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Washington (USA)/Lyon (Frankreich)/Berlin. Die aktuellen Warnungen von Geheimdiensten und Interpol vor einer verschärften Bedrohungslage vor allem im Nahen Osten und in Nordafrika spiegeln eine besorgniserregende Entwicklung wider. Ob in Afghanistan, Pakistan, Irak oder Jemen: al-Qaida und andere radikalislamistische Gruppierungen haben an Schlagkraft gewonnen. Die Ausschaltung Osama bin Ladens in der pakistanischen Garnisonsstadt Abbottabad in der Nacht zum 2. Mai 2011 war für diese Terrorszene sicherlich ein Rückschlag, aber nicht das Ende. Durch spektakuläre Angriffe auf Gefängnisse in mehreren Krisenländern konnten die militanten Islamisten gerade erst Hunderte Terrorkämpfer befreien. Am 4. August nun schlossen die USA vorübergehend 22 ihrer diplomatischen Vertretungen in islamischen Ländern.

Bereits am 2. August, einem Freitag, hatten die Vereinigten Staaten eine weltweite Reisewarnung herausgegeben. Das US-Außenministerium hatte diese Maßnahme mit Hinweisen auf mögliche Anschläge durch al-Qaida oder verbündete Terrororganisationen begründet.

Am Montag dann erklärte Ministeriumssprecherin Marie Harf in Washington, dass der Nahe Osten und Nordafrika besonders gefährdet seien. Sie erläuterte auch, warum die Vereinigten Staaten am Sonntag 22 ihrer Botschaften und Konsulate in islamischen Ländern – von Mauretanien in Nordwestafrika bis ins südasiatische Bangladesch – schließen ließen (die meisten dieser befristeten Schließungen sollten die Woche über andauern). Auch Frankreich, Großbritannien und Deutschland machten ihre Botschaften im Jemen vorübergehend dicht (die deutsche Botschaft in der jemenitischen Hauptstadt Sanaa bleibt insgesamt aufgrund der Feiertage des Eid Al-Fitr, des dreitägigen Festes des Fastenbrechens, bis zum 11. August zu).

Die schwerste Terrorbedrohung seit Jahren?

Nach Angaben von Regierungsbeamten in Washington hatten US-Nachrichtendienste geheime Kommunikationen zwischen führenden Mitgliedern des Terrornetzwerks al-Qaida mithören können. US-Abgeordnete bezeichneten die so gesammelten Hinweise auf bevorstehende Anschläge als die „ernsthafteste Bedrohung seit den Attacken vom 11. September 2001“.

Der Republikaner Thomas J. „Tom“ Rooney, der den Bundesstaat Florida im US-Repräsentantenhaus vertritt, ist Mitglied des Ständigen Ausschusses für Geheimdienstliche Aufgaben (U.S. House Permanent Select Committee on Intelligence, HPSCI). Er sagte der Presse am Wochenende: „Unsere Nachrichtendienste haben eine ganz spezielle Art der Bedrohung entdeckt; sie ist den Diensten offensichtlich bereits einige Wochen bekannt.“ Clarence Saxby Chambliss, republikanischer Senator aus Georgia und stellvertretender Vorsitzender des Kongressausschusses für die Geheimdienste (U.S. Senate Select Committee on Intelligence, SSCI), sprach gegenüber Medienvertretern von der schwersten Terrorbedrohung seit Jahren. „Sie erinnern sehr daran an das, was sich im Vorfeld von 9/11 ereignete.“ Damals habe man aus abgefangenen Informationen vor den Angriffen des 11. September 2001 nicht die richtigen Konsequenzen gezogen, erklärte Chambliss. „Aber jetzt, so glaube ich, ist es sehr wichtig, dass wir die richtigen Pläne machen.“

Interpol besorgt über entflohene Terroristen

Am 3. August hatte auch die internationale kriminalpolizeiliche Organisation Interpol (International Criminal Police Organization, ICPO) eine globale Warnung vor erhöhter Terrorgefahr herausgegeben. Interpol bezog und bezieht diese Maßnahme auf die Massenausbrüche mutmaßlicher Extremisten aus Gefängnissen im Irak, in Pakistan und in Libyen. Interpol verdächtigt al-Qaida, in die Flucht von „Hunderten Terroristen und anderen Kriminellen“ in insgesamt neun islamischen Ländern verwickelt zu sein.

Wie die internationale Polizeiorganisation in Lyon mitteilte, sind nun die 190 ICPO-Mitgliedsländer zur Zusammenarbeit aufgerufen, um „festzustellen, ob diese jüngsten Ereignisse koordiniert oder miteinander verbunden waren“.

Nach Angriffen islamistischer Kräfte auf zwei Gefängnisse nahe der irakischen Hauptstadt Bagdad in der Nacht vom 21. zum 22. Juli war rund 500 Häftlingen – unter ihnen auch mutmaßliche und verurteilte Terroristen – die Flucht gelungen. Am 27. Juli konnten mehr als 1000 Häftlinge aus einer libyschen Haftanstalt nahe der Hafenstadt Bengasi entkommen, zuvor hatte es offensichtlich auch hier einen Angriff von außen gegeben. Am 30. Juli befreiten schwerbewaffnete Taliban aus einem Zentralgefängnis in der pakistanischen Grenzprovinz Khyber Pakhtunkhwa etwa 300 Häftlinge, die Mehrzahl vermutlich inhaftierte Aufständische.

Interpol verwies in der Erklärung auch darauf, dass sich im August eine Reihe von Terrorangriffen jähren, darunter Anschläge in Indien, Russland und Indonesien. Am 7. August 1998 beispielsweise waren die US-Botschaften in Kenia und Tansania angegriffen worden; dabei starben mehr als 200 Menschen.

Konkrete Informationen aber wenig Details

Guido Steinberg, Islamwissenschaftler und Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin, äußerte sich vor wenigen Tagen in einem Interview mit der Berner Zeitung (Schweiz) über die Schließung der US-Botschaften und die Gefahrenlage. Steinberg sagte: „Ich kann mir gut vorstellen, wie die vorliegenden Informationen aussehen: sehr konkret und gleichzeitig sehr vage. Es gibt wahrscheinlich konkrete Gespräche über einen möglichen Anschlag. Gleichzeitig gibt es überhaupt keine Details darüber, wer den Anschlag verüben könnte, wie der verübt wird und wo er verübt wird.“

Angesprochen auf die Parallele zum 11. September 2001 meinte Steinberg, der in den Jahren 2002 bis 2005 Referent im Referat „Internationaler Terrorismus“ im Bundeskanzleramt gewesen war: „Diese Parallele zeigt, wie die momentane Gefahr aussehen könnte. Wir wissen, dass im August 2001 sehr viel zu hören war. Es war fast allen Beteiligten klar, dass etwas passieren würde. Aber niemand wusste, wo die Anschläge stattfinden oder wie sie verübt würden. Das scheint nun ähnlich zu sein.“

Telefonkonferenz der al-Qaida-Spitze

Einen viel diskutierten Beitrag zur aktuellen Bedrohungslage lieferten jetzt die beiden US-Journalisten Eli Lake und Josh Rogin in The Daily Beast. The Daily Beast ist eine US-amerikanische Website für Nachrichten und Meinungen, die im Oktober 2008 an den Start ging und bereits ein Jahr später monatlich rund drei Millionen Besucher verzeichnete.

Lake, Korrespondent für den Bereich „Nationale Sicherheit“ sowie politischer Kommentator von The Daily Beast, und Rogin, spezialisiert auf investigativen Journalismus im Themenfeld „Nationale Sicherheit und Außenpolitik“, berichten am 7. August exklusiv für The Daily Beast über eine von US-Geheimdienstexperten abgehörte hochrangige al-Qaida-Telefonkonferenz. „Der entscheidende Anlass für die US-Regierung, 22 diplomatische Vertretungen in 22 Ländern schließen zu lassen, war eine Telefonkonferenz zwischen der Senior-Führungsspitze von al-Qaida und Vertretern verschiedener regionaler Tochtergruppierungen.“ Unter Berufung auf drei US-Geheimdienstexperten heißt es auf der Nachrichtenwebsite weiter: „Die aufgezeichnete Kommunikation erlaubte den nationalen Geheimdiensten einen schlaglichtartigen Blick darauf, wie al-Qaida-Chef Ayman al-Zawahiri, Nachfolger von Osama bin Laden, eine globale Organisation mit Ablegern in Afrika, im Nahen Osten und in Südwest- und Südostasien leitet.“

Der al-Qaida-Führer, der derzeit in Pakistan vermutet wird, habe bei dieser Telefonkonferenz nicht nur mit Nasser al-Wuhayshi, führender Kopf der al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel gesprochen, sondern auch gleichzeitig mit Vertretern aus zahlreichen weiteren Ländern. Insgesamt sollen 20 Terroristen an dieser Schaltung beteiligt gewesen sein, schreiben Lake und Rogin. Die Runde, die ein Geheimdienstmitarbeiter gegenüber den Autoren des Beitrages als „Armee der Verdammten“ bezeichnet habe, soll aus Vertretern oder Führern folgender Gruppierungen bestanden haben: Boko Haram aus Nigeria; Allianz militanter pakistanischer Taliban (Tehrik-e Taliban Pakistan, TTP) aus dem pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet; al-Qaida in Irak (AQI); al-Qaida in the Lands of the Islamic Maghreb (AQIM) aus Algerien und Mali; al-Qaida in the Arabian Peninsula (AQAP) aus Saudi-Arabien und Jemen sowie Islamische Bewegung Usbekistan (The Islamic Movement of Uzbekistan, IMU).

Wie The Daily Beast weiter berichtete, soll Ayman al-Zawahiri den jemenitischen al-Qaida-Anführer al-Wuhayshi (auch Abu Basir genannt) zu einer Art „Generalmanager“ (arabischer Terminus: Ma’sul al-Amm) befördert haben. So gestärkt könne al-Wuhayshi nun die verschiedenen al-Qaida-Gruppierungen in der gesamten muslimischen Welt operationell steuern.

Journalistisches Lehrstück oder PR-Aktion der Regierung?

Wie sehr die Enthüllungen des früheren US-Geheimdienstmitarbeiters Edward Snowden auch in den Vereinigten Staaten nachwirken, zeigen die zweigeteilten Reaktionen der Medien auf den Daily-Beast-Artikel. Während einige Kolleginnen und Kollegen von Lake und Rogin die Geschichte und die Quellen hinter der Geschichte für absolut glaubwürdig halten, glauben andere Journalisten an eine getürkte Story. Manche halten es sogar für möglich, dass mit unfreiwilliger Unterstützung der Nachrichtenwebsite The Daily Beast die Fähigkeiten der National Security Agency (NSA) in Zeiten, in denen sie – dank Whistleblower Snowden – besonders in heftiger Kritik steht, glorifiziert werden sollen.

Auf die Frage der Berner Zeitung, ob die Enthüllung der al-Qaida-Bedrohung als Legitimationsversuch der US-Regierung für die Abhöraktionen der NSA interpretiert werden könne, meinte Terrorismusexperte Guido Steinberg: „Ich glaube nicht, dass die US-Sicherheitsbehörden von solchen Motiven angeleitet sind. Der gesamte Inhalt der Warnung spricht dagegen. Erstens: Mit der Veröffentlichung der Bedrohungslage machen die amerikanischen Behörden etwas, was keine Sicherheitsbehörde mag: sie erregen Furcht. Das würden sie nicht tun, wenn sie nicht der Meinung wären, dass dies absolut notwendig ist. Zweitens: Durch die Schließung der Botschaften beeinträchtigen sie die Funktionsfähigkeit der amerikanischen Außenpolitik. Drittens: Es gibt zwar auch in den USA eine Debatte zum Thema Abhören und NSA, diese ist aber deutlich weniger kontrovers als in Europa.“



Hinweis: Das Video des Nachrichtenkanals euronews vom 4. August thematisiert die Schließung der US-Vertretungen im Nahen Osten und in Nordafrika. Der republikanische Senator Clarence Saxby Chambliss äußert sich darin auch zu einer möglichen Terrorbedrohung durch al-Qaida: „Dies ist die ernsthafteste Bedrohung, von der ich in den vergangenen Jahren Kenntnis erhielt.“

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Zu unseren beiden Aufnahmen:

1. Die beiden al-Qaida-Führungskräfte Ayman al-Zawahiri und Nasser al-Wuhayshi.
(Fotos: amk)

2. Blick auf die jemenitische Hauptstadt Sanaa – auch die deutsche Botschaft blieb hier im August 2013 wegen der Terrorwarnungen für einige Tage geschlossen.
(Foto: Wikipedia)

3. Die stellvertretende Sprecherin des US-Außenministeriums Marie Harf bei der Pressekonferenz am 5. August 2013.
(Foto: U.S. Department of State)

4. Am 3. August 2013 gab die internationale Polizeiorganisation Interpol eine globale Warnung vor erhöhter Terrorgefahr heraus. Hintergrund dieser Maßnahme waren die Gefängnisausbrüche im Irak, in Libyen und in Pakistan, bei denen zahlreiche mutmaßliche oder verurteilte Terroristen entkommen konnten.
(Foto: Interpol)


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