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Berlin. Die Leitlinien zur Neuausrichtung der Bundeswehr vom April 2012 haben die Messlatte hoch gelegt: „Aus Gründen der Fürsorge und Attraktivität ist grundsätzlich eine Einsatzsystematik zur Gewährleistung von vier Monaten Einsatz und 20 Monaten zwischen den Einsätzen für die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr anzustreben“, heißt es dort zur sogenannten „Einsatzsystematik 4/20“. Die Einsatzrealität sieht anders aus. Selbst Verteidigungsminister Thomas de Maizière räumte bei seinem letzten Afghanistanbesuch am 21. Juni ein, dass die angestrebten 20 bis 21 Monate dauernde Ruhezeit zwischen den Einsätzen „nicht immer einzuhalten“ sei, auch werde die vorgesehene Einsatzdauer von vier Monaten „nur in 60 bis 70 Prozent der Fälle nicht überschritten“.

Der Minister äußerte sich zu dem Thema „Einsatzzeiten der Bundeswehrsoldaten“ vor dem Hintergrund eines am gleichen Tag erschienenen Artikels in der Süddeutschen Zeitung (SZ). SZ-Korrespondent Christoph Hickmann, in der Berliner Parlamentsredaktion des Blattes „zuständig für Verteidigungspolitik und die Grünen“, hatte seine guten Kontakte unter anderem zu Omid Nouripour genutzt und ein Regierungsdokument erhalten, das Antworten zu den zeitlichen Belastungen der Bundeswehrangehörigen im Auslandseinsatz im Zeitraum Januar 2010 bis Anfang Dezember 2012 gibt. Angefragt hatte die Bundestagsfraktion der Grünen mit ihrem Verteidigungsexperten Nouripour, geantwortet hatte der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister der Verteidigung Thomas Kossendey.

Gebirgsjäger besonders beansprucht

Kossendeys Angaben zufolge wurde im oben genannten Zeitraum in etwa einem Viertel der Fälle die in den Leitlinien festgeschriebene Einsatzdauer von vier Monaten überschritten. Von den Soldaten, die später erneut in einen Einsatz entsandt wurden, waren lediglich 50,7 Prozent in den Genuss der vorgesehenen Regenerationszeit von 20 Monaten gekommen. Hickmann nannte die ihm vorliegenden Informationen aus dem Verteidigungsministerium „Zahlen mit einer gewissen Sprengkraft“, vor allem im Hinblick auf die Einzelauswertung. Der Korrespondent nennt ein Beispiel: „Besonders beansprucht sind demnach die Gebirgsjäger; bei ihnen wurde in knapp 70 Prozent der Fälle die Einsatzzeit von vier Monaten überschritten. Bei der Regeneration fällt das Bild noch drastischer aus: In mehr als drei Viertel der Fälle war sie für die Gebirgsjäger kürzer als die angestrebten 20 Monate.“

Grenzen der Belastbarkeit sind erreicht

Bundestagsabgeordneter Nouripour kommentiert die vorgelegten Zahlen so: „Theorie und Praxis der Einsatzsystematik liegen zulasten der Soldatinnen und Soldaten weit auseinander. Dabei ist längst bekannt, dass bei längerer Einsatzdauer die Gefahr psychischer Krankheiten massiv steigt.“ Sein Urteil ist schonungslos: „De Maizières Bundeswehrreform ist auch in puncto ,Entlastung‘ gescheitert.“

Auch der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Hellmut Königshaus, bezog Stellung. Die Zahlen bestätigten den Befund seines eigenen Jahresberichts. Es gingen nach wie vor „immer wieder dieselben Soldatinnen und Soldaten vielfach länger als vier Monate und mit deutlich zu geringen Regenerationszeiten in die Einsätze“. Gerade für Spezialisten in der Bundeswehr seien „vielfach die Grenzen der Belastbarkeit erreicht“, sagte Königshaus der Süddeutschen und weiteren Medien.

In seinem Jahresbericht 2012 hatte der Wehrbeauftragte ebenfalls deutliche Worte gewählt: „Die Teilnahme an Auslandseinsätzen der Bundeswehr gehört seit Jahren zum Dienst in den Streitkräften. Zwischen den Einsätzen braucht es Regenerationszeiten. Sie helfen, Erlebtes im Kreise von Familie und Freunden zu verarbeiten. Nach den Vorgaben des Bundesministeriums der Verteidigung sollen zwei Einsätze in der Regel durch 20 Monate Inlandsdienst getrennt sein, soweit die Theorie. Mit Sorge ist festzustellen, dass es in den Streitkräften Bereiche gibt, in denen aufgrund der hohen Spezialisierung der betroffenen, zahlenmäßig nicht ausreichenden Soldatinnen und Soldaten Regenerationszeiten von neun und weniger Monaten die Regel sind.“ Zum Problem der Mehrfachentsendung von Bundeswehrangehörigen in Auslandseinsätze warnt Königshaus in seinem Bericht, der bereits am 19. April in erster Lesung im Bundestag beraten wurde: „Mehrfache Einsätze bedeuten für die Betroffenen zunehmende Belastungen. Sie bergen die Gefahr, dass persönliche Bindungen zu Familie und Freunden zerbrechen und die Betroffenen entwurzelt werden. Hier ist ein grundsätzliches, strukturelles Gegensteuern nötig.“

Inzwischen „viel Flexibilität in die richtige Richtung“

Auch der SPD-Verteidigungsexperte Hans-Peter Bartels äußerte sich am 21. Juni zum Thema „Auslandseinsätze“. Er kritisierte ebenfalls – zum Teil heftig – die Nicht-Einhaltung der vorgesehenen Ruhezeiten von 20 Monaten für Bundeswehrsoldaten in Auslandsmissionen. Der Mitteldeutschen Zeitung sagte er: „Dass die Ruhezeiten nicht eingehalten werden, ist fast die Regel. Das wird durch die Bundeswehr-Reform und ein chaotisches Personalmanagement eher noch verschärft. Das Ziel der Reform, die Bundeswehr einsatzfähiger zu machen, wurde exakt nicht erreicht.“ Für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sei die Nicht-Beachtung der Ruhezeiten „eine Katastrophe“. Bartels räumte allerdings auch ein, bei den angestrebten Einsatzzeiten von maximal vier Monaten gebe es inzwischen „viel Flexibilität in die richtige Richtung“. Das müsse man anerkennen.

Künftig mehr Kräfte für den Einsatz

Staatssekretär Kossendey hatte gegenüber der SZ betont, der planerischen Zielvorgabe einer Einsatzdauer von vier Monaten werde bereits heute überwiegend Rechnung getragen. Die Zahlen belegten dies. Es sei zudem vorgesehen, zwischen 2014 und 2016 die „Anzahl verfügbarer Kräfte für den Einsatz“ zu erhöhen und so „die Durchhaltefähigkeit“ zu steigern. Dadurch werde sich auch „die Einhaltung der Einsatzsystematik weiter verbessern“. Bis dahin könne es allerdings noch „in einzelnen Bereichen zu Abweichungen vom Einsatzrhythmus“ kommen.

Am 21. Juni veröffentlichte das Verteidigungsministerium zudem eine „Sprechererklärung zur Berichterstattung ,Aus dem Takt marschiert‘ in der Süddeutschen Zeitung“. Darin heißt es: „Die im Artikel verwendeten Zahlen zur Einsatzbelastung beziehen sich auf einen Berichtszeitraum von Januar 2010 bis Dezember 2012. Somit werden die Auswirkungen der erst Mitte 2012 tatsächlich begonnenen Neuausrichtung der Bundeswehr nur unzureichend erfasst. Deshalb lassen sich daraus keine belastbaren Folgerungen der Auswirkungen der Neuausrichtung ableiten. Wesentliche Säule der Neuausrichtung der Bundeswehr ist es, die individuellen Einsatzbelastungen unserer Soldatinnen und Soldaten zu reduzieren und die Anzahl verfügbarer Kräfte für den Einsatz zu erhöhen. Mit der Ausplanung der neuen Truppenstrukturen und deren Realisierung im Zeitfenster 2014 bis 2016 wird erst dann die Anzahl verfügbarer Kräfte für den Einsatz erhöht und die Durchhaltefähigkeit spürbar gesteigert werden. Damit wird sich die Einhaltung der Einsatzsystematik weiter verbessern. Die Neuausrichtung wird sich zunehmend positiv bis 2016 auf die Einsatzbelastung unserer Soldaten auswirken.“


Die Bilder zu unserem Beitrag zeigen einen kleinen Ausschnitt der derzeitigen internationalen Verpflichtungen Deutschlands und der Bundeswehr:

1. Feldjäger am Übergang „Gate 1“ an der kosovarisch-serbischen Grenze. Die Aufnahme entstand im September 2012. Im Jahr davor war es an dieser Stelle zu Übergriffen auf die multinationalen KFOR-Kräfte, die mit der Räumung von Hindernissen und Blockaden im Umfeld von „Gate 1“ beauftragt worden waren, gekommen.
(Foto: Michael Müller/IMZBw-Bildarchiv)

2. Ankunft der Luftwaffenmaschine „Kurt Schumacher“ am 14. April 2013 in Bamako, Mali. An Bord knapp 20 Soldaten, die als Pionier-Ausbilder im Rahmen der Mission EUTM Mali (European Union Training Mission Mali) ihren Dienst im 1. Einsatzkontingent antreten.
(Foto: Sebastian Wilke/Bundeswehr)

3. Fregatte „Sachsen“ am 9. September 2012 beim Einlaufen in den Hafen von Dschibuti. Im Auftrag des Parlaments bekämpft die deutsche Marine seit 2008 im Rahmen der EU-Mission Atalanta die Piraterie am Horn von Afrika und schützt dort internationale See- und Handelsrouten.
(Foto: Gunnar Wolff/Marine)

4. Am 10. Mai 2013 besuchte Bundeskanzlerin Angela Merkel zum fünften Mal seit ihrem Amtsantritt die deutschen ISAF-Soldaten in Afghanistan.
(Foto: Rolf Walter/PAO Kunduz)


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