New York (USA). Die Terrororganisation al-Qaida insgesamt scheint seit der Tötung ihres Gründers Osama Bin Laden durch US-Spezialkräfte am 2. Mai 2011 im pakistanischen Abbottabad an Zusammenhalt und Durchschlagskraft verloren zu haben. Nach wie vor jedoch sieht sich der Westen durch das Netzwerk bedroht. Der Wille, Anschläge in den Vereinigten Staaten oder Westeuropa zu verüben, sei ungebrochen, warnen Geheimdienste und Terrorismusexperten. Der am 2. August dieses Jahres veröffentlichte 14. Bericht des Monitoring-Teams des Al-Qaida-Sanktionsausschusses, der 1999 vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (VN) durch Resolution 1267 eingerichtet worden ist, kommt zu folgender Lagebewertung: Die Bedrohung durch al-Qaida als globale Terrorvereinigung hat abgenommen, die Bedrohung durch die regionalen „al-Qaida-Tochtergesellschaften“ allerdings hält unvermindert an. Ebenso latent ist die Gefahr der ideologischen Beeinflussung Einzelner und damit das plötzliche Auftreten radikalisierter Einzeltäter.
Als Gründungsdatum al-Qaidas gilt der 11. August 1988. Dieses Datum verrät ein Papier, das die bosnische Polizei im März 2002 zusammen mit anderen Unterlagen bei einer Razzia in den Büros der islamistischen Unterstützerorganisation Benevolence International Foundation in Sarajevo sicherstellte. Der Fund, ein Protokoll über ein Treffen Bin Ladens mit Afghanistan-Veteranen am 11. August 1988 im pakistanischen Peshawar, dokumentiert erstmals die Bezeichnung „al-Qaida“. An diesem Tag im August vor 25 Jahren schwor der historische Führer des Terrornetzwerkes seine Gefolgsleute auf die kommende Auseinandersetzung mit den „Ungläubigen“ ein.
Mit der Ausschaltung Osama Bin Ladens in der Nacht vom 1. auf den 2. Mai 2011 in Abbottabad durch US-Elitesoldaten vom Navy Seal Team Six schien die Hydra besiegt. Inzwischen aber zeigt sich das Terrornetzwerk in manchen Regionen sehr vital.
Über die Gesamtzahl der al-Qaida-Anhänger gibt es nur vage Schätzungen. Yassin Musharbash, Arabist, Redakteur und Buchautor („Die neue al-Qaida“) äußerte unlängst die Vermutung, es gebe „nicht mehr als 10.000 Menschen auf der Welt, die sich selbst als al-Qaida-Mitglied betrachten“. Die Zahl der Kader schätzt der Journalist auf rund 5000. Darüber hinaus gebe es „eine breite Zahl von Unterstützern und Hilfsgruppen“. Andere Fachleute meinen, derzeit lebe im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet lediglich ein „harter Kern“ von nur noch rund 300 Führungskräften um Bin Ladens offiziellen Nachfolger Aiman Muhammed Rabi al-Zawahiri.
In den westlichen Staaten hat die Zahl der al-Qaida-Anschläge durch die Erfolge der USA in der Terrorismusbekämpfung deutlich abgenommen. Zahlreiche al-Qaida-Führer wurden mit gezielten Angriffen durch Drohnen getötet: der Hassprediger Anwar al-Awlaki, Abu Hamza Rabi’a (einst „Nummer 3“ der Organisation), Abu Laith al-Libi (einer der al-Qaida-Spitzenkommandeure hinter Osama Bin Laden und dessen damaligem Stellvertreter al-Zawahiri), Baitullah Mehsud (Drahtzieher des Anschlages auf das Marriott-Hotel im pakistanischen Islamabad), Mustafa Abu l-Yazid, Sheikh Fateh, Atiyah Abd Al Rahman, Hakimullah Mehsud (Führer der Tehrik-e-Taliban), Badr Mansoor (mutmaßlicher Koordinator von al-Qaida-Anschlägen), Abu Yahya al-Libi und andere.
Die Bilanz des US-Drohnenkrieges gegen den Terror führte zu der trügerischen Annahme, die Gefahr durch al-Qaida sei endgültig eingedämmt. Doch anscheinend ist das Gegenteil der Fall. Der Journalist Musharbash äußerte sich im Mai dieses Jahres gegenüber der Deutschen Welle: „Al-Qaida ist in der islamischen Welt um ein Hundertfaches aktiver als außerhalb. Es gibt aussagekräftige Studien, die zeigen, dass al-Qaida achteinhalb Mal mehr Muslime tötet als Nichtmuslime.“ Das Terrornetzwerk erlebe im Zuge der immer problematischer werdenden Arabischen Rebellion einen zweiten Frühling, erklärte Musharbash. Man dürfe die Gruppe nicht unterschätzen. Al-Qaida sei immer wieder „an entscheidenden Wegmarken in der Lage gewesen, sich neu zu erfinden“.
Die unabhängigen Experten der Vereinten Nationen zeichnen in ihrem Bericht trotz mancher Abwehrerfolge der Staatengemeinschaft ein immer noch beunruhigendes Bild der internationalen Terroristenszene.
Al-Qaida und seine „Ableger“ seien zwar nicht mehr als das „große Ganze“ zu sehen. Die einzelnen Gruppierungen unterschieden sich mittlerweile deutlich voneinander, seien allerdings durch die Ideologie und die Verpflichtung zu terroristischer Gewalt locker miteinander verbunden. Eine inzwischen fragmentierte und geschwächte al-Qaida habe sich – allen Hoffnungen des Westens zum Trotz – noch nicht aufgelöst, auch wenn Bin Ladens offizieller Nachfolger Zawahiri bislang wenig Qualitäten gezeigt habe, die Organisation und ihre „Töchter“ zu einigen beziehungsweise zu führen.
Allerdings, und hier warnt der VN-Bericht mit Nachdruck, bedeuteten die offensichtlich beschränkten Fähigkeiten und die nachlassende Anziehungskraft al-Qaidas nicht, dass nun bald die Zeit der Bedrohung durch Terroranschläge beendet sein könnte. Im Gegenteil: Einzeltäter und kleine Zellen, die mit einem der al-Qaida-Ableger verbunden sind, bemühten sich mehr denn je, neue Möglichkeiten im Hinblick auf Anschlagsziele, Taktiken und Technologien zu finden.
In dem Report, der dem Sicherheitsrat von Australiens VN-Botschafter Gary Francis Quinlan übergeben wurde (Quinlan ist noch bis zum 31. Dezember 2013 Vorsitzender des VN-Nebenorgans „Al-Qaida-Sanktionsausschuss“), werden drei Entwicklungslinien der aktuellen Terrorbedrohung genannt.
Erstens: Die Terrorpropaganda im Internet dauert an und hat mittlerweile einen technisch und inhaltlich hohen ausgereiften Grad erreicht – damit nimmt auch die Gefahr der Selbstradikalisierung von Nutzern dieser Webauftritte ständig zu.
Zweitens: Die jüngsten Terroranschläge in Boston, London und Paris zeigen überdeutlich die anhaltende Bedrohung durch Einzeltäter oder Kleingruppen. In Boston verübten die tschetschenischen Brüder Zarnajew am 15. April 2013 einen Bombenanschlag auf den Stadtmarathon, bei dem drei Menschen getötet und 264 weitere verletzt wurden. Im Südosten Londons im Stadtteil Woolwich ermordeten zwei junge Männer nigerianischer Abstammung am 22. Mai 2013 auf offener Straße einen britischen Soldaten mit Hieb- und Stichwaffen. Im Geschäftsviertel La Défense im Pariser Westen wurde am 25. Mai 2013 ein französischer Armeeangehöriger von einem jungen Mann niedergestochen, überlebt aber den Anschlag. In allen drei Fällen handelte es sich bei den Tätern um „Anhänger des radikalen Islam“.
Drittens: Durch den anhaltenden Bürgerkrieg in Syrien lockt al-Qaida dort – ähnlich wie einst im Irak – Hunderte Freiwillige aus zahlreichen Ländern an. Inzwischen sind es viele Glaubenskämpfer vom Balkan, die die Reihen der Dschihadisten in Syrien verstärken. (Die in London erscheinende Zeitung „Asharq Al-Awsat“, größte arabischsprachige Tageszeitung der Welt, meldete im Juli unter Berufung auf die Freie Syrische Armee, al-Qaida wolle in nächster Zeit die Gründung eines „islamischen Staates“ im Norden Syriens verkünden).
Über die dezimierte Führungsriege der „Mutter-al-Qaida“ im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet sagt der Bericht der Vereinten Nationen, sie habe sich seit gut einem halben Jahr mehr und mehr von alter Stärke entfernt. Zwar veröffentliche dieser Seniorführungszirkel (um al-Zawahiri) auch weiterhin seine Statements, ansonsten aber sei er eher unfähig, Operationen direkt durchführen zu lassen und diese zentral zu steuern und zu kontrollieren. Verschiedene gescheiterte Versuche, interne Konflikte mit einigen Ablegern zu beenden, zeugten zudem von der beschränkten Machtfülle des Bin-Laden-Nachfolgers.
Al-Qaidas „Tochtergesellschaften“ verfolgten, so der Bericht weiter, in der Regel eigene Ziele, nutzten dabei aber weiterhin die Marke „al-Qaida“. Die auf al-Qaida ausgerichtete Ideologie der verschiedenen Gruppen berge nach wie vor eine große „Ansteckungsgefahr“, weltweit befördert durch die hoch entwickelte Propagandamaschinerie der Terrorvereinigung. Obwohl der al-Qaida-Führungskern heute eine deutlich reduzierte Fähigkeit besitze internationale Angriffe zu planen, könnten seine Rhetorik und seine Aufrufe zu Terroranschlägen doch jederzeit weltweit radikalisierte, gewaltbereite Individualtäter mobilisieren, egal, wo diese sich aufhielten.
Nach Ansicht der VN-Spezialisten hält der Trend zu regionalen beziehungsweise lokalen al-Qaida-Gruppierungen weiter an. Einige konnten in ihren Bereichen starke Wurzeln schlagen, weil sie aus nationalen Konflikten und Spannungen – beispielsweise in Syrien und im Jemen – die entsprechenden Vorteile zogen und weiterhin ziehen. Andere verloren an Einfluss, sei es durch militärische Auseinandersetzungen, politische Verhandlungen oder durch eine Mischung aus beiden Faktoren. In Mali und Somalia beispielsweise hat das militärische Vorgehen des Westens, unterstützt von afrikanischen Kräften, den Operationsraum der Terrororganisationen erheblich beschnitten. Im Süden der Philippinen etwa konnten Friedensgespräche den Einfluss des dortigen al-Qaida-Ablegers inzwischen zurückdrängen.
Trotz aller Erfolge im weltweiten Kampf gegen den Terror hat sich die Gefahr, die insgesamt von diesen al-Qaida-Gruppierungen ausgeht, keineswegs verringert. Die „Ableger“ bleiben auch weiterhin innerhalb ihrer Operationsgebiete eine äußerst ernsthafte Bedrohung für Zivilisten, nationale Regierungen und ausgesuchte Ziele innerhalb der internationalen Gemeinschaft.
Der zweite Teil dieses Beitrages über die Entwicklung des Terrornetzwerkes al-Qaida aus Sicht der Vereinten Nationen folgt in Kürze.
Unsere Bildfolge zum Thema „Terrornetzwerk al-Qaida“ (Teil 1) zeigt:
1. New York, 11. September 2001 – Osama Bin Laden und seine Gefolgsleute haben die USA angegriffen. Die zerstörten Zwillingstürme des World Trade Centers markieren den Beginn einer langen Auseinandersetzung mit dem globalen Terror. Die Aufnahme zeigt die Überreste des Südturms.
(Foto: Jim Fabio/U.S. Air Force)
2. Das Bild, ebenfalls entstanden am 11. September 2001, zeigt einen erschöpften Angehörigen der US-Nationalgarde in der New Yorker Trümmerwüste.
(Foto: Jim Fabio/U.S. Air Force)
3. Anfang des Jahres 2002: Die Jagd auf al-Qaida-Chef Bin Laden, seine Männer und Unterstützer wie die afghanischen Taliban ist eröffnet. US-Spezialkräfte beteiligen sich im Rahmen der Operation „Anaconda“ mit Pick-up-Fahrzeugen – hier bei Gardez in der ostafghanischen Provinz Paktia – an der Suche nach den Radikalislamisten.
(Foto: Paula Bronstein)
4. Diese Aufnahme entstand im Sommer 2002 in Narizah in der ostafghanischen Khowst-Provinz: Spezialkräfte der U.S. Army suchen nach al-Qaida- und Taliban-Kämpfern.
(Foto: Wally Santana-Pool)
5. Tag der Erlösung – in der Nacht vom 1. auf den 2. Mai 2011, gut zehn Jahre nach den verheerenden Terroranschlägen der al-Qaida in den USA, spürt ein Team der U.S. Navy-Seals Osama Bin Laden in der nordpakistanischen Stadt Abbottabad auf und tötet ihn. Präsident Barack Obama und sein engster Mitarbeiterstab verfolgten die Jagd auf den Topterroristen im Situation Room des Weißen Hauses.
(Foto: Peter Souza/White House)
6. Sofort nach Bekanntwerden der Tötung Bin Ladens kam es in den USA zu unbeschreiblichen Freudenszenen. Das Bild des Militärfotografen wurde in der Nacht des 2. Mai 2011 am Ground Zero in New York gemacht. Es zeigt die beiden Reservisten des U.S. Marine Corps Mike Demo und Bill Cortese (rechts). Cortese hatte am 11. September 2001 zwei Angehörige in den Türmen des World Trade Centers verloren.
(Foto: Randall Clinton/U.S. Marine Corps)
7. Die Jagd auf Osama Bin Laden ist zu Ende.
(Foto: amk)