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Berlin. Weniger Versetzungen, dafür Teilzeit, Arbeitszeitkonten und Tagesmütter in den Kasernen: Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen will die Bundeswehr zu einem familienfreundlichen Unternehmen umbauen. Dabei kommt ihr eine Studie zur Dienstzeit der Soldaten ungemein gelegen. Der Untersuchung der KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft (kurz KPMG-Studie) zufolge leisten Bundeswehrsoldaten im Schnitt zwischen Montag und Sonntag 48,2 Stunden Dienst und damit durchschnittlich 4,3 Überstunden pro Woche. Im Heer werden fast viermal so viele Überstunden pro Woche geleistet, wie in anderen militärischen Organisationsbereichen. Mannschaften weisen die höchste zeitliche Gesamtbelastung aller Dienstgrade auf.

Die Studie, die nach Informationen der Bild-Zeitung bereits seit Juni vergangenen Jahres vorliegt, ist erst jetzt unter de Maizières Nachfolgerin publik worden. Von der Leyen hat die Arbeit auch sofort an den neuen Verteidigungsausschuss weitergeleitet und im Onlineangebot ihres Ministeriums zum Download einstellen lassen. Klaus-Peters Bartels, Vorsitzender des Verteidigungsausschusses, äußerte sich gegenüber dem Nachrichtenmagazin Focus: „Wenn die Studie schon im Juni vergangenen Jahres fertig war, hätten wir sie gerne im Ausschuss früher gesehen. Das sind Punkte, über die wir schon oft politisch diskutiert haben – übrigens auch in den Koalitionsverhandlungen. Dazu ist zusätzliches Material immer hilfreich.“

Datengrundlage, rechtliche Stellungnahme und Modellentwicklung

Die umfangreiche Erhebung zur zeitlichen Belastung und Mehrbelastung der Bundeswehrangehörigen wurde an 180 Dienststellen durchgeführt. Es beteiligten sich rund 60.000 Soldaten. Über einen dreimonatigen Befragungszeitraum (März bis Mai 2012) wurden unterschiedliche Einheiten und Verbände sowie zentrale Einheiten aller militärischen Organisationsbereiche – Heer, Luftwaffe, Marine, Streitkräftebasis und Sanitätsdienst – und unterschiedliche Auftragssituationen abgedeckt. Darüber hinaus wurde die Erhebung ergänzt durch zahlreiche Interviews, durch Besuche an militärischen Standorten (und eines Einsatzkontingents) und durch Workshops mit ausgewählten Experten. Insgesamt war die Studie mit einer Laufzeit von März 2012 bis Mai 2013 langfristig angelegt.

Die „Studie zur Entwicklung von attraktiven und konkurrenzfähigen Dienstzeit- und Dienstzeitausgleichsmodellen für Soldatinnen und Soldaten“ war vom Verteidigungsministerium, Abteilung „Führung Streitkräfte“ (Referat FüS K II 1) an die KPMG AG Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft in Auftrag gegeben worden, um – so der Auftraggeber – die „Attraktivität des Dienstes und die Vereinbarkeit von Familie und Dienst weiter zu verbessern“.

Die KPMG-Studie verfolgt drei Ziele. Erstens: die Erarbeitung einer wissenschaftlich fundierten Datengrundlage über die zeitliche Belastung und Mehrbelastung der Soldaten im Inland sowie in Einsatzverwendungen im Ausland. Zweitens: eine rechtliche Stellungnahme zur Anwendbarkeit der EU-Arbeitszeitrichtlinie auf Soldaten. Drittens: die Entwicklung von praktikablen und rechtlich zulässigen Dienstzeit- und Dienstzeitausgleichsmodellen zur Steigerung der Attraktivität des Dienstes.

Verlässliche Karriereplanung und flexiblere Arbeitszeiten

Ursula von der Leyen hatte vor Kurzem in einem Interview mit der Bild am Sonntag („Flexibler arbeiten, verlässlicher planen“, 12. Januar 2014) einige äußerst bemerkenswerte Vorschläge zum Thema „Vereinbarkeit von Dienst und Familie“ formuliert. Ihr Ziel sei es, so die Ministerin, die Bundeswehr zu einem der attraktivsten Arbeitgeber in Deutschland zu machen. Die Soldaten benötigten künftig eine verlässlichere Karriereplanung. Sie müssten wissen, was mit ihnen in drei oder fünf Jahren sei, um auch zu Hause planen zu können. Von der Leyen in der Sonntagszeitung wörtlich: „Ich wünsche mir innerhalb der besonderen Anforderungen, die der Soldatenberuf mit sich bringt, mehr Flexibilität bei den Arbeitszeiten. Und für Zeitsoldaten muss die Tätigkeit in der Bundeswehr zu einem Sprungbrett in die Wirtschaft werden. Diese drei Themen werde ich konsequent angehen.“

Nach den Vorstellungen der Ministerin sollen Soldaten in Zukunft beispielsweise Teilzeit und Elternzeit nutzen können. „Wer etwa in der Familienphase die Option einer Drei- oder Viertagewoche nutzt, muss weiter Karriereperspektiven haben“, erklärte von der Leyen im Interview. Vorstellen könne sie sich auch die Einführung von „Lebensarbeitszeitkonten, auf die Überstunden eingezahlt werden und von denen Freizeiten abgehoben werden können – sei es für die Betreuung von kleinen Kindern oder alter Eltern“. Denn, so fragte sie weiter: „Wie wollen wir im Wettbewerb um die besten Köpfe mit den zivilen Arbeitgebern bestehen, wenn Teilzeit und Elternzeit nicht selbstverständlich in der Bundeswehr werden?“

Politik der Bundesregierung auch für die Menschen in der Truppe

Als erste konkrete Maßnahme plant von der Leyen nun den Ausbau der Kinderbetreuung in den Kasernen. Der Bild am Sonntag sagte sie dazu: „Wir brauchen ein flexibles System der Kinderbetreuung rund um die Bundeswehr. Wir haben eigene Kitas in Kasernen und Belegplätze in Kindergärten. Aber wir sollten gerade für die Betreuung in Randzeiten sehr viel stärker mit Tagesmüttern arbeiten. Denn das ist eine besonders flexible Form der Kinderbetreuung und wir haben den großen Vorteil, dass es in vielen Kasernen den Platz dafür gibt.“

Auch die gängige Praxis der häufigen Versetzungen der Soldaten will von der Leyen bald ändern. Karriere bei der Bundeswehr dürfe im Regelfall nicht bedeuten: „immer im Dienst und alle paar Jahre ein Umzug“. Da mittlerweile die Lebenspartner der Soldatinnen und Soldaten häufig selbst berufstätig seien, verursachten Versetzungen große Spannungen innerhalb der Familien. Die Ministerin versprach: „Ich werde mir das System der nahezu automatischen Versetzungen alle zwei bis drei Jahre genau ansehen.“

„Vieles ist gut – aber viel ist auch noch zu tun“

Ihre stringente Linie zur Steigerung der Dienstattraktivität und zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Dienst erläuterte die Verteidigungsministerin auch am 29. Januar im Deutschen Bundestag. Dort griff sie die Regierungserklärung von Kanzlerin Angela Merkel auf, die versichert hatte, die Bundesregierung mache Politik für die Menschen. Für ihr Ressort erklärte von der Leyen: „Das wollen wir durchdeklinieren bis tief in die Bundeswehr und ihren Alltag hinein.“

Das zentrale Ziel der Neuausrichtung sei die dauerhafte Einsatzfähigkeit, sagte die Ministerin im Parlament weiter. Aber Attraktivität, Modernität und Verankerung in der Gesellschaft seien ebenfalls zentrale Faktoren dieser dauerhaften Einsatzfähigkeit. Sie seien kein Widerspruch, sondern ergänzten sich. Ursula von der Leyen schloss: „Ich bin der festen Überzeugung: Eine familienfreundliche Bundeswehr wird nicht schwächer, sie wird stärker. Die Diskussion über das ,Wie‘ wird noch lange andauern. Vieles ist gut; aber viel ist auch noch zu tun.“

Klare Erwartungshaltung der Bundeswehrangehörigen

Die mittlerweile viel zitierte „KPMG-Studie“ ist seit dem 15. Januar dieses Jahres öffentlich zugänglich. Was sind die wesentlichen Ergebnisse der Analyse?

Die befragten Soldaten leisten im Durchschnitt über alle militärischen Organisationsbereiche hinweg zwischen Montag und Sonntag 48,2 Stunden Dienst. Dieser Dienst enthält eine durchschnittliche zeitliche Mehrbelastung (Überstunden) von 4,3 Stunden pro Woche. Im Heer fallen fast viermal so viele Überstunden pro Woche an wie bei der Luftwaffe, Marine Streitkräftebasis oder beim Sanitätsdienst. Auch beim Gesamtvolumen aller Überstunden ist das Heer mit einem Anteil von 54 Prozent überdurchschnittlich vertreten. Mannschaftsdienstgrade weisen – über alle militärischen Organisationsbereiche hinweg – die höchste zeitliche Gesamtbelastung auf. Im Vergleich der Dienststellen ohne und mit automatischer Zeiterfassung wird deutlich, dass das durchschnittliche Überstundenaufkommen in Dienststellen ohne um etwa 60 Prozent höher als in Dienststellen mit Zeiterfassung ist.

Die Datenerhebung, Analysen, Interviews, Workshops sowie Besuche der Studienforscher an militärischen Standorten, bei Übungen oder im Einsatz haben letztendlich ein deutliches Lagebild des „Bundeswehr-Innenlebens“ ergeben. Dazu die Experten von KPMG: „Die zeitliche Belastung und die Ausgestaltung der Ausgleichsmöglichkeiten für zeitliche Mehrbelastungen ist ein wesentliches Kriterium für die Attraktivität des Dienstes und stellen damit auch einen kritischen Erfolgsfaktor für die Sicherung der personellen Einsatzbereitschaft der Bundeswehr dar. Dabei hat der Wunsch nach einer besseren Vereinbarkeit von Familie und persönlichen Interessen mit dem Dienst deutlich zugenommen. So stieg allein der Anteil der Teilzeitbeschäftigten in den vergangenen zwei Jahren um rund 65 Prozent. Es gibt eine klare Erwartungshaltung der Soldaten an mehr zeitliche Flexibilität und die Nutzung moderner Arbeitszeitinstrumente wie Arbeitszeitkonten und Teilzeitoptionen. Die Soldaten vergleichen sich zudem mit anderen Streitkräften, in denen bereits flexiblere Dienstzeitmodelle eingeführt wurden.“

EU-Arbeitszeitrichtlinie gilt sehr wohl auch für Soldaten

Die Gutachter des Wirtschaftsprüfungsunternehmens wiesen zudem nach, dass entgegen bisheriger „amtlicher Auffassung“ die EU-Arbeitszeitrichtlinie sehr wohl für Soldaten gilt. Sie zitierten dazu mehrfach auch das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. Dezember 2011 (2 C 41.10).

In der KPMG-Studie heißt es, die Bundeswehr praktiziere derzeit auf Grundlage der Entscheidung des damaligen Staatssekretärs Peter Wichert vom 2. April 2008 eine pauschale Ausnahmeregelung von der EU-Arbeitszeitrichtlinie für ihre Soldaten. Nach eingehender Analyse sei man nun zu dem Ergebnis gelangt, dass diese „EU-Arbeitszeitrichtlinie auf Soldaten grundsätzlich und unmittelbar anwendbar ist“. Nach der gemeinschaftsrechtlichen Definition des Arbeitnehmers, die lediglich auf eine Leistungserbringung gegen eine Vergütung aufgrund von Weisungen abstelle, seien Soldaten trotz der öffentlich-rechtlichen Ausgestaltung ihres Dienstverhältnisses dabei als Arbeitnehmer einzuordnen, so die Einschätzung der Fachleute. Ihrer Meinung nach „ist die EU-Arbeitszeitrichtlinie vor allem auf den Grundbetrieb unmittelbar anwendbar“.

Lediglich der Einsatz ist „vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgenommen“. Die Studie erläutert an dieser Stelle: „Die EU-Arbeitszeitrichtlinie ist demnach etwa nicht anwendbar auf Einsatzverwendungen zur Landesverteidigung, zur Bündnisverteidigung im Rahmen der Nordatlantischen Allianz, zur Beteiligung an militärischen Aufgaben im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU, sogenannte Dauereinsatzverwendungen, zur internationalen Konfliktverhütung und Krisenbewältigung gemäß den jeweiligen parlamentarischen wehrverfassungsrechtlichen Einsatzmandaten des Bundestages, zur Amtshilfe in Fällen von Naturkatastrophen und schweren Unglücksfällen (im Sinne des Artikels 35 Grundgesetz), zum Schutz kritischer Infrastruktur und bei innerem Notstand sowie zur Rettung, Evakuierung und Geiselbefreiung im Ausland.“

Sondersituationen wie militärische Übungen oder Seefahrten fallen nach Einschätzung der KPMG-Sachverständigen zwar generell ebenfalls in den Anwendungsbereich der EU-Arbeitszeitrichtlinie, können aber „durch Sonderregelungen im Sinne dieser Richtlinie mit jeweils unterschiedlichen Voraussetzungen und unterschiedlichen Implikationen zugunsten der besonderen Bedürfnisse der Bundeswehr gelöst werden“.

Neue Ansätze zur Steigerung der Dienstattraktivität

Was nun empfiehlt das KPMG-Projektteam der Bundeswehr? Im Ergebnis schlagen die Experten neue Ansätze in drei Bereichen vor. Ersten: Kurzfristig realisierbare Flexibilisierungen der Dienstzeiten insbesondere vor und nach den Einsätzen sowie für Pendler. Zweitens: Einführung von Lebensarbeitszeitkonten für alle Soldaten der Bundeswehr. Drittens: Ausweitung der Teilzeitmöglichkeiten, die zugleich die besondere Führungsverantwortung innerhalb der Bundeswehr berücksichtigt.

Das Kapitel schließt mit dem dringenden Hinweis: „Um die Attraktivität des Dienstes langfristig und nachhaltig zu steigern und zugleich kurzfristig spürbare Verbesserungen zu erzielen, empfehlen wir alle drei Bereiche gleichzeitig anzugehen – auch und gerade weil deren Realisierung in unterschiedlichen zeitlichen Horizonten erfolgen wird.“

Auch wenn der Abschlussbericht der KPMG-Studie 151 Seiten umfasst, so ist doch vorstellbar, dass Verteidigungsministerin von der Leyen nicht nur einmal in der wegweisenden Arbeit geblättert hat.

Hinweis: Den „Abschlussbericht der Studie zur Entwicklung von attraktiven und konkurrenzfähigen Dienstzeit- und Dienstzeitausgleichsmodellen für Soldatinnen und Soldaten“ (kurz KPMG-Studie) bieten wir Ihnen als PDF in unserer BIBLIOTHEK (Bereich „Schwarz auf weiß“) zum Download an; wir sind jedoch für die Inhalte dieser Publikation nicht verantwortlich.



Das Bildangebot zu unserem Beitrag „Die Vision vom familienfreundlichen Unternehmen“:
1. Ursula von der Leyen will die Bundeswehr attraktiver machen und die Vereinbarkeit von Dienst und Familie verbessern. Die Aufnahme zeigt die Ministerin am Nachmittag des 17. Dezember 2013 auf dem Paradeplatz des Bundesministeriums der Verteidigung. Sie wurde hier im Beisein ihres Amtsvorgängers Thomas de Maizière von General Volker Wieker, Generalinspekteur der Bundeswehr, mit militärischen Ehren zum Dienstantritt empfangen.
(Foto: Sebastian Wilke/Bundeswehr)

2. Hintergrund zur Infografik „Überstunden – Spitzenreiter ist das Heer“: Soldaten des Panzergrenadierbataillons 391 bei der Informations- und Lehrübung 2011 des Heeres in Munster.
(Foto: Dana Kazda/PrInfoZ Heer/Bundeswehr)

3. Hintergrund zur Infografik „Mannschaftsdienstgrade zeitlich am meisten belastet“: Informations- und Lehrübung 2010 des Heeres in Munster – Soldaten des Panzergrenadierlehrbataillons 92 beim Häuserkampf.
(Foto: Marcus Rott/Bundeswehr)

4. Hintergrund zur Infografik „Arbeitszeiten in Deutschland“: Fahrt ins Wochenende – Soldaten warten am 18. April 2008 in Berlin auf ihren Zug.
(Foto: Martin Stollberg/Bundeswehr)


Kommentare

  1. P. Schneider | 8. Oktober 2014 um 19:49 Uhr

    Neben all diesen Aspekten sollte jetzt die Substanz im Fokus stehen.

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