London (Großbritannien)/Sydney (Australien). Es ist nur eine schreckliche Momentaufnahme, zugleich aber auch ein starker Indikator für wahrscheinliche weltweite Entwicklungen. In ihrer aktuellen Studie „Der neue Dschihadismus – ein globaler Schnappschuss“ dokumentieren der World Service der britischen BBC und das Internationale Zentrum für Studien zur Radikalisierung und politischen Gewalt in London (The International Centre for the Study of Radicalisation and Political Violence, ICSR) das blutige Ergebnis islamistischer Gewalttaten im Monat November 2014. Weltweit wurden in dem Untersuchungszeitraum 5042 Menschen von Dschihadisten getötet. Die Rechercheergebnisse von BBC und ICSR zeigen zudem, dass die dschihadistische Bewegung nicht – wie noch vor gut vier Jahren angenommen – kurz vor ihrem Ende steht, sondern vielmehr stärker ist als je zuvor. Ein weiterer neuer Report, der „Global Terrorism Index 2014“ des australischen Wirtschafts- und Friedensforschungsinstituts IEP (IEP: Institute for Economics & Peace), erfasst für das Jahr 2013 weltweit fast 10.000 terroristische Anschläge. Für die Mehrzahl der Terrorakte waren militante Islamisten verantwortlich.
Peter R. Neumann, der Direktor des am King’s College in London beheimateten ICSR, blickte bei der Vorstellung der Studie noch einmal zurück: „Knapp vier Jahre zuvor nahm man an, dass die Zeit dschihadistischer Gewalt insgesamt gesehen allmählich zu Ende gehen würde. Osama Bin Laden und die meisten ranghohen Führer seiner Terrororganisation waren tot. Die zunächst friedvollen Erhebungen des Arabischen Frühlings schienen eine neue Ära des Friedens und der Demokratisierung begründen zu wollen, in der kein Platz mehr für al-Qaida und den dschihadistischen Terror war. Al-Qaida und der Dschihadismus wirkten plötzlich überholt – anachronistisch. Journalisten, Experten, ja sogar gestandene Politiker waren bereits wieder zur Tagesordnung übergegangen. Über al-Qaida machten jetzt Einschätzungen wie ,im Niedergang begriffen‘ oder ,strategisch am Ende‘ und ,kurz vor dem endgültigen Untergang‘ die Runde“.
Aber – so Neumann – es sollte alles ganz anders kommen. „Ende 2014 sind es nicht mehr al-Qaida und der Dschihadismus, die überholt scheinen. Anachronistisch erscheinen inzwischen wohl all jene Prognosen, die uns ein baldiges Ende des Schreckens versprachen.“ Denn weit davon entfernt besiegt zu sein, hätten sich weltweit dschihadistische Gruppierungen neu etabliert oder neu formiert, erklärte der Direktor des ICSR. Die radikalen Islamisten profitierten dabei von neuen Konflikten und Instabilitäten – ganz besonders in Ländern wie Syrien, wo es 2011 zu ersten Aufständen gekommen war. Mit der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) sei den Fanatikern außerdem eine „spektakulärste Neugründung“ geglückt, die heute über weite Teile Syriens und des Iraks herrsche und in Fragen des globalen Dschihadismus zu einer echten Konkurrenz für al-Qaida geworden sei.
Die Autoren der Studie von BBC und ICSR gehen davon aus, dass im Monat November 2014 weltweit 5042 Menschen von Dschihadisten getötet worden sind. Dabei verübten Extremisten in 14 Ländern 664 Anschläge oder Angriffe. Die große Zahl der Terroropfer entspricht in etwa – vergleicht man sie mit den Londoner Terroranschlägen vom 7. Juli 2005 – drei Verbrechen dieser Größenordnung pro Tag (in London starben damals bei Explosionen, ausgelöst durch vier Selbstmordattentäter in drei U-Bahnen und einem Doppeldeckerbus, 52 Menschen; mehr als 700 Personen wurden zum Teil schwer verletzt).
Insgesamt bekannten sich 16 dschihadistische Gruppierungen zu den Anschlägen und Angriffen im November beziehungsweise wurden von den Behörden identifiziert. Am brutalsten ging der „Islamische Staat“ vor. Mit 306 Attacken, die 2206 Todesopfer in Syrien und im Irak forderten, war demnach der IS für 44 Prozent der in diesem Monat Getöteten verantwortlich.
Die Taliban in Afghanistan ermordeten im Untersuchungszeitraum bei 150 Attacken 720 Männer, Frauen und Kinder. Es folgen in der Gewaltstatistik Harakat al-Shabaab al-Mujahedin aus Somalia (41 Attacken mit 266 Toten), die jemenitische Gruppierung al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel (36/410), die al-Nusra-Front aus Syrien (34/257), die Tehreek-e-Taliban Pakistan (32/146) sowie Boko Haram aus Nigeria (30/801).
Die im November von Terror am schlimmsten betroffenen Länder waren Irak, Nigeria, Afghanistan und Syrien – mit 80 Prozent der Todesopfer (4031). Der Irak hatte mit 1770 Opfern beziehungsweise mehr als einem Drittel der Opfergesamtzahl (35 Prozent) die meisten Toten zu beklagen. Dort wurden auch die meisten Angriffe (233) verübt.
Dahinter folgt Nigeria mit 786 Toten bei nur 27 Übergriffen – unter anderem den verheerenden Bombenanschlägen von Boko Haram (Boko Haram verübte weitaus weniger Angriffe – 30 im Monat November –, allerdings kamen dabei in Nigeria und Kamerun mit 801 Opfern mehr Menschen ums Leben).
In Afghanistan führten 152 Attacken zu 782 Toten. In Syrien verloren bei 110 Attacken der Dschihadisten 693 Personen ihr Leben.
Wie die Mitarbeiter an der Londoner Studie ermitteln konnten, waren die meisten der im November 2014 von Terroristen getöteten Menschen Muslime. Ermittelt werden konnte auch, dass die Mehrzahl der Opfer Zivilisten waren (2080), eine weitere große Zahl Militärpersonal (1723).
Die meisten Opfer (1653 Menschen) kamen durch Bombenattentate (241) um. Allein beim Bombenattentat auf die Große Moschee in Kano in Nigeria starben am 28. November dieses Jahres 120 Menschen. Bei Angriffen bewaffneter Dschihadisten starben weitere 1574 Menschen. 666 wurden bei Überfällen aus dem Hinterhalt getötet. 426 Menschen wurden hingerichtet (den Quellen von BBC und ICSR zufolge gab es dabei 50 Enthauptungen; 34 der Enthauptungen fanden in Syrien statt, zwölf im Jemen und vier in Libyen).
Die Süddeutsche Zeitung schrieb in ihrem Beitrag „BBC-Statistik zu Dschihadisten“ am 11. Dezember: „Die Ideologie des globalen Dschihadismus […] ist gemäß der ICSR-Studie gekennzeichnet durch die Bereitschaft zu Ausübung extremer Gewalt gegen als ,ungläubig‘ verunglimpfte Gegner und die als Salafismus bekannte ultra-fundamentalistische Auslegung des Islam.“
Die Daten und Ergebnisse der BBC/ICSR-Studie sind zwar eine Momentaufnahme eines Monatszeitraumes weltweiter dschihadistischer Aktivitäten, nach Meinung der Verantwortlichen zugleich aber doch auch mehr.
Dazu Direktor Peter Neumann: „Unsere Daten zeigen vor allem die beträchtlich hohe Zahl an Todesopfern, die der Dschihadismus fordert. In nur einem Monat wurden 5042 Menschen durch dschihadistische Terrorgruppen getötet.“ Die meisten der Opfer seien Zivilisten gewesen, die sich nicht an Kampfhandlungen beteiligt hätten. Die Mehrzahl von ihnen Menschen muslimischen Glaubens. Augenfällig sei auch, dass nur die wenigsten Opfer der Dschihadisten die gebührende Aufmerksamkeit der Medien erfahren. Neumann bedauerte: „Über kaum einen Anschlag, den wir in unserer Studie berücksichtigt haben, wurde in westlichen Medien berichtet.“
Das Datenmaterial verdeutliche außerdem, so der ICSR-Direktor weiter, dass Dschihadisten und al-Qaida nicht mehr ein und derselben Gruppe angehörten. „60 Prozent der Dschihadistenmorde wurden von Gruppierungen verübt, die offiziell keine Verbindung zu al-Qaida haben. Sie sind diejenigen, die um die Führung der Bewegung kämpfen. Als Gesamtbild ergibt sich eine immer ambitioniertere, komplexere, kompliziertere und sehr weitreichende Bewegung. Obwohl sich nur schwer Vergleiche ziehen lassen, so scheint es doch offensichtlich, dass die dschihadistische Bewegung – von der man noch vor gut vier Jahren dachte, sie stünde vor einem vollständigen Niedergang – stärker ist denn je. Sie zu bekämpfen wird eine Herausforderung über mehrere Generationen sein.“
Andrew Whitehead, Editor von BBC World Service News, erläuterte bei Erscheinen der Studie kurz auch die Beweggründe für dieses Projekt. „Wöchentlich, ja fast täglich machen dschihadistische Terrorakte im Irak, Syrien, Nigeria, Somalia, Afghanistan oder anderswo Schlagzeilen. Mit dieser Studie wollten wir mehr über die Auswirkungen dieser Gruppen herausfinden, die im Namen des Dschihad morden. Wo sind sie aktiv? Wie hoch ist die Zahl der Todesopfer? Wie finanzieren sie sich?“
Ziel des Projektes war nach Auskunft der BBC eine Schätzung des Ausmaßes und der geografischen Verbreitung von berichteten Todesfällen – verursacht durch dschihadistische Gruppen, Netzwerke und Einzelpersonen. Bei der Konzeptualisierung und Ausführung ihres Vorhabens machten die Forscher Gebrauch von den umfangreichen Ressourcen der britischen Rundfunkanstalt und ihren Erfahrungen mit Auslands- und Konfliktberichterstattung.
Unterstützt wurde das BBC/ICSR-Team von weiteren akademischen Experten aus den Bereichen „Konflikt- und Terrorstudien“ sowie „Dschihadismus“ und „Islamwissenschaft“. Fachleute, die mit der Zusammenstellung von Methoden zur Datenerfassung in Konfliktzonen vertraut sind, beteiligten sich ebenfalls an der Studie. Neben den Vorfällen, über die bereits in den Medien berichtet worden waren, nutzten die Herausgeber auch Daten folgender Quellen: Syrian Network for Human Rights (SNHR), Violations Documentation Centre (VDC), Iraq Body Count (IBC), Initiative „Armed Conflict Location & Event Data Project“ (ACLED) und Website „South Asia Terrorism Portal“.
Das unabhängige, überparteiliche Londoner Institut ICSR betreibt Forschung zu dem Themenkomplex „Radikalisierung und politische Gewalt“.
Am 18. November veröffentlichte auch ein anderes bekanntes Forschungsinstitut seinen neuesten Bericht über weltweite terroristische Aktivitäten. Der „Global Terrorism Index (GTI) 2014“ des im australischen Sydney beheimateten Institute for Economics and Peace (IEP) kommt dabei ebenfalls zu beunruhigenden Ergebnissen.
IEP zufolge wurden im Jahr 2013 weltweit 9814 terroristische Anschläge registriert. Im Vergleich zum Vorjahr 2012 (6825 Anschläge) bedeutet dies einen Anstieg um 44 Prozent. Die Zahl der Todesfälle durch terroristische Anschläge stieg nach Angaben des Friedensforschungsinstituts in einem einzigen Jahr um 61 Prozent – von 11.133 im Jahr 2012 auf 17.958 im Jahr 2013.
Mehr als 80 Prozent der Menschen, die im Jahr 2013 durch terroristische Akte ums Leben kamen, stammten aus Afghanistan, Pakistan, Syrien, dem Irak oder aus Nigeria. Der Irak war und ist dabei weiterhin das Land, das am meisten von Terrorismus betroffen ist. Dort gab es im Untersuchungszeitraum 2492 Anschläge, bei denen 6362 Menschen getötet wurden (im Vergleich zum Jahr 2012 bedeutet dies einen Anstieg um 164 Prozent). Die Terrormiliz „Islamischer Staat“ war für die meisten Todesopfer im Irak verantwortlich.
Auch außerhalb der bereits aufgelisteten fünf Länder ist der Terrorismus in Umfang und Intensität signifikant gestiegen. Im Jahr 2013 ereigneten sich in anderen Teilen der Welt 3721 Anschläge, bei denen 3236 Menschen starben (ein Anstieg um mehr als 50 Prozent im Vergleich zu 2012). Insgesamt beklagten im Vorjahr 60 Länder Todesopfer durch terroristische Anschläge.
Der Terrorismus wurde im Jahr 2013 von vier Organisationen dominiert: IS, al-Qaida, Boko Haram und den Taliban, die zusammen für 66 Prozent der Todesopfer verantwortlich waren. Der IEP-Bericht „Global Terrorism Index 2014“ schätzt die Zahl der IS-Kämpfer auf etwa 20.000 bis 31.000, die der Taliban zwischen 36.000 und 60.000, die Anhängerschaft al-Qaidas auf maximal 19.000 und die Boko Harams auf maximal 9000.
Nach Ansicht von IEP gibt es drei statistisch relevante Faktoren, die mit Terrorismus in Zusammenhang stehen: staatlich ausgeübte beziehungsweise geförderte Gewalt, Gruppenkonflikte und ein hohes Maß an Kriminalität. Interessanterweise stehen Armutsquoten, Schulbildung und die meisten ökonomischen Faktoren nicht mit Terrorismus in Verbindung.
Dazu Steve Killelea, Gründer und Geschäftsführender Vorstand des renommierten Instituts: „Terrorismus entsteht keinesfalls wie aus dem Nichts. Durch Identifikation all jener Faktoren, die mit Terrorismus in Zusammenhang stehen, können geeignete Abwehrstrategien entwickelt werden. Dadurch lassen sich die fatalen Rahmenbedingungen, die das Entstehen von Terrorismus begünstigen, neutralisieren.“
Die wichtigsten Maßnahmen, die konkret ergriffen werden könnten, seien die Reduzierung staatlich protegierter Gewalt (wie beispielsweise außergerichtliche Hinrichtungen), die Beilegung von Gruppenkonflikten und Gruppenfeindschaften sowie die Schaffung einer nachhaltigen, gemeinwesenorientierten Polizeiarbeit, erklärte Killelea weiter. Über den religiös motivierten Terrorismus äußerte er: „Während des letzten Jahrzehnts wurde der Anstieg des Terrorismus mit radikalen islamischen Gruppen, deren gewalttätige Theologien ausgiebig gelehrt wurden, in Verbindung gebracht. Um diesen Einflüssen entgegenzuwirken, müssen moderate Formen der sunnitischen Theologien durch moslemische, sunnitische Nationen gefördert werden. Aufgrund der theologischen Natur des Problems ist es für außenstehende Akteure schwer, hier Einfluss zu nehmen.“
Video-Hinweis: Dem aktuellen „Global Terrorism Index (GTI) 2014“ des Institute for Economics and Peace (IEP) zufolge wurden im Jahr 2013 weltweit fast 10.000 Terroranschläge registriert, 44 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Der neue GTI kann auf der „Vision of Humanity“-Website des Instituts (www.visionofhumanity.org) als pdf-Dokument geladen werden. Von dieser Website stammt auch das Video, das die aktuelle IEP-Studie vorstellt.
(Video: VisionofHumanityorg/Institute for Economics & Peace)
Zu unserem Bildangebot:
1. Autobombenanschlag am 17. Januar 2009 in der afghanischen Hauptstadt Kabul. Die Terroristen verwendeten neben einem mit Sprengstoff beladenen Auto auch ein Tankfahrzeug. Der Anschlag ereignete sich in der Nähe der Deutschen Botschaft und eines US-Militärpostens und kostete etliche Menschenleben, zahlreiche Personen wurden verletzt.
(Foto: Brenda Nipper/U.S. Air Force/ISAF)
2. Infografik über die globale Verbreitung der Ideologien von al-Qaida und der Terrormiliz „Islamischer Staat“. Die Darstellung zeigt die Unterstützung der jeweiligen Zentralführung durch diverse Milizgruppierungen in den einzelnen Ländern. Die Unterstützung kann dabei unterschiedlich stark ausgeprägt sein – von der engen Zusammenarbeit bis hin zum bloßen Treueschwur.
(Infografik © mediakompakt 12.14)
3. Opferstatistik der BBC/ICSR-Studie für den Monat November 2014. In diesen 30 Tagen kamen bei 664 dschihadistischen Angriffen in 14 Ländern insgesamt 5042 Menschen ums Leben. Die am schlimmsten betroffenen Länder waren Irak, Nigeria, Afghanistan und Syrien. Das Hintergrundbild entstand nach dem bereits unter Punkt 1 beschriebenen Anschlag in Kabul vom 17. Januar 2009.
(Foto: Brenda Nipper/U.S. Air Force/ISAF, Infografik © mediakompakt 12.14)
4. Für die November-Attacken waren 16 verschiedene dschihadistische Gruppierungen verantwortlich – allen voran die Terrormiliz „Islamischer Staat“, die Taliban und die somalische al-Shabaab. Das Hintergrundbild, aufgenommen am 22. Mai 2010, zeigt Talibankämpfer, die die Waffen niederlegen.
(Foto: Fraidoon Poa/UNAMA, Infografik © mediakompakt 12.14)
5. Infografik über die Entwicklung des weltweiten Terrorismus seit 2000. In diesen zurückliegenden 14 Jahren gab es mehr als 48.000 terroristische Attacken in allen Teilen der Erde, wobei mehr als 107.000 Menschen starben. Das Hintergrundbild zeigt (vermutlich) Kämpfer des IS.
(Infografik © mediakompakt 12.14)
6. Nach einem Anschlag der Terrorgruppe Boko Haram.
(Foto: Documentation Information Catholiques Internationales)
Unser Großbild auf der START-Seite zeigt eine Szene nach dem bereits unter Punkt 1 beschriebenen Anschlag in Kabul vom 17. Januar 2009.
(Foto: Brenda Nipper/U.S. Air Force/ISAF)