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Washington (USA)/Berlin. Man kann die Rede, die US-Präsident Barack Obama am Vorabend des 11. September 2014 gehalten hat, durchaus historisch nennen. Mit seinem Versprechen, die Terrorgruppierung „Islamischer Staat“ (IS) zu „schwächen und schließlich zu zerstören“, hat er – ohne den Begriff zu gebrauchen – einen Krieg erklärt. Einen Krieg gegen eine barbarische Miliz, der sehr lange dauern kann. Nach Informationen des US-Nachrichtensenders CNN soll der IS im Irak und in Syrien inzwischen etwa 20.000 bis 31.500 Kämpfer umfassen. Noch vor Kurzem wurde die Zahl der Terrormilizionäre auf etwa 10.000 geschätzt (CNN beruft sich auf einen Vertreter des US-Geheimdienstes CIA). Der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Niels Annen, sieht angesichts des Vormarsches der IS-Miliz die Gefahr terroristischer Anschläge in Deutschland wachsen. „Wir gehen davon aus, dass mehr als 300 Deutsche für IS kämpfen oder gekämpft haben“, so Annen in einem Gespräch mit der Wochenzeitung Das Parlament. Diese Extremisten würden ihre Erfahrungen und ihre Radikalisierung irgendwann wieder mit nach Deutschland bringen, warnt er.

Präsident Obama hatte in seiner Fernsehansprache an die Nation und die Welt am 10. September ausgeführt: „Wir werden Terroristen, die unser Land bedrohen, zur Strecke bringen, wo auch immer sie sind. Das bedeutet, ich werde nicht zögern, gegen (den ,Islamischen Staat‘) in Syrien ebenso vorzugehen wie im Irak.“

Nach der nun bereits seit langer Zeit vom Westen geforderten Bildung einer Regierung in Bagdad, die alle Volksgruppen vertritt, könne er – so Obama weiter – „verkünden, dass Amerika eine breite Koalition anführen wird, um diese terroristische Bedrohung zurückzudrängen“.

Luftschläge, Beratung, internationale Allianz und humanitäre Hilfe

Um den IS „zu schwächen und dann zu zerstören“ setzt der US-Präsident auf vier strategische Elemente. Erstens: Im Irak werden die USA eng mit der dortigen Regierung zusammenarbeiten, um eine langfristige Kampagne von Luftschlägen gegen IS durchzuführen. Dabei wird die technische Überlegenheit der US-Streitkräfte wohl auch zu gezielten Tötungen von IS-Führungskadern und Kämpfern genutzt werden. Zweitens: Parallel dazu werden die USA irakisches Militär und syrische Kämpfer der moderaten Assad-Opposition ausrüsten und trainieren, damit diese am Boden wirksam gegen den IS vorgehen können. US-Truppen sollen allerdings dabei nicht zur Aufklärung und Identifizierung von Zielen auf syrischem Gebiet eingesetzt werden. Drittens: Die USA werden eine internationale Allianz aus NATO-Verbündeten und Nachbarstaaten des Iraks schmieden, um die Anti-Terror-Bemühungen und auch die Kosten auf mehrere Schultern zu verteilen. Viertens: Die humanitäre Hilfe für die vom IS-Terror heimgesuchten Menschen im Irak und in Syrien wird fortgesetzt.

In den Irak schickt Obama weitere 475 Militärberater. Damit sind demnächst wieder rund 1500 amerikanische Soldaten in dem Land stationiert, die aber keinen Kampfauftrag haben. Die Kräfte schützen amerikanische Einrichtungen in Bagdad oder beraten schon jetzt irakische Einheiten.

Demokratische Kräfte in der Region nachhaltig stärken

Der SPD-Abgeordnete Niels Annen schließt eine deutsche Beteiligung an Luftschlägen der USA gegen die radikale Miliz „Islamischer Staat“ in Syrien und im Nordirak kategorisch aus. In einem am heutigen Montag (15. September) erscheinenden Interview mit der Wochenzeitung Das Parlament sagte er: „Unser Ziel sollte es sein, die demokratischen Kräfte in der Region in die Lage zu versetzen, diesen Kampf zu gewinnen.“

Wir veröffentlichen das Interview mit dem außenpolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion mit freundlicher Genehmigung der Berliner Redaktion.

Die deutsche Außenpolitik hat im Moment „alle Hände voll zu tun“

Herr Annen, US-Präsident Obama hat kürzlich gesagt: „Wenn man die Abendnachrichten sieht, fühlt es sich an, als falle die Welt auseinander.“ Geht es Ihnen ähnlich angesichts der Meldungen aus der Ukraine und dem Nahen Osten?
Niels Annen: Mir ist dieser Gedanke auch schon gekommen. Und dass etwas in der Welt aus den Fugen geraten ist, merke ich vor allem an den Reaktionen der Bürger. Im Bundestagswahlkampf vor einem Jahr ging es den meisten vor allem um Rentenpolitik, Mindestlöhne, Bildung. Das hat sich verändert. Zum ersten Mal werde ich mit Blick auf die Beziehungen zu Russland direkt gefragt: „Kehrt der Krieg nach Europa zurück?“

Und was antworten Sie?
Niels Annen: Ich bin nach wie vor optimistisch, dass wir einen Krieg in der Ukraine vermeiden können. Aber die deutsche Außenpolitik hat im Moment alle Hände voll zu tun, eine solche Option abzuwenden. Ohne Ängste schüren zu wollen – aber das ist eine dramatische Entwicklung. Die aktuellen Konflikte finden in unserer unmittelbaren Nachbarschaft statt. Sie bedrohen uns direkt.

Was macht den Ukrainekonflikt, aber auch den Vormarsch der radikalen Miliz „Islamischer Staat“ – kurz IS – in Syrien und dem Irak, so gefährlich für uns?
Niels Annen: In der Rhetorik von Russlands Präsident Wladimir Putin deutet einiges darauf hin, dass es sich bei der Annexion der Krim und der Auseinandersetzung um die Ostukraine nicht um einen Sonderfall handelt, sondern dass die einseitige Verschiebung von Grenzen zur Realität in Europa werden könnte. Wer das tut, spielt mit dem Feuer, wie wir aus unserer eigenen Geschichte wissen. Und IS will im Nahen Osten einen Terrorstaat erschaffen – und auf dem Weg zum Kalifat hat die Miliz große Geländegewinne erzielt. Wir gehen davon aus, dass mehr als 300 Deutsche für IS kämpfen oder gekämpft haben. Die bringen ihre Erfahrungen und ihre Radikalisierung irgendwann wieder mit nach Deutschland. Die Gefahr von Anschlägen steigt auch hierzulande.

Irakisch-Kurdistan „die einzig vernünftig regierte Region im Irak“

Deutschland hat nun Waffen an die kurdischen Peschmerga im Nordirak geliefert, um sie im Kampf gegen IS zu unterstützen. Lehrt nicht die Erfahrung, dass solche Waffen am Ende viel zu häufig in die falschen Hände geraten?
Niels Annen: Ja, wir sind in Sorge, dass die Waffen, die wir liefern, möglicherweise für einen zukünftigen Unabhängigkeitskrieg genutzt werden könnten. Aber auch Nichtstun hat Konsequenzen. Wir mussten sehr schnell eine schwierige Entscheidung treffen: Die IS-Truppen standen nur 40 Kilometer vor der Stadt Erbil. Wir mussten verhindern, dass die Miliz die kurdische Region überrennt. Dort sind ja auch eine halbe Million Flüchtlinge aus dem Irak und Syrien untergekommen, die im Rahmen der sehr begrenzten Möglichkeiten der irakisch-kurdischen Region versorgt werden.

Es wird berichtet, dass es nicht die Peschmerga, sondern Kämpfer der in Europa verbotenen Kurdenorganisation PKK waren, die die Jesiden vor dem Vorrücken der IS gerettet haben. Gehen die deutschen Waffen an die falsche Adresse?
Niels Annen: Nein. Irakisch-Kurdistan ist die einzige Region im Irak, die vernünftig regiert wird. Wenn sie zusammenbricht, dann wäre die IS-Miliz ihrem Ziel, die Nachkriegsordnung des Nahen Ostens zu zerstören, ein großes Stück nähergekommen. Richtig ist, dass die kurdische YPG, die im Grunde genommen ein Ableger der PKK ist, im Norden Syriens ebenfalls 100.000 Flüchtlinge versorgt. Das verdient unsere Unterstützung. Wir müssen in dieser Situation bereit sein, mit allen zu reden, auch mit YPG und PKK.

Auch mit Syriens Präsident Baschar al-Assad?
Niels Annen: IS konnte nur wegen der verbrecherischen Politik vom Assad überhaupt so erfolgreich werden. Ich kann mir deshalb nicht vorstellen, dass er eine Rolle spielen kann. Die einzige Rolle, die er spielen sollte, ist die vor einem Kriegsverbrechertribunal.

Entscheidung über Waffenlieferungen sollte Regierungsangelegenheit bleiben

Über die Waffenlieferungen hat der Bundestag in einer Sondersitzung debattiert und symbolisch abgestimmt. Jetzt werden Forderungen nach einer Ausweitung des Parlamentsvorbehalts laut. Sollte das Parlament in Zukunft zustimmen müssen, bevor Deutschland Ausstattungshilfe leistet?
Niels Annen: Es ist legitim, über eine Ausweitung des Parlamentsvorbehalts nachzudenken. An der Debatte beteilige ich mich auch gerne. Bisher gilt der Vorbehalt ja nur, wenn bewaffnete Streitkräfte in Auslandseinsätze entsendet werden sollen. Ich bin mir aber nicht sicher, ob ich wirklich über jede einzelne Waffenlieferung im Bundestag abstimmen möchte. Diese Entscheidungen sollten Sache der Regierung bleiben.

Die USA wollen IS jetzt mit Luftschlägen auch in Syrien bekämpfen. Wird sich Deutschland daran beteiligen? Einige Außenpolitiker der Union befürworten dies.
Niels Annen: Das ist ausgeschlossen. Unser Ziel sollte es sein, die demokratischen Kräfte in der Region in die Lage zu versetzen, diesen Kampf zu gewinnen. Dafür brauchen sie eine möglichst breite politische Unterstützung der internationalen Gemeinschaft. Meine Hoffnung ist, dass es einen neuen Anlauf der Vereinten Nationen für einen Waffenstillstand in Syrien gibt und die neue irakische Einheitsregierung unter Führung von Haider al-Abadi eine politische Stabilisierung des Landes in Gang setzen kann. Diesen Prozess wollen wir tatkräftig unterstützen.

Sie haben die vielen Flüchtlinge in der Region erwähnt. Die Bundesregierung betont immer wieder, dass deshalb nun vor allem humanitäre Hilfe geleistet werden muss. Wie ist dann zu erklären, dass die Mittel hierfür im kommenden Jahr um 38 Prozent gekürzt werden sollen?
Niels Annen: Das ist nicht zu erklären. Ich bin mir sicher, dass am Ende der Haushaltsberatungen ein signifikant höherer Betrag für humanitäre Hilfe bereitgestellt werden wird. Die Ressourcen der deutschen Außenpolitik müssen dauerhaft gestärkt werden.


Zu unserem Bildmaterial:
1. Aufmarsch von IS-Kämpfern – aus einem Propagandavideo der Terrororganisation.
(Foto: amk)

2. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Niels Annen am 18. Dezember 2013 bei einer Rede im Parlament.
(Foto: Achim Melde/Lichtblick/Deutscher Bundestag)

3. CNN-Eilmeldung am 13. September 2014 über die Ermordung des britischen Entwicklungshelfers David Haines durch IS. Die Terroristen hatten an diesem Samstag ein Video mit der Enthauptung ihrer Geisel ins Internet gestellt.
(Bild: Screenshot des CNN-Beitrages)

4. US-Präsident Barack Obama, Vizepräsident Joe Biden und der Beraterstab am 10. September 2014 im Krisen- und Lagezentrum des Weißen Hauses. Am Abend wird der Präsident sein Fernsehstatement zu IS abgeben.
(Foto: Pete Souza/White House)


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