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Berlin. Die Bundesregierung hat ihre Absicht bekräftigt, sich auch nach dem geplanten Truppenabzug 2014 in Afghanistan zu engagieren. Dies wurde am 5. Juni im Ausschuss des Bundestages für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung deutlich, in dem Außenminister Guido Westerwelle und Entwicklungsminister Dirk Niebel zur Perspektive des südasiatischen Landes Stellung nahmen. Allerdings knüpfte Westerwelle die deutsche Zusage an das afghanische Bemühen, die „Akzeptanz für Menschenrechte und zivilgesellschaftliche Standards“ zu erhöhen. Drastischer formuliert die NATO den neuen Pakt des Gebens und Nehmens. Beim Treffen der Verteidigungsminister der Allianz – ebenfalls am 5. Juni – hieß es, weitere Militärpräsenz sei nur möglich, wenn nun tatsächlich politische Reformen in Afghanistan eingeleitet und im kommenden Jahr freie Wahlen abgehalten würden.

Bei der Sitzung des Bundestagsausschusses an diesem Mittwoch sprach Westerwelle von einem „gegenseitigen Versprechen“ zwischen der Internationalen Gemeinschaft und Afghanistan. Der Außenminister: „Wir sind bereit, uns auch weiterhin zu engagieren, zugleich aber müssen der innerafghanische Reformprozess fortgesetzt, die Akzeptanz für Menschenrechte und zivilgesellschaftliche Standards erhöht werden.“ Insbesondere sorge ihn die Situation von afghanischen Frauen, deren Rechte nach dem Truppenabzug gefährdet sein könnten: „Wir stoßen hier auf ein Wertegerüst, das uns fremd ist.“

Positiv bewertete Westerwelle, dass afghanische Sicherheitskräfte mittlerweile die Verantwortung für nahezu 90 Prozent der Bevölkerung übernommen hätten. Auch die Einbeziehung der Nachbarländer Afghanistans in den Transformationsprozess sei auf „einem guten Weg“. Er kündigte an, zügig das Gespräch mit der neu gewählten pakistanischen Regierung zu suchen.

Deutsche Hilfe an afghanische Reformen gebunden

Entwicklungsminister Niebel bezifferte die zivile Hilfe aus Deutschland für Wiederaufbau und Entwicklung in Afghanistan auf jährlich bis zu 430 Millionen Euro, davon 250 Millionen Euro aus dem Etat seines Hauses und 180 Millionen Euro vom Auswärtigen Amt.

Die Bundesregierung habe den politischen Willen bekundet, diese Hilfe auf zehn Jahre „auf ungefähr gleichem Niveau“ bereitzustellen, sagte Niebel. Zugleich sei klar, dass die Mittelvergabe an sichtbare Reformfortschritte in Afghanistan geknüpft sei. Niebel verwies auf ein Gebertreffen im Juli, bei dem geprüft werden soll, ob und inwieweit die afghanische Regierung Verpflichtungen erfülle.

Afghanische Helfer nicht im Stich lassen

Vor den Ausschussmitgliedern sprach Niebel auch von einer „Evakuierungskomponente“ für internationale Kräfte und Ortskräfte der Entwicklungszusammenarbeit für die Zeit nach 2014. „In Extremsituationen müssen wir unter dem Schutz der Streitkräfte stehen“, forderte er und verwies unter anderem auf die Ankündigung der Bundesregierung, nach dem ISAF-Truppenabzug 600 bis 800 Bundeswehrsoldaten im Rahmen einer dann neuen Unterstützungs- und Ausbildungsmission zu stellen.

Beide Minister sicherten zu, afghanische Ortskräfte nach Abzug der ISAF-Truppen nicht im Stich lassen zu wollen. Westerwelle sprach allerdings auch von einer „komplizierten Abwägungsfrage“ – einerseits gelte es die Ortskräfte vor einer möglichen Gefährdung zu schützen, andererseits dürfe es nicht „zu einer massenhaften Abwanderung von Verantwortungsträgern ins Ausland“ kommen.

Neuer Missionsname und neue Ziele

Die NATO-Verteidigungsminister haben bei ihrem Treffen am 5. Juni in Brüssel ein Einsatzkonzept für die internationale Militärpräsenz in Afghanistan nach dem Auslaufen des Kampfeinsatzes in zwei Jahren beschlossen (derzeit sind nach ISAF-Angaben noch rund 100.000 ausländische Soldaten in Afghanistan stationiert; das afghanische Militär hat im Augenblick eine Gesamtstärke von etwa 176.000 Mann – rund 11.600 Soldaten fehlen im Vergleich zur Dezember-Truppenstärke 187.000). NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen führte in der belgischen Hauptstadt aus: „Die neue Mission wird nicht ISAF nur unter einem anderen Namen sein. Die neue Mission ,Resolute Support‘ wird sich von der jetzigen unterscheiden, und sie wird signifikant kleiner sein. Ihre Hauptziele sind das Training, die Beratung und die Unterstützung der afghanischen Kräfte.“ Allerdings werde es dann kein Eingreifen der NATO-geführten ausländischen Einheiten mehr geben, wenn afghanische Kräfte im täglichen Einsatz stehen. Mit der ISAF-Nachfolgemission am Hindukusch ende also auch das bisher Konzept, die internationale Truppe möglichst eng im täglichen Einsatz mit den afghanischen Militär-und Polizeikräften zusammenarbeiten zu lassen.

Mit dem Beschluss ihres neuen Operationskonzepts legte die NATO jetzt die Basis für weitere Planungen zur Truppenstärke, Finanzierung und Ausrüstung der neuen Mission. Rasmussen zufolge sollen im Rahmen von „Resolute Support“ außer in der Hauptstadt Kabul auch Stützpunkte in anderen Landesteilen unterhalten werden. Als Truppenstärke wurde bislang eine Größenordnung von insgesamt 8000 bis 12.000 Soldaten genannt.

Freie und faire Wahlen nicht verhandelbar

Nach dem Ministerbeschluss hatte Rasmussen noch einmal die zentralen Forderungen der NATO und Partnerländer an die Regierung in Kabul formuliert. Bei der abschließenden Pressekonferenz sagte er: „Engagement ist keine Einbahnstraße. Der Weg für eine Fortsetzung der internationalen Hilfe kann bereitet werden durch weitere afghanische Bemühungen besser zu regieren, durch die Bekämpfung der Korruption, durch die Garantie der Menschenrechte und durch faire Wahlen.“ US-Verteidigungsminister Chuck Hagel äußerte sich in Brüssel ebenfalls zu den geplanten afghanischen Präsidentschaftswahlen am 5. April 2014: „Freie Wahlen sind ein unerlässlicher Teil jedes künftigen Engagements. Eine freie und faire Wahl ist nicht verhandelbar.“

Große Angst vor Vergeltung

Die Situation der Frauen in Afghanistan hat sich seit der Vertreibung der Taliban von der Macht im Jahr 2001 deutlich verbessert. Was aber nach dem Abzug der ISAF-Truppen aus Afghanistan? Die Deutsche Welle (DW) hat vor Kurzem dazu zwei prominente Stimmen eingeholt. Und zwei Meinungen erfahren.

Polly Truscott, als Sprecherin von Amnesty International London für Südasien zuständig, sagte der DW auf die Frage nach den Folgen eines NATO-Truppenabzuges aus Afghanistan für die Menschenrechtslage: „Eine offensichtliche Folge ist die, dass sich Frauen zurückziehen, die sich für die Menschenrechte einsetzen. Sie haben mit nachlassendem Schutz Angst vor Vergeltung. Es ist dabei nicht notwendigerweise so, dass die internationalen Truppen den Schutz gewährleistet haben, aber die Frauen fürchten, dass es mit dem Abzug des internationalen Militärs zugleich politische und finanzielle Einschnitte geben wird. Frauen und andere Kämpfer für Menschenrechte sind darauf angewiesen, dass ein kontinuierlicher Druck auf die afghanischen Behörden und Machthaber ausgeübt wird. Nur so ist gesichert, dass ihre Menschenrechte und die Menschenrechte der anderen respektiert werden.“

Große Errungenschaften von Dauer

Sima Samar, afghanische Ärztin und Politikerin (2001 bis 2002 Ministerin für Frauenangelegenheiten in der Regierung Karsai), zog für den Bereich der Menschen- und Frauenrechte eine positive Bilanz. In ihrem DW-Interview sagte die Menschenrechtsaktivistin und Trägerin des Alternativen Nobelpreises: „Wir haben seit der Niederschlagung der Talibanherrschaft im Jahr 2001 mit Unterstützung der Internationalen Gemeinschaft viel erreicht. Unter den Taliban war Schulunterricht für Mädchen verboten, jetzt gehen drei Millionen Mädchen zur Schule. Natürlich haben immer noch nicht alle Mädchen Zugang zur Schulbildung, aber doch viele. Auch bei der Gesundheitsversorgung haben wir Fortschritte gemacht, wenn sie auch nicht in allen Gegenden des Landes zur Verfügung steht und nicht alle Männer und Frauen Zugang zu adäquater medizinischer Versorgung haben. Große Fortschritte gibt es bei der Meinungsfreiheit. Heute haben wir eine blühende Medienlandschaft in Afghanistan, offener und freier als in unseren Nachbarländern. Auch die Existenz der Menschenrechtskommission ist in sich eine Errungenschaft, die Kommission leistet angesichts der schwierigen Lage hervorragende Arbeit.“

Sie sei zuversichtlich, so Dr. Samar weiter, dass diese großen Errungenschaften der vergangenen Jahre von Dauer sein werden. Die Menschen in Afghanistan seien sich dieser Errungenschaften und ihrer Rechte bewusst und würden diese auch verteidigen. Nach dem Abzug der internationalen Truppen im Jahr 2001 rechnet die Vorsitzende der Afghanistan Independent Human Rights Commission (AIHRC) vor allem mit zwei Problemen: „Die Lage im Inneren wird etwas unsicherer werden, und wir werden wirtschaftliche Schwierigkeiten bekommen. Beides wird sich auf die Menschenrechtssituation und speziell auf die der Frauenrechte auswirken. Wir werden uns Herausforderungen stellen müssen, aber ich glaube nicht, dass alle Fortschritte zunichtegemacht werden. Woher ich meine Zuversicht nehme? Nun, ich habe schon mit vielen Regierungen gekämpft, einschließlich der momentanen. Die Situation hat sich deutlich verbessert, man kann sie nicht mit der Situation in den 1980er- und 1990er-Jahren vergleichen. Jetzt sind wir im 21. Jahrhundert, und die Menschen haben Zugang zu moderner Technologie. Diese Entwicklungen kann man nicht ungeschehen machen.“


Zu unserem Bildangebot:
1. Außenminister Guido Westerwelle und Entwicklungsminister Dirk Niebel (links) bekräftigten am 5. Juni im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung die deutsche Unterstützungszusage für Afghanistan auch nach dem Truppenabzug 2014.
(Foto: Achim Melde/Lichtblick/Deutscher Bundestag)

2. Treffen der NATO-Verteidigungsminister in Brüssel am 4. und 5. Juni – Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen eröffnet die Tagung.
(Foto: NATO)

3. Am 5. Juni verabschiedeten die Verteidigungsminister der NATO-Mitgliedsstaaten ein Operationskonzept für die weiteren Planungen der neuen Afghanistanmission „Resolute Support“.
(Foto: NATO)

4. US-Verteidigungsminister Chuck Hagel verlangte bei der Brüsseler NATO-Tagung freie und faire Wahlen in Afghanistan im April kommenden Jahres. Vorbereitungen für diese Präsidentschaftswahlen laufen bereits heute – das Bild entstand in Kunduz und zeigt Wahlberechtigte, die sich registrieren lassen.
(Foto: Hamedi/UNAMA)

5. Sind die Rechte der afghanischen Frauen nach dem Truppenabzug 2014 in Gefahr? Außenminister Westerwelle sprach vor dem Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung von einem „Wertegerüst“, das dem Westen fremd sei.
(Foto: Eric Kanalstein/UNAMA)


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