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Darmstadt. Um es vorwegzunehmen: Christina Hellmichs Arbeit „al-Qaida“ liefert keine endgültigen Antworten auf Fragen wie „Wer oder was verbirgt sich hinter dem Terrornetzwerk Osama Bin Ladens?“ „Handelt es sich bei al-Qaida um eine straff strukturierte Organisation?“ „Geht es um eine globale Verflechtung von Radikalisierten?“ „Oder haben wir es mit unabhängigen Zellen zu tun, eine Art „Franchise-Terrorismus?“ Das Buch der Dozentin für Internationale Beziehungen, die an der University of Reading in England lehrt, endet mit einem Eingeständnis. Was genau al-Qaida ist, vermag auch die Expertin für Politik des Nahen Ostens nicht zu sagen. Ihr Ansatz war und ist ein anderer. Sie versucht sich der „Wahrheit über al-Qaida“ zu nähern, indem sie die relativ junge Terrorismusforschung und die gängige, offizielle Terrorismusdebatte kritisch analysiert.

Nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 ist „al-Qaida“ zu einem Synonym für den Terrorismus schlechthin geworden, das alle nationalen und internationalen Bemühungen um Sicherheit antreibt. Doch das Wissen über die Gruppierung um Bin Laden und nun seine Nachfolgeschaft ist vage, ja diffus.

Christina Hellmich stellte bei ihren Untersuchungen über al-Qaida, der ersten globalen Terrorgruppe des 21. Jahrhunderts, schon früh fest, dass es in der Terrorismusforschung ab den 1980er-Jahren bis zu den Anschlägen des 11. September kaum nennenswerte Beiträge innerhalb der Sozialwissenschaften gibt.

Der Politikwissenschaftler Ted Robert Gurr (Autor des Buches „Why Men Rebel“, das 1970 von der Woodrow Wilson Foundation als beste US-amerikanische Arbeit über die Regierung, die Politik und die internationalen Beziehungen ausgezeichnet worden war) beklagte bereits 1988: „Das Gros der Literatur [zum Thema Terrorismus] besteht aus naiver Beschreibung, spekulativem Kommentar und Rezepten für den Umgang mit Terrorismus, die noch nicht einmal minimalen Forschungsstandards in den etablierten Feldern der Konflikt- und Politikforschung entsprechen.“

Von Pseudo-Wissenschaftlern und ausgemachten Betrügern

Hellmich selber, deren berufliche Schwerpunkte auf dem Politischen Islam und der Internationalen Sicherheit liegen, bedauert die Entwicklung in der Terrorismusforschung besonders nach den Anschlägen in den USA. Sie schreibt: „Da es – anders als bei wissenschaftlichen Beiträgen normalerweise üblich – keinerlei Qualitätskontrolle gab, hat die Suche nach Antworten Pseudo-Wissenschaftlern und bisweilen ausgemachten Betrügern, die sich als Experten ausgeben, einen idealen Nährboden bereitet. Viele behaupten, sie hätten bevorzugten Zugang zu Informationen, oft aus vermeintlich ,geheimen‘ Quellen; bei näherer Untersuchung erweisen sich diese dann allerdings als nicht-verifizierbar, nicht zuverlässig oder nicht existent.“

Die Autorin entlarvt nicht nur etliche dieser selbsternannten Terrorismus-Gurus und offensichtlichen Scharlatane in der Zunft, sie interessiert sich auch generell für die Motive der Analysten, die zum bizarren Bild über „al-Qaida“ beigetragen haben. Mit diesem Ansatz gelingt ihr eine Art „Rekalibrierung in einer Zeit, die dazu neigt, komplexe Themen zu simplifizieren“, so der Historiker Axel Gablik treffend in seiner Buchrezension im Portal für Politikwissenschaften.

Inhaltliche Auseinandersetzung und kritische Analyse

Christina Hellmich bleibt danach in allen folgenden Kapiteln ihrer Linie treu. Sie handelt diametral zu der bereits einmal von James Der Derian, dem US-amerikanischen Medienexperten, beschriebenen und verurteilten Welt: „Um offiziellen Zugang zur Terrorismusdebatte zu erhalten, muss man kritische Waffen an der Tür abgeben und sich dem Chor der Verdammung anschließen.“ Kritische Waffen gibt Hellmich an der Tür keinesfalls ab. Auf den Seiten 20 und 21 ihres Buches erklärt und begründet die Wissenschaftlerin vielmehr, was sie mit ihrer vorliegenden Arbeit zu erreichen sucht.

Dort heißt es: „Es ist nicht meine Intention, Terrorismus oder die Anwendung von Gewalt zur Lösung von ansonsten legitimen Konflikten gutzuheißen. Mein Ziel ist vielmehr, eine andere Sicht aufzuzeigen, die über die instinktive Verurteilung von Terrorakten hinausgeht.“ Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Ideen von Osama Bin Laden, die al-Qaidas globalem Dschihad zugrunde liegen – eine kritische Analyse von Ursachen und Folgen – setze voraus, dass man zumindest vorübergehend sein Urteil über die Legitimität einer Form von Gewalt gegenüber einer anderen aussetze, glaubt Hellmich. Und schließlich: „Nur dann ist es möglich, die Rolle des historischen Gefühls des Leidens und die Opferrolle der umma [Gemeinschaft aller Muslime] zu beurteilen, die für die Logik des globalen Dschihad eine zentrale Rolle spielt; und nur auf dieser Grundlage ist es möglich, al-Qaidas Rechtfertigung ihrer Taten zu untersuchen.“

Vor dem Hintergrund dieser methodologischen Überlegungen untersucht die Arbeit der Nahost-Kennerin Charakter und Anziehungskraft von al-Qaida. Anstatt jedoch nur eine weitere Perspektive aufzuzeigen, liegt das Augenmerk von Hellmich auf den Diskrepanzen zwischen den häufigsten Erklärungen und den Grenzen dessen, was man realistisch wissen kann. Dies beinhaltet auch eine kritische Herangehensweise an das Material, das von oder im Namen von al-Qaida veröffentlich wurde und wird.

Das Publikum stets in Angst und Schrecken versetzen

Das Phänomen „al-Qaida“, dessen Stärke nach Hellmich in der Fähigkeit liegt, das „Publikum zu manipulieren, es in Angst und Schrecken zu versetzen und Reaktionen zu provozieren“, dieses Phänomen ist nach Ansicht der Autorin eines sicherlich nicht. Es ist weder ein vages, zerfasertes Netzwerk von gleich gesinnten Einzelnen, die lediglich durch ihre Ideologie miteinander verbunden sind. Noch ist es eine strukturierte, geografisch eingrenzbare Organisation mit einer definierten Kern-Führung.

Wie ihre Analyse von al-Qaida in den einzelnen Buchkapiteln zeigt, trifft die Vorstellung einer weltweit vernetzten Teroristenbewegung mit hartem Kern, mit einem „Zentrum des Bösen“, keinesfalls zu. Hellmich, desillusionierend: „Die real existierende al-Qaida entzog und entzieht sich allen Versuchen, sie klar und eindeutig zu bestimmen – sie verläuft sich im Schatten, wenn sie zu intensiv verfolgt wird, nur um dann in Form eines erneuten Anschlags, eines Fusions-Videos oder einer Ankündigung im Internet wieder aufzutauchen.“

Ein weiterer Aspekt, der ihr große Sorge bereitet, ist folgender: „Die Reaktion auf al-Qaida in Form eines uneingeschränkten Krieges ist auch insofern kontraproduktiv, da sie das Bild der USA und ihrer Verbündeten als repressive Besatzungsmacht, die Leid über Muslime bringt und mit der islamische Welt auf Kriegsfuß steht, nur noch verstärkt.“ Ein erheblicher Teil des Krieges gegen al-Qaida sei ein Kampf der Ideen, der militärisch nicht gewonnen werden könne, warnt die Dozentin der University of Reading. Aber was dann?

Die blutige Realität der sektiererischen Gewalt

Es scheint, als ob die friedlichen und die blutigen Umbrüche im Nahen Osten die Dschihadisten immer weiter in den Hintergrund oder sogar ins Abseits gedrängt haben.

Christina Hellmich zitiert dazu unter anderem Alia Brahimi, derzeit Gastwissenschaftlerin an der Universität in Oxford (England). Die Nahost-Politologin prophezeite bereits 2010 mit Blick auf die zunehmende Uneinigkeit unter den Muslimen (die inzwischen – wieder einmal – in hasserfüllten Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten gipfelt): „Mit dem Aufstieg der al-Qaida-Filialen in verschiedenen Ländern und ersten Erfahrungen mit der äußerst blutigen Realität sektiererischer Gewalt werden Bin Ladens Autorität und sein Ziel der Wiederherstellung und Ausweitung der umma durch lokale Ziele und zunehmend gewalttätige Mittel infrage gestellt.“ Bin Laden wurde am 2. Mai 2011 von einem Spezialkommando des US-Militärs im pakistanischen Abbottabad getötet. Im Irak tobt mittlerweile eine grausame Auseinandersetzung zwischen Anhängern der beiden größten Glaubensrichtungen des Islam. Der Schrecken hat dort in der Region mit den Verbrechen der sunnitischen ISIS-Terrormilizen (ISIS steht für „Islamischer Staat im Irak und in Syrien“) eine neue Dimension erreicht.



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