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Berlin/Kabul (Afghanistan). Rund 1500 afghanische Ortskräfte haben seit Beginn des ISAF-Einsatzes im Jahr 2001 für die Bundeswehr gearbeitet. Meist als Übersetzer, Fahrer oder Wachpersonal. Viele von ihnen fürchten sich nun vor dem Abzug der NATO-Kampftruppen und der Rache der radikalen Taliban. Bislang stellten 766 dieser Helfer aufgrund ihrer Gefährdung einen Antrag auf Aufnahme in Deutschland. 300 erhielten bereits eine Aufnahmezusage. 476 Anträge afghanischer Mitarbeiter auf Einreise nach Deutschland wurden bis jetzt abgelehnt (Stand 16. April 2014). Auch andere Nationen, die sich an der NATO-geführten Mission am Hindukusch beteiligen, tun sich schwer mit den Asylgesuchen ihrer lokalen Unterstützer. In Afghanistan unentbehrlich, im Ausland unerwünscht – lesen Sie heute den zweiten Teil unseres Beitrages über die Ortskräfte der ISAF-Truppen …

Zu Beginn des vergangenen Jahres erhielt das Thema „Asyl für gefährdete afghanische Bundeswehr-Helfer“ eine außenpolitische Dimension. Im Januar 2013 kritisierte die Regierung Karsai erste Überlegungen der NATO-Nationen, möglicherweise Ausreiseprogramme für lokale Mitarbeiter ihrer in Afghanistan eingesetzten Truppen aufzulegen.

Auch die Bundesregierung erhielt eine Verbalnote aus Kabul, in der vorsorglich gegen mögliche Asylangebote für gefährdete Ortskräfte nach Abzug der NATO protestiert wurde. Solche Pläne würden „die Moral des afghanischen Volkes schwächen“ und „Angst und Unruhe innerhalb der afghanischen Bevölkerung“ schüren. So zitierten das Nachrichtenmagazin Der Spiegel und andere Medien aus den diplomatischen Schreiben.

Nachweislich eine konkrete Gefahr für Leib oder Leben

Die Bundesregierung nahm den Protest zur Kenntnis, richtete aber gleichzeitig eine Arbeitsgruppe unter Führung des Bundesinnenministeriums ein. Der Spiegel berichtete über die Arbeit der Behördenmitarbeiter im April 2013 folgendermaßen: „Zwar sei man sich ,der besonderen Verantwortung für die afghanischen Ortskräfte bewusst‘, so die Linie. Eine Ausreise komme allerdings nur ,in Betracht‘, wenn ,nachweislich eine konkrete Gefahr für Leib oder Leben besteht, die sich erheblich vom allgemeinen Gefährdungspotenzial in Afghanistan abhebt‘. Die afghanischen Helfer sollten sich mit Belegen an ihre Dienststelle in Afghanistan wenden, wenn sie sich gefährdet fühlten.“

Zu diesem Zeitpunkt trat die gute Absicht Deutschlands, ehemalige und aktuelle Bundeswehr-Helfer aus Afghanistan zu schützen und ihnen Asyl zu gewähren, noch schwer auf der Stelle. Thomas Kossendey, damals zuständiger Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Verteidigung, informierte im Verteidigungsausschuss über 23 Asylanträge von afghanischen Bundeswehr-Mitarbeitern. Keiner der Fälle war bis dahin positiv beschieden worden.

Bei der Einzelfallprüfung die Hürden nicht unnötig hochlegen

Bewegung kam in die Sache im Mai 2013. Ungeachtet der Verbalnote der Karsai-Regierung ließ die Bundesregierung im Frühjahr in den Camps der Bundeswehr in Afghanistan Flugblätter verteilen. Darin wurde den afghanischen Unterstützungskräften eine grundsätzliche Ausreise nach Deutschland in Aussicht gestellt. Das auf Deutsch und in der Landessprache Dari gehaltene Flugblatt versprach: „Sollte sich zeigen, dass Sie einer konkreten Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt sind, die auch durch einen Umzug nicht auflösbar erscheint, ist auch eine Aufnahme in Deutschland möglich.“

Richtungweisende Statements gaben im Mai auch die damals verantwortlichen Minister ab. Thomas de Maizière, zu dieser Zeit Verteidigungsminister, über die afghanischen Ortskräfte: „Wenn sie wirklich gefährdet sind, weil sie mit uns zusammengearbeitet haben, helfen wir ihnen. Für die Ortskräfte empfinde ich Verantwortung.“ Allerdings, so schränkte de Maizière ein, sollten diese Ortskräfte nach Möglichkeit vordringlich in Afghanistan bleiben. „Da haben sie eine wichtige Brückenfunktion in der Zukunft.“ Über jeden Einzelfall müsse vor Ort entschieden werden, nicht in Berlin.

Der damalige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich äußerte sich zum gleichen Zeitpunkt in einem Interview mit dem Deutschlandfunk. Er versprach: „Wir lassen niemand im Stich. Die Menschen, die uns geholfen haben und die jetzt deswegen gefährdet sind, kommen selbstverständlich nach Deutschland.“ Zur Einzelfallprüfung versicherte Friedrich, man werde die Hürden nicht unnötig hochlegen. Keiner müsse sich hier Sorgen machen.

Individueller Nachweis der persönlichen Gefährdung nur schwer zu erbringen

Zwei Monate später sah die Praxis jedoch anders aus, ragten die Hürden hoch. In ihrem am 9. Juli 2013 an Bundeskanzlerin Angela Merkel versandten offenen Brief beklagten beispielsweise die Berufsverbände der Dolmetscher die Einzelfallprüfungen durch die interministerielle Arbeitsgruppe, die bis dahin alle Asylanträge abgelehnt hatte.

Linda Fitchett, Präsidentin des Internationalen Verbandes der Konferenzdolmetscher (AIIC), appellierte an den gesunden Menschenverstand: „Die bisherige Praxis verlangt von jedem Dolmetscher einen individuellen Nachweis der persönlichen Gefährdungslage, zum Beispiel eine schriftliche Morddrohung. Dabei liegt es auf der Hand, dass dieser Nachweis nur in Ausnahmefällen zu führen ist.“ André Lindemann, Präsident des Bundesverbandes der Dolmetscher und Übersetzer (BDÜ), fügt hinzu: „Die Arbeit der Dolmetscher in Afghanistan ist gefährlich. Sie arbeiten unter Einsatz ihres Lebens. Doch nur mit der sprachlichen Unterstützung durch die Dolmetscher können die deutschen Streitkräfte in Afghanistan ihrem Arbeitsauftrag umfassend gerecht werden. Daher ist die wichtige Leistung dieser Ortskräfte unbestritten. Aber genau durch diese Arbeit entsteht für sie jetzt eine besondere Bedrohungssituation. Deshalb trägt Deutschland auch eine besondere Pflicht, nach dem Abzug der Truppen, diesen Menschen hier ein Leben in Sicherheit zu ermöglichen.“

Mittlerweile hat die Bundesregierung ihre frühere restriktive Haltung aufgegeben und bereits 300 afghanischen Mitarbeitern der Bundeswehr eine Aufnahme in Deutschland zugesagt (erster Teil unseres Beitrages). Allerdings sind bis jetzt auch 476 Einreiseanträge abgelehnt worden.

Die britische Lösung gilt als „unangemessen restriktiv“

Und wie gehen andere Nationen, die Truppen am Hindukusch stationiert haben, mit ihren afghanischen Ortskräften um? Während Deutschland die Einzelfallprüfung präferiert, haben manche Staaten – beispielsweise Kanada, Neuseeland, die USA oder europäische Truppensteller wie Dänemark oder Großbritannien – Aufnahmeprogramme aufgelegt. Manche Länder wie Spanien oder Schweden tun sich weiterhin schwer mit konkreten humanitären Lösungen.

Die britische Regierung versprach nach anfänglicher Ablehnung im Herbst vergangenen Jahres, dass 600 afghanische Dolmetscher am Ende des Militäreinsatzes nach Großbritannien kommen können. Sie sollen hier fünf Jahre weiterbezahlt werden, wenn sie eine Ausbildung beginnen oder studieren. Allerdings kritisiert die unabhängige Menschenrechtsorganisation Pro Asyl nach wie vor Details der britischen Lösung als „unangemessen restriktiv“. So enthalte die Regelung einen Stichtag und beziehe sich auf Personen, die am 19. Dezember 2012 angestellt waren, mindestens ein Jahr für die britische Armee gearbeitet haben und im Fronteinsatz standen. Pro Asyl warnt: „Wie im deutschen Ortskräftekontingent wird es auch unter den für die britische Armee tätigen Kräften Menschen geben, deren Arbeitsverhältnis zu dem genannten Stichtag längst beendet war, die aber dennoch bedroht sind.“

Geheimdienste müssen jeden Terrorverdacht ausräumen

Die Vereinigten Staaten haben bereits 2009 mit dem „Afghan Allies Protection Act“ eine Sonderregelung für afghanische Mitarbeiter ihrer Behörden geschaffen. Das Programm gilt für alle Afghanen, die am Hindukusch für die US-Regierung gearbeitet haben. Knapp 9000 Visa sind dabei zu vergeben (jeweils 1500 für die Haushaltsjahre 2009 bis 2013 plus weitere 3000 für das Haushaltsjahr 2014).

Das hört sich gut an, ist in der Praxis aber ein enervierender Prozess – nachzulesen in einem Beitrag der Deutschen Welle vom 10. Dezember 2013. In ihrem Bericht „USA lassen afghanische Übersetzer im Stich“ schildert Antje Passenheim das Prozedere: „Komplizierte Internetformulare, ärztliche Untersuchungen, Lügendetektoren. Die Hürden für die Flüchtlinge nehmen kein Ende. Sie müssen belegen, dass sie dem US-Militär mindestens ein Jahr treu gedient haben. Sie müssen beweisen, dass sie bedroht werden. Und die Geheimdienste müssen jeden Terrorverdacht ausräumen.“ Dies sei das größte Problem, zitiert die Autorin einen ihrer Interviewpartner in den USA: „Keiner im Außenministerium oder Geheimdienst will derjenige sein, der den nächsten Bin Laden zu uns reinlässt.“ Bis zum Jahresende erhielten gerade einmal 1200 Afghanen tatsächlich ein Visum für die Vereinigten Staaten.

Erst nach massivem Druck der Öffentlichkeit

Guten Willen zeigt auch Kanada, das ebenfalls ein Programm für Hunderte Afghanen aufgelegt hat. Australien meldete im März 2013, dass im Land Platz für 800 afghanische Ortskräfte mit Familienangehörigen sei.

Kleinere Flüchtlingskontingente wurden inzwischen von Neuseeland (46), Dänemark (80) oder Norwegen (21) aufgenommen. Dabei handelt es zumeist um ehemalige Übersetzer der jeweiligen ISAF-Truppen mit engsten Familienangehörigen. Spanien garantierte erst im März dieses Jahres nach langer Verzögerungstaktik und auf Druck der Öffentlichkeit zwölf afghanischen Dolmetschern Asyl, weitere frühere afghanische Mitarbeiter des spanischen Militärs hoffen auf zusätzliche Zusagen Madrids.

Öffentlicher Druck war auch nötig, um Schwedens Regierung zu einem Umdenken zu bewegen: Lehnten die schwedischen Streitkräfte in Afghanistan es vor einigen Monaten noch kategorisch ab, sich um ihre ehemaligen Übersetzer zu kümmern, so dürfen jetzt die ersten bedrohten Ortskräfte mit Familienangehörigen in das skandinavische Land einreisen. Genaue Zahlen dieser Asylbewerber nannten das Militär und die Einwanderungsbehörden Schwedens allerdings nicht.

Die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft

Zum Schluss ein Schwenk in die Welt des Films: Als einer von vier deutschen Beiträgen im Wettbewerb der diesjährigen Berlinale lief mit „Zwischen Welten“ eine Arbeit, der man sich als Zuschauer nur schwer entziehen kann. Das Werk der Österreicherin Feo Aladag ist der erste Kinofilm, der sich intensiv mit dem Bundeswehreinsatz in Afghanistan beschäftigt. Gedreht wurde er im nordafghanischen Mazar-e Sharif.

Wer unter anderem mehr über die tägliche Arbeit der afghanischen Ortskräfte erfahren will, sollte sich einen Kinobesuch gönnen. „Zwischen Welten“, in den Lichtspielhäusern am 27. März angelaufen, erzählt die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft. Der Freundschaft zwischen einem deutschen Soldaten und seinem afghanischen Dolmetscher. Gefangen – zwischen Welten: Auch Dolmetscher Tarik fürchtet in Aladags Film zunehmend um sein Leben, weil viele seiner Nachbarn ihn für einen Verräter und Kollaborateur des Feindes halten und ihn offen bedrohen. Die deutschen Behörden verwehren ihm und seiner studierenden Schwester jedoch ein Visum, weil sie die beiden für „nicht gefährdet genug“ halten.

Thomas Wiegold brachte es vor Kurzem in seinem sicherheitspolitischen Blog „Augen geradeaus!“ auf den Punkt, als er schrieb: „Vielleicht hätte so ein Film schon vor zwei oder drei Jahren kommen müssen. Dass er jetzt kommt, hat aber auch einen Vorteil: vielleicht noch genau passend zur Diskussion darüber, wie Deutschland mit den Menschen umgeht, die als sogenannte Ortskräfte beim Einsatz am Hindukusch geholfen haben.“



Zu unserem Bildangebot:
1. Nahe des US-Außenpostens „Lane“ in der südafghanischen Provinz Zabul – ein Leutnant der U.S. Army und ein Dolmetscher beobachten das Gelände und sammeln Informationen für die folgenden Aufklärungsaktivitäten der Truppe. Die Aufnahme entstand im Februar 2009.
(Foto: Adam Mancini/U.S. Army)

2. Ein afghanischer Dolmetscher der US-Streitkräfte spricht mit einem Einheimischen. Das Bild wurde im Juni 2007 in der ostafghanischen Nuristan-Provinz nahe des Außenpostens „Kalagush“ aufgenommen. Das eingeblendete Deckblatt gehört zu einer Informationsschrift über das Regierungsprogramm „Special Immigrant Visa (SIV)“ für afghanische Ortskräfte der US-Truppen in Afghanistan.
(Foto: Isaac A. Graham/U.S. Army)

3. Ein Offizier der U.S. Army und sein Übersetzer unterhalten sich während einer Patrouille mit einem Afghanen. Die Aufnahme vom Juli 2011 entstand in der Provinz Zabul nahe des Arghandab-Flusses.
(Foto: Grovert Fuentes-Contreras/U.S. Air Force)


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