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Berlin/Kahramanmaras (Türkei). Jetzt ist es offiziell – der Einsatz der NATO in der Türkei mit Patriot-Flugabwehrsystemen bringt die dort stationierten deutschen Luftwaffeneinheiten an die Grenze ihrer Belastbarkeit. An der Mission „Active Fence Turkey“ haben nach rund 20 Monaten Einsatzdauer bislang 1556 Bundeswehrangehörige teilgenommen. Davon wurden 13 Prozent bereits mehrfach bei „Active Fence“ eingesetzt. Bezogen auf den Gesamteinsatz wurde bei 435 der deutschen Soldatinnen und Soldaten (28 Prozent) die aus Fürsorgegründen vorgeschriebene Karenzzeit zwischen zwei Auslandseinsätzen von 20 Monaten nicht eingehalten. Diese Angaben machte am 18. September der Parlamentarische Staatssekretär bei der Bundesministerin der Verteidigung, Ralf Brauksiepe. Er antwortete auf eine entsprechende schriftliche Anfrage des Bundestagsabgeordneten Tobias Lindner (Bündnis 90/Die Grünen) zum Türkeieinsatz der Bundeswehr.

Das Schreiben, aus dem bereits das Nachrichtenmagazin Der Spiegel und die Nachrichtenagentur dpa zitiert hatten, liegt auch der Redaktion bundeswehr-journal vor. Demnach sind von den insgesamt 270 Angehörigen des 5. Deutschen Einsatzkontingents „Active Fence Turkey“, das derzeit im anatolischen Kahramanmaras etwa 100 Kilometer nördlich der syrischen Grenze stationiert ist, 93 unterhalb der vorgegebenen Karenzzeit – davon 70 als „Wiederholer“ aus dem „Active Fence“-Einsatz und 23 als „Wiederholer“ aus anderen Einsatzgebieten. Wie Staatssekretär Brauksiepe außerdem mitteilte, hätten etwa 100 Soldatinnen und Soldaten bereits mehr als 200 Tage Dienst im Türkeieinsatz geleistet.

Zur Minderung der Einsatzbelastungen würden nun „diverse Maßnahmen“ umgesetzt, schreibt Brauksiepe weiter. Beispielhaft nennt er an dieser Stelle „eine Aufteilung der gesamten Einsatzdauer auf mehrere Zeiträume für Einzelpersonal, die Durchführung von ,Recreation‘-Seminaren für besonders belastetes Personal sowie Betreuungsangebote innerhalb und außerhalb der Liegenschaften“.

Ein „leuchtendes Beispiel für die Bündnissolidarität“

Die Bundeswehr leistet nach einem Beschluss des NATO-Rates vom 4. Dezember 2012 und einer Mandatserteilung durch den Deutschen Bundestag am 14. Dezember 2012 seit Januar 2013 ihren Beitrag zur Verstärkung der integrierten Luftverteidigung der NATO in der Türkei. Hintergrund von „Active Fence Turkey“ ist der Bürgerkrieg in Syrien, dem unmittelbaren Nachbarn der Türkei. Die deutschen Soldaten in Kahramanmaras schützen den türkischen Luftraum gemeinsam mit niederländischen und amerikanischen Einheiten. Die Niederländer sind mit ihren Patriot-Systemen in Adana, die US-Kräfte in Gaziantep (siehe auch hier und hier).

Der Bundestag stimmte am 29. Januar dieses Jahres dem weiteren Verbleib der deutschen Patriot-Einsatzstaffel „Active Fence“ in der Türkei mit großer Mehrheit zu. Das Mandat erstreckt sich nun bis zum 31. Januar 2015. Es erlaubt die Entsendung von insgesamt 400 Bundeswehrangehörigen nach Anatolien. Unter den derzeit 271 Bundeswehrsoldaten im Türkeieinsatz (Stand 22. September) sind 23 Frauen sowie acht Reservisten.

Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen hatten sich am 25. Juni während der Haushaltsdebatte im Deutschen Bundestag wie folgt zu dem Thema „Active Fence Turkey“ geäußert: „Es ist nicht so, wie zum Teil kolportiert wurde, dass dieser Einsatz infrage steht, weil Deutschland nicht durchhaltefähig ist. Das ist nicht der Fall, Deutschland ist bei ,Active Fence‘ durchhaltefähig.“ Die Ministerin hatte zuvor am 25. März das deutsche Kontingent in Kahramanmaras besucht und sich vor Ort einen Überblick verschafft. Dabei hatte sie den Patriot-Einsatz als „ein leuchtendes Beispiel für Bündnissolidarität“ bezeichnet.

Dringend das Prinzip „Breite vor Tiefe“ hinterfragen

Der Wehrbeauftragte des Bundestages, Hellmut Königshaus, hatte sich vor wenigen Tagen erst zum Türkeieinsatz der Bundeswehr geäußert. Die Süddeutsche Zeitung zitierte ihn mit den Worten: „Dem Verteidigungsministerium ist bekannt, dass der Einsatz in der Türkei strukturell nicht durchhaltefähig ist. Ihn erneut verlängern zu wollen, wäre eine politische Entscheidung, die dem betroffenen Personal nur mit großem argumentativen Aufwand verständlich zu machen ist.“

Und an anderer Stelle kritisiert Königshaus: „Das sich abzeichnende Ende des Patriot-Einsatzes ist ein weiterer Beleg dafür, dass die Neuausrichtung der Bundeswehr bisher nicht zu einsatzfähigeren und durchhaltefähigen Strukturen geführt hat.“ Die Evaluation der Bundeswehrreform solle „dringend dazu genutzt werden, das Prinzip ,Breite vor Tiefe‘ (Anm.: Wahrung aller Fähigkeiten statt Spezialisierung) zu hinterfragen.“

Nur noch drei einsatzbereite Waffensysteme in Deutschland für die Ausbildung?

Das Antwortschreiben des Parlamentarischen Staatssekretärs an Tobias Lindner offenbart – neben der Einsatzbelastung der Bundeswehrsoldaten – noch eine weitere „Baustelle“. Brauksiepe: „Zur Gewährleistung der maximalen Einsatzbereitschaft der Patriot-Staffeln in der Türkei werden diese vorrangig mit Ersatzteilen versorgt. Das beeinflusst den Klarstand der anderen Patriot-Staffeln der Bundeswehr“.

Den Prognosen der Luftwaffe zufolge, so der Staatssekretär in seinem Schreiben weiter, stünden bei einer Fortsetzung des Türkeieinsatzes über den 31. Januar 2015 hinaus den drei Patriot-Verbänden in Deutschland „für Ausbildungsmaßnahmen oberhalb der lehrgangsgebundenen Individualausbildung“ zeitweise nur noch drei einsatzbereite Waffensysteme zur Verfügung (Waffensystem Patriot in der Grundkonfiguration: ein Multifunktionsradar, ein Feuerleitstand, acht Startgeräte mit Lenkflugkörpern, eine Richtfunkkomponente mit Antennenmastanlage und diverse Stromerzeugungsanlagen).

Die Konsequenzen werden in Brauksiepes Papier so beschrieben: „Daraus gegebenenfalls resultierende Verdrängungseffekte – beispielsweise die Verschiebung einer für das Jahr 2016 geplanten NATO-Überprüfung oder Einschränkungen im Ausbildungs- und Übungsbetrieb – sollen nach einer Beendigung des Einsatzes und einer notwendigen technischen Grundüberholung durch ein entsprechend intensiviertes Training kompensiert werden.“ Aber, so der Parlamentarische Staatssekretär am Schluss: „Eine Voraussetzung hierfür ist die entsprechende finanzielle Ausstattung im Bereich der Materialerhaltung.“


Die beiden Aufnahmen zeigen:
1. Das Waffensystem Patriot. Die Besonderheit an der Radartechnik dieses Flugabwehrsystems ist der Zusammenschluss mehrerer Radargeräte, die alle auf ein Antennensystem zurückgreifen können. Die Antennen drehen sich nicht, ihre Richtstrahlen werden abgelenkt (phasengesteuert). Patriot unterscheidet automatisch Freund und Feind und führt eine Bedrohlichkeitseinstufung durch. Erkennt das Radarsystem eine Bedrohung, so werden entsprechende Informationen an die mit zwei Arbeitsplätzen ausgestattete Patriot-Feuereinheit weitergeleitet. An dieser „Schnittstelle von Mensch und Maschine“ werden die Hauptfunktionen von Patriot überwacht und bedient: Luftraumüberwachung und Zielverfolgung, Bedrohungsanalyse, Darstellung des Luftraums, Koordination mit den Führungszentren, Auswahl der Lenkflugkörper, Berechnung der Flugbahnen und Flugkörperprogrammierung.
(Foto: Michael Mandt/Bundeswehr)

2. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen bei ihrem Besuch des deutsche Einsatzkontingents „Active Fence Turkey“ in Kahramanmaras. Die Aufnahme vom 25. März 2014 zeigt die Ministerin im Staffelgefechtsstand.
(Foto: Carsten Vennemann/Bundeswehr)


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