Reflexhafter Ruf nach mehr Überwachung?
2013
Bonn/Berlin. Der gescheiterte Bombenanschlag im Bonner Hauptbahnhof am 10. Dezember hat erneut eine intensive Debatte über die Verstärkung der Videoüberwachung an Bahnhöfen und öffentlichen Plätzen ausgelöst. Allerdings mehr in der Politik. Die Bürger scheinen sich mehrheitlich einig: Vier Fünftel der Deutschen (81 Prozent) befürworten eine Ausweitung, lediglich ein Fünftel (18 Prozent) lehnen dies ab; in allen Parteianhängerschaften findet mehr Videoüberwachung mehrheitlich Zustimmung.
Dies ergab eine Umfrage des auf Meinungs- und Wahlforschung spezialisierten Berliner Instituts Infratest dimap. Die Umfrage erfolgte im Auftrag des ARD-Morgenmagazins und wurde am 21. Dezember veröffentlicht.
Ein Rückblick auf die Bonner Ereignisse: Am 10. Dezember 2012 gegen 13 Uhr hatte eine männliche Person auf dem Bahnsteig Gleis 1 des Hauptbahnhofs Bonn eine blaue Sporttasche mit einer zündfähigen Sprengvorrichtung abgestellt. Nach den vorläufigen kriminaltechnischen Untersuchungen bestand die Sprengvorrichtung aus einem etwa 40 Zentimeter langen Metallrohr, das Ammoniumnitrat enthielt und mit vier Druckgaspatronen umwickelt war. Ein Wecker und verschiedene Batterien sollten als Zündvorrichtung dienen. Medienberichten zufolge ist der Sprengsatz zwar ausgelöst worden, explodierte aber wegen einer Fehlkonstruktion nicht. Der Einsatzleiter der Kölner Polizei bezeichnete am 12. Dezember den Sprengsatz als „höchst gefährlich“. Die in der Sporttasche analysierten Materialien hätten „einen großen und gefährlichen Feuerball mit beachtlicher Sprengkraft und großer Splitterwirkung“ entfachen können, erklärte der Beamte.
Unmittelbar nach dem gescheiterten Sprengstoffanschlag gab es erste konkrete Hinweise auf mögliche Täter. Eine verdächtige Person soll laut Bundesanwaltschaft „über Verbindungen in radikal-islamistische Kreise“ verfügen. Es liege der Anfangsverdacht vor, so heißt es in einer Pressemitteilung des Generalbundesanwalts beim Bundesgerichtshof (GBA), dass diese Person „als Mitglied einer terroristischen Vereinigung einen Sprengstoffanschlag verüben wollte“. Einem Bericht des Westdeutschen Rundfunks (WDR) zufolge soll es sich um einen Mann aus dem nordrhein-westfälischen Langenfeld handeln. Der Tatverdächtige gilt laut WDR als Verbindungsmann zum Terrornetzwerk al-Qaida.
Die Bundesanwaltschaft übernahm am 14. Dezember das Ermittlungsverfahren von der Staatsanwaltschaft Bonn und beauftragte das Bundeskriminalamt mit den kriminalpolizeilichen Ermittlungen und der Fahndung nach möglichen Tatbeteiligten.
Im Bonner Hauptbahnhof gab es zur Tatzeit sechs Überwachungskameras, jedoch keine Bilder von Tatverdächtigen, weil diese Aufnahmen nicht gespeichert worden waren. Deutsche Bahn und Bundespolizei lehnen dafür die Verantwortung ab. Die Bundespolizei entscheide über die Speicherung, so argumentiert die Bahn. Die Bundespolizei kontert, die Bahn sei nicht bereit, zusätzliche Aufzeichnungskapazitäten zu bezahlen. Vom Tag des gescheiterten Anschlags sind lediglich unzureichende Aufnahmen eines Tatverdächtigen aus einem Fast-Food-Restaurant erhalten.
Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU), Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann (CDU), Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU), Berlins Innensenator Frank Henkel (CDU) und weitere Unionspolitiker plädierten mittlerweile deutlich für eine Ausweitung der Videobeobachtung im öffentlichen Umfeld. Friedrich sagte dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel: „Wir brauchen eine effiziente Videobeobachtung und Videoaufzeichnung auf öffentlichen Plätzen und Bahnhöfen.“ Die Union teilt diese Position – Friedrich habe die „volle Unterstützung“ der Partei, sagte CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe.
SPD, Grüne und FDP hingegen stellen sich gegen eine Ausweitung der Videoüberwachung. Michael Hartmann, innenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, verweist auf Erfahrungen aus anderen Ländern. Diese zeigten, dass durch mehr Überwachung nicht automatisch mehr Sicherheit erreicht werde. „Mit seinem reflexhaften Ruf nach schärferen Gesetzen und mehr Videoüberwachung macht es sich Innenminister Friedrich zu leicht“, sagte Renate Künast, Vorsitzende der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, der Süddeutschen Zeitung. Deutschland brauche effektive Sicherheitsbehörden und keine flächendeckende Überwachung. Claudia Roth, Bundesvorsitzende der Grünen, argumentierte: „Eine Regierung, die Bürgern pauschal das Vertrauen entzieht, schützt nicht vor Terrorismus.“
FDP-Generalsekretär Patrick Döring sprach sich ebenfalls gegen ein Mehr an Kameraüberwachung aus. „Wir brauchen jetzt keine neue Debatte über Strafverschärfungen oder mehr Videoüberwachung“, sagte er den Zeitungen der WAZ-Gruppe. „Vielmehr sind effektive Sicherheitsbehörden nötig, die den Fall aufklären.“ Auch Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) mahnte in der Zeitung Die Welt, eine derartige Ausweitung der Überwachung sollte „nicht anlassbezogen gefordert werden“. Sie hätten dann „eher Symbol- als Abschreckungswirkung“. Die Prävention terroristischer Gewalttaten erfordere effektiv handelnde Sicherheitsbehörden. Leutheusser-Schnarrenberger: „Wir sollten dafür sorgen, dass Bomben die Bahnhöfe gar nicht erst erreichen können.“
Das Bundesinnenministerium nannte jetzt als Beleg des Nutzens einer stärkeren Überwachung auch Zahlen. Im Zeitraum vom 1. Januar 2011 bis zum 30. April 2012 seien mittels Videotechnik 3639 strafrechtliche Delikte entdeckt worden, so eine Sprecherin. Durch den Videobeweis hätten 1230 davon aufgeklärt werden können. Dies sei eine Aufklärungsquote von fast einem Drittel der entdeckten Delikte.
Bereits 2007 hatte sich der Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und Neue Medien (BITKOM) für mehr Investitionen der Öffentlichen Hand in Elektronik zur Videoüberwachung ausgesprochen und dabei auf Großbritannien verwiesen. Dort würde um ein Vielfaches mehr in entsprechende Sicherheitstechnik investiert als in Deutschland. In Großbritannien hätten die Behörden im Jahr 2006 rund 116 Millionen Euro für die Überwachungssysteme ausgegeben, in Deutschland seien im Vergleichszeitraum lediglich 16 Millionen Euro in Kameras investiert worden, bedauert BITKOM.
Aber es gibt auch Statistiken, die eine völlig andere Sprache sprechen. Einem Bericht der Zeitung Evening Standard vom September 2007 zufolge ist Großbritannien das Land mit den meisten Überwachungskameras weltweit. Dies hatten Nachforschungen liberaler Abgeordneter des Londoner Stadtparlaments ergeben, die mit Hilfe des Gesetzes zur Informationsfreiheit (Freedom of Information Act) entsprechende Polizeistatistiken einsehen konnten. Alleine die Hauptstadt war zum Zeitpunkt der Recherchen mit 10.542 Überwachungskameras – verteilt auf 32 Stadtteile – bestückt. Dee Doocey, damalige Sprecherin der Liberalen, teilte den Medien später Erstaunliches mit: „Nach dem gesichteten Zahlenmaterial gibt es keinen Zusammenhang zwischen einer größeren Anzahl von Überwachungskameras und einer gesunkenen Verbrechensrate.“ Im Gegenteil: Laut der Polizeistatistik lag die Aufklärungsrate für Verbrechen in Londoner Stadtteilen mit vergleichsweise weniger Überwachungskameras zumeist über der Durchschnittsquote. Doocey kommentierte die Rechercheergebnisse mit unverhohlener Kritik: „Wir schätzen, dass die Überwachungskameras den britischen Steuerzahler in den vergangenen zehn Jahren etwa 200 Millionen Pfund gekostet haben. Vielleicht wäre es sinnvoller gewesen, einen Teil dieses Geldes in zusätzliche Polizeikräfte zu investieren.“
Mehr Präsenz auf der Straße statt elektronischer Kontrolle? 2006 verglich der australische Journalist Hal Colebatch in einem Beitrag für das US-Magazin American Spectator die Kriminalstatistik der Metropolen New York und London. Beide Städte – mit jeweils rund acht Millionen Einwohner – verfügten zum damaligen Zeitpunkt über ein ähnliches Budget für ihre Polizeikräfte. New York hatte allerdings etwa 40 Prozent mehr Uniformierte auf den Straßen im Einsatz und setzte nicht auf Videoüberwachung wie London. Colebatch schrieb damals in seinem Beitrag: „Die Verbrechensrate in Großbritannien steigt seit Jahren an. Die aktuelle Verbrechensrate in der britischen Hauptstadt ist Schätzungen zufolge dabei sieben Mal so hoch wie in New York.“ Trotz totaler Überwachung der öffentlichen Räume…
Zu unseren beiden Bildern:
1. Hauptbahnhof Bonn, 10. Dezember 2012: Das Überwachungsvideo eines Schnellrestaurants im Bahnhofsbereich zeigt einen der Tatverdächtigen mit der blauen Tasche, in der sich der Sprengsatz befand.
(Aufnahme: Freigabe durch GBA)
2. Hintergrund der Infografik ist der Bonner Hauptbahnhof, Bahnsteig Gleis 1. Hier wurde der Sprengsatz entdeckt.
(Foto: Wikipedia, Infografik: mediakompakt)