Washington (USA)/London (Großbritannien)/Kabul (Afghanistan). Ob transnationale Terrorgruppe al-Qaida oder radikal islamistische Taliban, ob die Hezb-e Islami um Gulbuddin Hekmatyar oder das kriminelle Netzwerk von Jalaluddin Haqqani – sie alle eint ein Ziel: Sturz der afghanischen Regierung und Vertreibung der internationalen Truppen aus Afghanistan. 13 Jahre lang dauert nun schon der Kampfeinsatz der NATO-geführten Koalitionstruppen gegen diese Aufständischen. Am 31. Dezember endet der robuste ISAF-Auftrag, am 31. Januar 2015 beginnt nahtlos die Folgemission „Resolute Support“. Sie aber ist lediglich eine Ausbildungs-, Beratungs- und Unterstützungsmission. Kämpfen müssen dann die afghanischen Sicherheitskräfte alleine. Briten und Amerikaner übergaben jetzt ihre letzten beiden Stützpunkte in der Südprovinz Helmand an die Afghanen. Für die Regierungen in London und Washington endete damit zugleich der Kampfeinsatz ihrer Truppen am Hindukusch.
Seit dem 26. Oktober liegt die Sicherheit in der Unruheprovinz Helmand ganz alleine in den Händen der afghanischen Sicherheitskräfte (Afghan National Security Forces, ANSF). An diesem Sonntag übergaben die Briten ihr Camp Bastion in einer schlichten Zeremonie an die Afghanen. Auch im benachbarten Camp Leatherneck holten US-Marineinfanteristen die Flagge ein. Die beiden Militärstützpunkte unterstehen jetzt dem Kommando des 215. Afghan National Army Corps.
ISAF-Oberbefehlshaber John F. Campbell kommentierte die symbolträchtige Übergabe mit den Worten: „Die Provinz Helmand war und ist ein äußerst schwieriges Terrain. Aber wir vertrauen den afghanischen Sicherheitskräften, dass sie die kommenden Aufgaben in dieser Region bewältigen werden – vorausgesetzt, die ANSF legen weiter an Schlagkraft zu und sorgen für eine bessere Zusammenarbeit zwischen Polizei- und Armeekräften.“
Das britische Feldlager Camp Bastion, das nordwestlich der Provinzhauptstadt Lashkar Gah liegt, war 2006 erbaut worden. Es umfasst eine Fläche von rund 6,4 Kilometern in der Länge und 3,2 Kilometern in der Breite. Zu Zeiten der heftigsten Auseinandersetzungen mit den Aufständischen im Jahr 2009 waren hier etwa 10.000 britische Soldaten stationiert. Innerhalb des riesigen Militärareals Bastion liegen die kleineren Stützpunkte Camp Barber (USA) und Camp Viking (Dänemark).
Camp Bastion war in den vergangenen Jahren mehrfach angegriffen worden. Bei einem Überfall der Taliban am 14. September 2012 starben zwei US-Marines, sechs amerikanische Kampfflugzeuge vom Typ Harrier II wurden zerstört. 14 Talibankämpfer kamen um.
Das fast 7,7 Quadratkilometer große amerikanische Feldlager Camp Leatherneck und das Feldlager Camp Shorabak der Afghanischen Nationalarmee (Afghan National Army, ANA) liegen in unmittelbarer Nachbarschaft zu Camp Bastion. Camp Leatherneck war ursprünglich Basis für gut 40.000 Soldaten. Zuletzt waren dort nur noch etwa 4500 ausländische Soldaten stationiert.
Mit dem Einholen der amerikanischen und britischen Flagge sowie der NATO-Flagge über diesen Stützpunkten in Helmand sind ab sofort die afghanischen Kräfte für Sicherheit in diesem Teil des Landes verantwortlich. Der afghanische Generalmajor Sayed Malik Malook, erster Kommandeur des 215. ANA-Korps, versicherte bei der feierlichen Übergabe: „Ich bin überzeugt davon, dass wir diese Sicherheit auch gewährleisten können.“ Camp Leatherneck soll künftig als Ausbildungszentrum für 1800 afghanische Soldaten genutzt werden.
Der bislang für die Region zuständige ISAF-Kommandeur, US-Brigadegeneral Daniel D. Yoo, bezeichnete den Tag der Feldlagerübergabe als „ein Zeichen des Fortschrittes“. Es gehe dabei nicht um die Länder, die Truppen für die Koalition stellten, erklärte Yoo. An diesem Tag müsse man sich einfach noch einmal vergegenwärtigen, welche Anstrengungen die Afghanen in den letzten 13 Jahren unternommen und was sie erreicht hätten. „Was die afghanische Armee hier in der Provinz Helmand bislang geschafft hat, ist von großer Bedeutung“, sagte der Befehlshaber des Regionalkommandos Südwest. Yoo sieht die afghanische Armee für ihre neuen Aufgaben in Helmand gerüstet. Allerdings warnte auch er: „Sie hat die Fähigkeiten dazu nur, wenn für sie auch die nötigen Ressourcen bereitgestellt werden.“
Nach der Übergabezeremonie wurden die amerikanischen und britischen Soldaten nach Kandahar geflogen. Von hier aus werden sie in den nächsten Tagen und Wochen ihre endgültige Heimreise antreten. Genaue Termine wurden der Presse „aus Sicherheitsgründen“ jedoch nicht mitgeteilt.
Auf dem Höhepunkt des ISAF-Einsatzes waren gut 140.000 ausländische Soldaten am Hindukusch stationiert gewesen. Derzeit stellen noch 48 Nationen rund 34.500 Soldaten für ISAF (Stand 6. Oktober 2014). Nach dem offiziellen Ende des Kampfeinsatzes am 31. Dezember soll eine kleinere Truppe von mindestens 12.000 Soldaten – Ausbilder, Berater sowie Unterstützungs- und Sicherungspersonal – in Afghanistan stationiert werden. Die Bundeswehr soll bei dieser Folgemission „Resolute Support“ bis zu 800 Soldaten stellen.
Der britische Premierminister David Cameron erinnerte am 26. Oktober in einer Botschaft an sein Versprechen, die Kampftruppen seines Landes bis 2015 aus Afghanistan heimzuholen. An diesem Sonntag nun ende die Kampfmission am Hindukusch für britische Truppen endgültig, so der Premier stolz.
Großbritanniens Verteidigungsminister Michael Fallon räumte in einer Sendung der BBC ein, dass man die Taliban nicht habe schlagen können. Nun jedoch liege die volle Verantwortung für die Sicherheit Afghanistans in den Händen der nationalen Polizei- und Armeekräfte. Fallon gab sich in dem Interview optimistisch: „Unsere Truppen haben unter gewaltigen Opfern das Fundament für starke afghanische Sicherheitskräfte gelegt und in diesem Kontext zugleich die ersten demokratischen Wahlen im Land ermöglicht. Auch konnte durch ihren Einsatz verhindert werden, dass Afghanistan wieder zu einem Ausgangspunkt terroristischer Attacken in Großbritannien wird.“
Auch wenn in den vergangenen Jahren seitens der militärischen und politischen Führung beim Afghanistaneinsatz Fehler gemacht worden seien, so dürfe das Erreichte doch keinesfalls ignoriert werden, sagte der britische Verteidigungsminister. Das Fazit des 13 Jahre dauernden Engagements der Briten in Afghanistan könne sich sehen lassen. „Wir haben dem Land die bestmögliche Chance einer stabilen Zukunft gegeben.“ Zugleich versprach Fallon der Nation: „Wir werden unter keinen Umständen noch einmal Kampftruppen nach Afghanistan entsenden.“
Die positive Bewertung der britischen Regierung teilt auf der Insel nur eine Minderheit. 13 Jahre nach dem Sturz der Taliban, acht Jahre nach dem Einmarsch in die Helmand-Provinz, nach 453 toten und vielen Tausend teils schwer verwundeten britischen Soldaten werten 68 Prozent der Bürgerinnen und Bürger Großbritanniens den Afghanistanfeldzug als „nicht lohnenswert“ für ihr Land. Dies ergab eine repräsentative Telefonumfrage der BBC im Zeitraum 24. bis 26. Oktober (BBC-Vergleichszahl für die USA: 51 Prozent).
Nur 24 Prozent der Befragten in Großbritannien glauben, das Engagement britischer Truppen am Hindukusch habe Afghanistan zu einem besseren Ort gemacht. 25 Prozent glauben, erst durch diesen Kampfeinsatz habe sich die Situation in Afghanistan insgesamt verschlechtert. 44 Prozent sind der Meinung, die Mission der britischen Streitkräfte habe weder im positiven noch im negativen Sinne eine ausschlaggebende Veränderung in Afghanistan bewirkt.
Sebastian Borger befasste sich am 27. Oktober in der österreichischen Tageszeitung Der Standard mit dem Afghanistaneinsatz der britischen Armee, der der Heimat „als Friedensmission verkauft“ worden sei. Als die Briten 2006 nach Helmand beordert wurden, seien „die britischen Löwen in eine Hochburg der Taliban, die sich längst neu formiert hätten, geraten“. Borger zitiert einen Angehörigen des Fallschirmjägerregiments 3 Para: „Wir verbrachten die ganze Zeit nur damit, am Leben zu bleiben.“ Von den eigentlichen Aufgaben – Terrorbekämpfung und Wiederaufbau – sei bald kaum noch die Rede gewesen.
London-Korrespondent Borger, der unter anderem auch für die Basler Zeitung und das Politmagazin Cicero arbeitet, lässt in seinem Beitrag über den britischen Abzug aus Camp Bastion auch das Royal United Services Institute (RUSI) zu Wort kommen. Das unabhängige Forschungsinstitut kritisiert vor allem, dass die Armeeführung der zum Kampfeinsatz entschlossenen politischen Führung nach dem Mund geredet habe, später habe man die britischen Soldaten ohne ausreichende Planung ins Gefecht geschickt. Borger schreibt: „Erst nachdem die Opferzahlen in die Höhe schnellten, erhielten die Einheiten vor Ort Schutzwesten, gepanzerte Fahrzeuge sowie ausreichend Unterstützung durch Hubschrauber. Allein 2009 kamen 108 Briten in Afghanistan ums Leben.“
Professor Michael Clark, der Direktor des RUSI, macht in seiner am Dienstag dieser Woche (28. Oktober) erschienenen Analyse „Britain’s Fourth Afghan War“ („Großbritanniens vierter Afghanistankrieg“) auch noch ein „strategisches Pfuschwerk“ für den verlustreichen und teuren Einsatz der Briten in Helmand verantwortlich: die Invasion des Iraks im Jahr 2003. Das Thema „Irak“ habe damals in allen für die Afghanistanmission maßgeblichen Büros der politischen und militärischen Entscheidungsträger „die strategische Luft“ verbraucht, bedauert Clark. „In jenen Jahren hätte Afghanistan zu einem wirtschaftlichen und politischen Erfolg werden können, leider war das Desinteresse der Internationalen Gemeinschaft daran fast schon an einem kritischen Punkt angelangt.“ Angesichts des Irakabenteuers sei man in dieser Phase „weder politisch ganz raus aus Afghanistan gewesen, noch irgendwie richtig drin“ – die USA und ISAF hätten damals die Situation im Land nur noch verschlimmert.
Was nun bleibt den Briten unter dem Bilanzstrich ihres vierten Afghanistankrieges? RUSI-Direktor Michael Clark formuliert ein Urteil mit scharfer linker und rechter Grenze: „Am Ende kehren die britischen Truppen nicht mit einem Sieg heim, aber sie erledigten ihren Job unter äußerst ungünstigen Rahmenbedingungen hervorragend […] Ich denke, auf dem Trafalgar Square wird es zwar keine Siegesparade geben, der Afghanistaneinsatz unserer Soldaten verlief auf der anderen Seite aber auch keineswegs unehrenhaft oder hat gar zu einer nationalen Demütigung geführt.“
Video-Hinweis: Ein Fernsehteam der BBC begleitete am 26. Oktober 2014 in der Provinz Helmand die Übergabe des Stützpunktes Camp Bastion an die Afghanische Nationalarmee. Während die Fahne Großbritanniens ein letztes Mal eingeholt wurde, wurde zeitgleich auch das benachbarte US-Feldlager Camp Leatherneck an die Afghanen übergeben. Britische Truppen sind seit 2001 in Afghanistan stationiert, Camp Bastion war seit 2006 ihre Hauptbasis. Bisher ließen im Afghanistaneinsatz 453 britische Soldaten ihr Leben, 2349 amerikanische Soldaten starben. Auch andere ISAF-Nationen beklagen Gefallene.
(Video: BBC)
Unser Bildangebot zum Beitrag „Britische und amerikanische Soldaten beenden Kampfeinsatz in Afghanistan“:
1. US-Sergeant Steve McCann auf Wache im Camp Leatherneck – die Aufnahme entstand am 13. September 2011.
(Foto: Bryan Nygaard/U.S. Marines)
2. Am 26. Oktober 2014 wurden in Camp Bastion letztmalig die Flaggen der NATO, der USA und Großbritanniens eingeholt. Im Bildvordergrund mit der britischen Flagge Captain Matthew Clark (rechts) und Warrant Officer Class 1 John Lilley.
(Foto: Obi Igbo/© Crown copyright 2014)
3. Hinweis im Eingangsbereich von Camp Leatherneck.
(Foto: Leonard J. DeFrancisci)
4. Briten und Amerikaner hatten bereits Monate vor Übergabe ihrer letzten großen Stützpunkte in der Helmand-Provinz damit begonnen, die Außenposten zu räumen. Das Foto vom 2. Mai 2014 zeigt Corporal Jeffery Mount beim Verlassen der Forward Operating Base Nolay. Mount gehörte zur letzten Gruppe der US-Berater, die hier einige Monate lang Soldaten des 215. ANA-Korps unterstützt hatten.
(Foto: Joshua Young/U.S. Marine Corps)
5. Eingangsbereich von Camp Bastion.
(Foto: Steve Blake)
6. Missionsende – Angehörige des US-Marinekorps verlassen am 27. Oktober 2014, einen Tag nach der Übergabe der Stützpunkte Camp Leatherneck und Camp Bastion an die afghanische Armee, die Helmand-Provinz mit dem Truppentransporter.
(Foto: John Jackson/U.S. Marine Corps)