Berlin. Es ist nicht nur das brisante Thema „Euro Hawk“, das in diesen Tagen und Wochen Verteidigungsminister Thomas de Maizière und seinem Ministerium zu schaffen macht. Auch ein Bericht der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) vom 22. Juni eröffnete eine weitere Front und zwang die politische Leitung des Hauses in die Offensive. Krisenkommunikation. Die FAS hatte eine zu diesem Zeitpunkt noch unveröffentlichte Antwort der Bundesregierung vom 17. Juni auf eine Kleine Anfrage der Bundestagsfraktion DIE LINKE zur militärischen Drohnen-Strategie der Bundesregierung aufgegriffen und sich unter anderem mit den dort veröffentlichten Verlustzahlen befasst. Dabei war die Zeitung auf eine dicke Ungereimtheit gestoßen.
Laut dieser Regierungsantwort gingen in der Bundeswehr von 871 betriebenen UA (Unmanned Aircraft/Unbemanntes Luftfahrzeug) aller Teilstreitkräfte 124 durch Flugunfälle verloren. Dies, so die Bundesregierung, schließe auch alle Fälle mit ein, in denen UA „bei der systemkonformen Landung so beschädigt wurden, dass eine Reparatur nicht mehr wirtschaftlich war“. Die FAS erinnerte vor dem Hintergrund dieser Zahlen an zwei frühere Auskünfte des Verteidigungsministeriums, die sich erheblich von den aktuellen Zahlen unterscheiden. Im März 2011 soll das Verteidigungsministerium auf Anfrage der LINKEN den Absturz von lediglich zwölf unbemannten Luftfahrzeugen zugegeben haben, im Februar 2012 waren den LINKEN von ministerieller Seite 17 Abstürze eingestanden worden.
Andrej Hunko, Bundestagsabgeordneter DER LINKEN, äußerte am 21. Juni in einer Presseerklärung unter anderem: „Die Bundeswehr verfügt über 871 Drohnen unterschiedlicher Größe. Allerdings sind bereits 124 Flugroboter abgestürzt, darunter allein 52 vom Typ LUNA. Auf frühere Anfragen von mir und meinem Kollegen Paul Schäfer wurde jedoch geantwortet, es seien höchstens acht LUNA-Drohnen vom Himmel gefallen. Hierzu erwarte ich eine umgehende Stellungnahme des Verteidigungsministeriums.“ Er müsse davon ausgehen, dass das Parlament wissentlich belogen wurde, erklärte Hunko auch gegenüber der FAS.
Omid Nouripour, Bundestagsabgeordneter von BÜNDNIS 90/Die Grünen und sicherheitspolitischer Sprecher seiner Fraktion, sagte zu den Drohnen-Zahlen gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters: „Hier wird vertuscht und am Ende versucht das Ministerium, sich mit Wortklaubereien aus der Affäre zu ziehen.“ Die FAS zitierte ihn ebenfalls: „Für die falsche Information des Parlaments ist der Minister verantwortlich. Es ist eindeutig, dass Thomas de Maizière das Parlament und die Öffentlichkeit hinter die Fichte geführt hat.“
Rainer Arnold, Bundestagsabgeordneter und Verteidigungsexperte der SPD, gab gegenüber der FAS folgendes Statement ab: „Für mich nährt dieser Vorgang den Verdacht, dass der Minister alle Informationen unterdrückt hat, die seiner Absicht zuwiderliefen, zügig Kampfdrohnen zu beschaffen.“
Das Verteidigungsministerium äußerte sich – ebenfalls am 22. Juni – zum FAS-Artikel „Jede siebte Bundeswehr-Drohne ist abgestürzt“ wie folgt: „In den genannten Zahlen waren nicht nur – wie bei Antworten auf vergangene Anfragen – Abstürze im engeren Sinne, sondern auch sogenannte ,systemkonforme Landungen‘ enthalten, die aus Sicherheitsgründen ausgelöst werden, sobald eine Störung, wie zum Beispiel ein Bedienfehler oder Funkübertragungsfehler, auftritt. In solchen Fällen löst automatisch ein Fallschirm aus und das Fluggerät kommt kontrolliert zur Landung. Die überwiegende Anzahl der in der parlamentarischen Antwort genannten Fälle bezieht sich im Übrigen auf kleine Systeme, wie zum Beispiel die LUNA.“ Weiter heißt es in der Sprechererklärung: „Die Vorwürfe, dass das Verteidigungsministerium den Bundestag jahrelang über das Ausmaß von Drohnen-Unfällen bei der Bundeswehr im Unklaren gelassen hätte und Abgeordnete falsch informiert hätte, sind konstruiert und falsch.“
Christian Schmidt, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Verteidigung, hatte bereits am 7. Juni in einem Schreiben an den LINKEN-Abgeordneten Paul Schäfer darüber informiert, dass „mit Stand 27. Mai 2013“ mit dem UAS (Unmanned Aircraft System) LUNA insgesamt 6949 Flüge durchgeführt worden sind. Bis zu diesem Zeitpunkt seien 52 UAS LUNA abgestürzt, davon seien 26 Abstürze technisch, elf Abstürze durch Bedienungs-/Organisationsfehler sowie neun umweltbedingt begründet gewesen. Die Ursache von sechs LUNA-Abstürzen sei unbekannt.
Am 26. Juni nun veröffentlichte das Verteidigungsministerium eine „Vollständige Übersicht zum Bestand/Verlust von Drohnen der Bundeswehr“. Darin werden die UA-Gesamtverluste mit insgesamt 137 angegeben. 35 unbemannte Bundeswehr-Luftfahrzeuge gelten als „vermisst“, 102 als „zerstört“ (52 davon zerstört durch „Absturz“). Zur Erinnerung: In der Regierungsantwort vom 17. Juni 2013 war davon die Rede gewesen, dass 124 unbemannte Luftfahrzeuge der Bundeswehr durch Flugunfälle verloren gegangen seien.
Die ministerielle Aufstellung vom 26. Juni verzeichnet folgende Systemverluste: ALADIN (Abbildende Luftgestützte Aufklärungsdrohne im Nächstbereich; Gewicht etwa 3,20 Kilogramm): 30 Exemplare/KZO (Kleinfluggerät für Zielortung; Gewicht 168 Kilogramm): 18 Exemplare/LUNA (Luftgestützte Unbemannte Nahaufklärungs-Ausstattung; Gewicht etwa 40 Kilogramm): 52 Exemplare/MIKADO (Mikro-Aufklärungsdrohne im Ortsbereich; Gewicht 1,35 Kilogramm): 4 Exemplare/HERON 1 (allwetterfähige Aufklärungsdrohne, die zur Klasse der MALE-Drohnen – Medium Altitude, Long Endurance – zählt; Gewicht etwa 1,1 Tonnen): 2 Exemplare/EURO HAWK (hochfliegendes Langstrecken-Aufklärungssystem, Beschaffung abgesagt; Gewicht etwa 14,6 Tonnen): O Exemplare/CL 289 (Artillerieaufklärungssystem, 2009 außer Dienst gestellt; Gewicht etwa 340 Kilogramm): 31 Exemplare.
Insgesamt verfügt die Bundeswehr laut Aufstellung des Ministeriums (Stand 25. Juni 2013) derzeit noch über 582 unbemannte Luftfahrzeuge: 290 ALADIN, 43 KZO, 81 LUNA, 164 MIKADO, 3 HERON 1, 1 EURO HAWK.
Die Bundestagsfraktion DIE LINKE gibt sich auch mit der veröffentlichten Detailübersicht des Presse- und Informationsstabes des Ministeriums nicht zufrieden. Der Abgeordnete Schäfer in einer am 26. Juni erschienenen Pressemitteilung: „Das Verteidigungsministerium verheddert sich zunehmend in Widersprüchen und Ungereimtheiten. Der Aufklärungswert der nun vorgelegten Absturzliste liegt nahe Null.“ Die vorgelegte Übersicht sei schlicht unzulänglich, so der Parlamentarier weiter. Es gebe nach wie vor Fälle, in denen das Verteidigungsministerium bisher von „Absturz“ gesprochen habe, die in der Übersicht aber nicht als Absturz auftauchten. Darüber hinaus diene die etwas eigenwillige Definition des Begriffs „Absturz“ offensichtlich dem Kleinrechnen. Letztendlich wisse auch niemand, seit wann diese Absturzdefinition verwendet wird.
Die Fraktion DIE LINKE will nun eine detaillierte Aufklärung über jeden einzelnen Flugunfall anfordern und „eine eigene nachvollziehbare Absturzstatistik“ erstellen. Man könnte meinen, Wahlen stehen an …
Anmerkung: Die Luftwaffe verwendet den Begriff „Drohne“ offiziell nicht mehr. Dafür gelten ab März 2012 im Zusammenhang mit dem Thema „Unbemannte Luftfahrzeuge“ klare Definitionen.
UA (Unmanned Aircraft): Aerodynamisch beziehungsweise aerostatisch fliegendes Luftfahrzeug ohne Besatzung an Bord, dessen Flugführung ferngeführt mit unterschiedlichem Grad an Automatisierung oder ferngesteuert erfolgt. Es ist mehrfach verwendbar und für eine oder mehrere Einsatzrollen ausgelegt. Unbemannte Luftfahrzeuge tragen missionsabhängige Nutzlasten, die auch letale und nicht-letale Wirkmittel umfassen können.
UAS (Unmanned Aircraft System): Gesamtheit aller notwendigen Kräfte und Mittel, die erforderlich sind, um den Einsatz von unbemannten Luftfahrzeugen inklusive der jeweiligen Nutzlast zu gewährleisten. Sie bestehen neben dem Luftsegment aus bodengebundenen, see- oder luftgestützten Führungs- und Steuersegmenten für das unbemannte Luftfahrzeug sowie dessen Nutzlast und weiteren Unterstützungssegmenten.
Zum Bildangebot:
1. Nachtstart einer KZO-Drohne im Feldlager Kunduz in Nordafghanistan zu einer Aufklärungsmission.
(Foto: Walter M. Wayman/PrInfoZ Heer)
2. Einsatz einer Bundeswehr-Aufklärungsdrohne LUNA in Afghanistan.
(Foto: ISAF)
3. Der Hintergrund unserer Infografik (© mediakompakt 06.13) zeigt ein Luftbild der afghanischen Hauptstadt Kabul.
(Drohen-Fotos, von oben: Björn Trotzki/IMZBw-Bildarchiv, Rheinmetall, Weber/IMZBw-Bildarchiv, PrInfoZ Heer, IMZBw-Bildarchiv, Ingo Bicker/PrInfoZ Luftwaffe, PrInfoZ Heer)
Das Verteidigungsministerium hat in seiner Übersicht zum Bestand/Verlust von Bundeswehr-Drohnen noch drei Hinweise für den Gebrauch der Statistik angefügt. Zum Begriff „Absturz“ heißt es dort: „Ein Unfall wird als ,Absturz‘ bezeichnet, wenn durch einen unkontrollierbaren Flugzustand das Luftfahrzeug am Boden zerstört wurde.“ Zum Begriff „zerstört“ wird erklärt: „Ein Luftfahrzeug ist derart beschädigt, dass es ausgesondert wird; Absturz ist Teilmenge von ,zerstört‘.“ Zum Begriff „vermisst“: „Ein Luftfahrzeug konnte nicht wieder aufgefunden werden.“