabul (Afghanistan). Der Super-GAU der amerikanisch-afghanischen Beziehungen ist offenbar in letzter Minute abgewendet worden. Die afghanische Regierung wollte 88 mutmaßliche Extremisten aus dem Militärgefängnis Bagram freilassen. Die USA ließen keinen Zweifel daran, dass eine Freilassung das ohnehin angeschlagene Verhältnis beider Länder zusätzlich belasten würde. Noch immer liegt das dringend benötigte bilaterale Sicherheitsabkommen auf Eis, da Afghanistans Präsident Hamid Karsai die Unterschrift verweigert. Am 2. Januar hatte der republikanische Senator Lindsey Graham bei einem Besuch in Kabul davor gewarnt, dass die geplante Gefangenenfreilassung den Beziehungen einen „irreparablen Schaden“ zufügen würde. Nach Protesten auch der NATO stoppte Karsai am 4. Januar schließlich die Aktion.

Wie ein Vertreter der afghanischen Justiz danach gegenüber der Presse erklärte, sollen auf Anweisung Karsais die Fälle der 88 Inhaftierten zunächst noch einmal überprüft werden. Die Sicherheits- und Geheimdienste seien angewiesen worden, alle entsprechenden Dokumente erneut durchzusehen. Die 88 Häftlinge, die nach US-Angaben aus den Reihen der radikalislamischen Taliban und der Terrororganisation al-Qaida stammen sollen, sind auf dem Luftwaffenstützpunkt Bagram bei Kabul inhaftiert. Die USA hatten das umstrittene Militärgefängnis „Bagram Theater Internment Facility“ am 25. März 2013 endgültig an die afghanische Regierung übergeben. Die 88 sind die letzten Inhaftierten von insgesamt 650 Häftlingen, die Afghanistan freilassen wollte.

Bei seinem Besuch in Kabul am 2. Januar hatte US-Senator Lindsey Graham diese Gefangenengruppe als „äußerst gefährlich“ bezeichnet. Die 88 Männer seien verantwortlich für den Tod von 60 NATO-Soldaten sowie 57 Afghanen. „Sollte es tatsächlich zur Freilassung kommen, hätte das unglaublich negative Folgen für die Zukunft der Beziehungen zwischen dem amerikanischen Volk und der afghanischen Regierung“, so Grahams Warnung.

Die Forderung der USA zur Zukunft der mutmaßlichen Extremisten hatte am 1. Januar noch einmal der Sprecher der US-Truppen in Afghanistan, Oberst Dave Lapan, formuliert. Die „gefährlichen Individuen“ müssten dem „offiziellen afghanischen Justizsystem“ übergeben werden.

Bilaterales Sicherheitsabkommen liegt weiterhin auf Eis

Mit seiner Kehrtwende in letzter Minute hat Präsident Karsai den Draht zu Washington gehalten. Wie gestört sein Verhältnis zum strategischen Partner Amerika aber mittlerweile ist, lässt sich an einer Bemerkung des Paschtunen zur Eröffnung der Großen Ratsversammlung (Loya Dschirga) am 21. November vergangenen Jahres ablesen. Rund 2500 einflussreiche afghanische Persönlichkeiten waren in der Hauptstadt zusammengekommen, um über die zukünftige Ausrichtung des Landes und den Abschluss eines bilateralen Sicherheitsabkommens (Bilateral Security Agreement) zwischen Afghanistan und den USA zu beraten. Karsai hatte zu Tagungsbeginn offenbart, die US-Amerikaner „vertrauen mir nicht, und ich vertraue ihnen nicht“.

Das Interesse an der Loya Dschirga war groß. Sowohl für Afghanistan als auch für die Internationale Gemeinschaft ging es in diesen Novembertagen um viel: Denn die Verabschiedung des Sicherheitsabkommens mit den USA durch Afghanistan ist die zentrale Voraussetzung für das internationale Engagement bei der Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte nach 2014. Dementsprechend verfolgten auch etwa 500 afghanische und internationale Gäste die Beratungen in dem voll besetzten Versammlungszelt am Rande Kabuls. Auch der Deutsche Botschafter war anwesend. Die Mehrheit der Loya Dschirga hob am Ende die Hand, stimmte dem Abkommen zu und beauftragte den Präsidenten, es bis Ende 2013 zu unterzeichnen und damit in Kraft zu setzen.

Aber Karsai überraschte jedoch wieder einmal unangenehm. Er stellte sich stur und weigerte sich, das Vertragswerk zu unterschreiben. Dies wolle er seinem Nachfolger überlassen, der im April dieses Jahres bei der Präsidentenwahl bestimmt wird (Karsai selbst kann bei der Wahl nach bereits zwei Amtsperioden nicht mehr antreten).

Washington droht mit dem Abzug aller Soldaten

Wie ernst die Lage nach Hamid Karsais Weigerung geworden ist, machte die Nationale Sicherheitsberaterin des US-Präsidenten, Susan Rice, deutlich. Unmittelbar nach Ende der Großen Ratsversammlung und Bekanntwerden der Haltung Karsais war sie nach Kabul geflogen, um im Namen Obamas über die Konsequenzen dieser Entscheidung zu sprechen.

Rice ließ bei ihrer Unterredung am 25. November mit Karsai keinen Zweifel an der Haltung der USA: Sie forderte den afghanischen Präsidenten auf, das Bilateral Security Agreement rasch zu unterzeichnen, anderenfalls müsse Washington all seine Soldaten abziehen. „Ohne eine schnelle Unterzeichnung haben die USA keine andere Wahl, als die Planung für eine Zukunft nach 2014 zu beginnen, in der keinerlei Soldaten der USA oder der NATO mehr in Afghanistan präsent sind“, warnte Rice nach Angaben des Weißen Hauses bei dem Gespräch in Kabul. Mit der Unterschrift dürfe keinesfalls bis nach den Wahlen in Afghanistan im April gewartet werden. Dies sei „nicht machbar“.

„Nun gilt es, alles, was erreicht wurde, auch zu sichern“

Gut zwei Wochen später äußerte sich auch der damalige deutsche Verteidigungsminister Thomas de Maizière zu dem Streit um das geplante Sicherheitsabkommen. Bei seinem letzten Truppenbesuch des deutschen ISAF-Kontingents im Norden des Landes verlangte er rasche Klarheit über einen internationalen Militäreinsatz in Afghanistan nach 2014. Er forderte die afghanische Regierung auf, mit der Unterzeichnung des dafür zwingend notwendigen Sicherheitsabkommens nicht bis zur Präsidentschaftswahl im April zu warten. Das sei „sicher zu spät“, so der CDU-Politiker am 11. Dezember vorsichtig diplomatisch.

Auch de Maizières Nachfolgerin, Ursula von der Leyen, bezog Stellung zur Zukunft Afghanistans: Bei ihrem Besuch in Mazar-e Sharif am 22. Dezember – ihrem Ersten in einem Einsatzland der Bundeswehr überhaupt – sagte sie: „Der Kampfeinsatz der ISAF geht zwar zu Ende. Doch nun gilt es, alles, was erreicht wurde, auch zu sichern.“ Die Menschen in Afghanistan vertrauten auf Deutschland und die anderen Nationen, „darauf müssen wir aufbauen“, so die neue Verteidigungsministerin.

US-Sicherheitsdossier lässt keinen Raum für Optimismus

Absolut düster beurteilen US-Geheimdienstkreise die Lage in Afghanistan nach dem Abzug der internationalen Kampftruppen Ende 2014. Dies berichtete am 28. Dezember die Washington Post. Die Tageszeitung beruft sich auf Informationen von fünf anonymen Regierungsbeamten zum neuesten Sicherheitsdossier (National Intelligence Estimate, NIE) der 16 Geheimdienste der Vereinigten Staaten.

Es bestehe laut diesem NIE-Dossier die große Gefahr, dass sich die Sicherheitslage am Hindukusch bis 2017 deutlich verschlechtern werde, so die Washington Post. Die Dienste seien zu der Einschätzung gelangt, dass die Taliban und andere regierungsfeindliche Akteure selbst dann weiter an Einfluss gewinnen werden, wenn die USA einige Tausend Soldaten im Land lassen und der verarmten afghanischen Nation weiter finanziell unter die Arme greifen sollten. Von den Fortschritten, die die Bündnispartner in den vergangenen drei Jahren errungen hätten, bleibe bis 2017 kaum mehr Nennenswertes übrig, fürchten die Geheimdienstexperten. Denn mit dem nahenden Ende des längsten Krieges, den die Vereinigten Staaten je in ihrer Geschichte geführt haben, wachse in Afghanistan auch die Ausbreitung und der Einfluss der Taliban und sonstiger extremistischer Kräfte.

Stärke der afghanischen Sicherheitskräfte nicht unterschätzen

Noch schlimmer gestalte sich das Afghanistan-Szenario, so die Geheimdienstanalysen, wenn das notwendige Sicherheitsabkommen zwischen Washington und Kabul endgültig scheitern sollte und Obama die „Nulllösung“ („Zero Option“), den Totalabzug, befehlen würde. In diesem Fall – ohne ein Restkontingent von US-Soldaten in Afghanistan und ohne weitere Finanzhilfen aus den USA – werde die Islamische Republik „schon bald im Chaos versinken“.

In US-Regierungskreisen werden die Prognosen der nationalen Geheimdienst-Community zu Afghanistan nicht von allen Adressaten gleichermaßen geteilt. Der Washington Post zufolge gibt es auch eine Reihe von Entscheidungsträgern, die das Dossier insgesamt als „zu pessimistisch“ kritisieren. Man dürfe die Stärke der afghanischen Sicherheitskräfte nicht unterschätzen, hieß es aus Insiderkreisen. Auch würde sich zwar nach 2014 die Macht- und Gebietsverteilung unweigerlich ändern, dies sei jedoch nicht automatisch gleichzusetzen mit einem Machtzuwachs der Taliban.

Einführung der Scharia bleibt eine zentrale Forderung der Taliban

Die Aufständischen selber lassen meist keinen Zweifel an ihren kurz- und langfristigen Zielen. Das in Philadelphia beheimatete US-Forschungsinstitut FPRI (Foreign Policy Research Institute) beispielsweise veröffentlichte im April 2013 die Ergebnisse eines über Jahre angelegten Meinungsforschungsprojektes in Afghanistan. In Zusammenarbeit mit den Sozialwissenschaftlern von Glevum Associates aus Gloucester/Massachusetts und weiteren Forschungsteams waren seit 2006 in Afghanistan in rund 5000 Städten und Dörfern mehr als 300.000 Menschen aus allen Schichten befragt worden. Auch war es den Interviewern in den Wintermonaten der Jahre ab 2010 gelungen, längere Gespräche mit 78 aktiven Talibankämpfern zu führen.

Das aus einer Unmenge an einzelnen Informationen und Meinungen entstandene Gesamtbild verheißt nichts Gutes. Afghanistan stehe „eine harte Zukunft“ bevor, prophezeit FPRI. Unter den Taliban ist die Meinung fast einhellig, auch nach dem Abzug der westlichen Truppen den Kampf gegen die (derzeitige) afghanische Regierung fortsetzen zu müssen. Alle interviewten Talibankämpfer – und auch eine wachsende Prozentzahl der Zivilbevölkerung – halten die Regierung in Kabul für illegitim, korrupt, unfähig und unislamisch. Das Vertrauen in die Karsai-Administration, einmal im Rahmen von Friedensverhandlungen gegebene Zusagen später auch einzuhalten, ist alles in allem gering. Weit weniger als 50 Prozent der befragten Taliban vertreten zudem die Auffassung, dass Verhandlungen zwischen den Gegnern den Krieg tatsächlich beenden könnten. Und auch diese Minderheit würde getroffenen Vereinbarungen auch nur dann zustimmen, wenn die drei Schlüsselforderungen der Aufständischen erfüllt würden: völliger Abzug fremder Truppen aus Afghanistan, landesweite Einführung der religiös orientierten Rechtsordnung Scharia sowie eine komplette Absetzung der derzeitigen Kabuler Regierung.

Vor diesem Hintergrund der wie in Stein gemeißelten Taliban-Forderungen kommt das Forschungsinstitut zu dem Schluss, dass der Kampf der Aufständischen gegen die Regierung auch nach 2014 anhalten wird. Sollten die afghanischen Sicherheitskräfte dann die Bewährungsprobe nicht bestehen, drohe dem Land die innere Auflösung und mit großer Wahrscheinlichkeit ein Bürgerkrieg. Weiter schreibt FPRI in seiner Studie über die afghanische Aufstandsbewegung: „Der Zusammenbruch würde dadurch beschleunigt, dass die Elite Afghanistans das Land verlassen und Kapital in großen Mengen ins Ausland abfließen würde. Solch ein Schreckensszenario könnte höchstens dadurch abgewendet werden – möglicherweise auch nur vorübergehend – wenn die Vereinigten Staaten und die Internationale Gemeinschaft auch nach 2014 weiterhin militärische Hilfestellung und finanzielle Unterstützung, eventuell in geringerem Umfang als bisher, gewähren.“


Hintergrund                                         

In einem Beitrag für die Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) befasste sich 2008 der Politikwissenschaftler und ausgewiesene Amerikakenner Peter Rudolf unter anderem mit dem Thema „National Intelligence Estimate“.
Der SWP-Mitarbeiter erklärte: „National Intelligence Estimate (NIE) ist eine gemeinsame Analyse der US-Nachrichtendienste … Bei NIE handelt es sich um Einschätzungen künftiger Entwicklungen und ihrer Implikationen für die USA. Sie sind das wichtigste formelle Produkt der amerikanischen Nachrichtendienste. Verantwortlich dafür ist das National Intelligence Council, das beim Director of National Intelligence (DNI) angesiedelt ist.“
Zum National Intelligence Council und zum Amt des DNI schreibt Rudolf weiter: „Das Amt wurde im Intelligence Reform and Terrorism Prevention Act of 2004 geschaffen; der DNI hat die Arbeit der 16 amerikanischen Geheimdienste zu koordinieren. Zum National Intelligence Council gehören führende Analytiker der Nachrichtendienste, aber auch Experten aus dem öffentlichen und dem privaten Sektor. Bei dem meist langwierigen Prozess der Abfassung eines NIE werden alle verfügbaren geheimen und öffentlichen Quellen herangezogen. Die Berichte werden für das amerikanische ,government‘ erstellt, also nicht nur für die Administration, sondern auch für den Kongress (sprich für die beiden Geheimdienstausschüsse, das Senate Select Committee on Intelligence und das House Permanent Select Committee on Intelligence).“

Nach Angaben des Office of the Director of National Intelligence gehören folgende Geheimdienste der USA zur „Intelligence Community“:

  • Air Force Intelligence
  • Department of the Treasury
  • Army Intelligence
  • Drug Enforcement Administration
  • Central Intelligence Agency
  • Federal Bureau of Investigation
  • Coast Guard Intelligence
  • Marine Corps Intelligence
  • Defense Intelligence Agency
  • National Geospatial-Intelligence Agency
  • Department of Energy
  • National Reconnaissance Office
  • Department of Homeland Security
  • National Security Agency
  • Department of State
  • Navy Intelligence



Zu unserer Bildsequenz:
1. Das Verhältnis zwischen Afghanistans Präsident Hamid Karsai und US-Präsident Barack Obama gilt – gelinde gesagt – als angespannt. Das Foto entstand am 1. Mai 2012 im Weißen Haus in Washington anlässlich des Besuches des afghanischen Staatsoberhauptes.
(Foto: Pete Souza/White House)

2. Außenansicht des Gefängniskomplexes auf dem Luftwaffenstützpunkt Bagram, Afghanistan.
(Foto: amk)

3. Beratung und Abstimmung der Loya Dschirga über das Sicherheitsabkommen zwischen den USA und Afghanistan. Das Bild zeigt die Teilnehmer der Großen Ratsversammlung am 21. November 2013.
(Foto: Fardin Waezi/UNAMA)

4. Talibankämpfer legen ihre Waffen nieder – die Aufnahme entstand am 22. Mai 2010.
(Foto: Fraidoon Poya/UNAMA)

5. Nicht wenige Experten halten in Afghanistan nach dem Abzug westlicher Truppen einen Bürgerkrieg für möglich.
(Foto: PRC Embedded Mentoring Team/MOD United Kingdom)

6. US-Geheimdienste warnen in ihrem neuesten NIE-Sichherheitsdossier davor, dass Afghanistan nach 2014 völlig im Chaos versinken könnte. Das Bild vom 14. Februar 2011 zeigt die Verwüstungen in einer Kabuler Einkaufspassage nach einem Selbstmordanschlag der Taliban.
(Foto: Basetrack)


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