Fürstenfeldbruck. „Es ist keine Übertreibung, wenn man sagt: ,Die Hölle von Stalingrad‘. Fürchterlich, ein Gräuel der Verwüstung. Bis jetzt muss ich meinem Herrgott danken, dass er mich heil durch all die Gefahren hindurch geführt hat.“ Der Feldpostbrief des Gefreiten Matthias B. vom 1. Oktober 1942 ist eines jener Selbstzeugnisse, die einen winzigen Augenblick auf die größte Schlacht des Zweiten Weltkrieges erlauben. Einen Augenblick auf Stalingrad, auf den Untergang der 6. Armee, auf die entscheidende psychologische Zäsur des Gesamtkrieges.
Soldaten schrieben ihren Angehörigen – Angehörige schrieben den Soldaten. Während der Zweiten Weltkrieges sind etwa 30 bis 40 Milliarden Sendungen im deutschen Postbereich befördert worden, das Meiste ging verloren oder wurde nach Kriegsende vernichtet. Nur noch etwa 120.000 bis 150.000 Feldpostbriefe, so schätzen Wissenschaftler, können heute als Zeitdokument bewahrt werden. Es ist der Bruchteil einer einst gigantischen Kommunikation zwischen Heimat und Front.
Am 24. Oktober war der Ludger-Hölker-Saal der Offizierschule der Luftwaffe in Fürstenfeldbruck bis auf den letzten Platz besetzt, als sich der Germanist und Historiker Dr. Jens Ebert in seinem Vortrag „Feldpostbriefen aus Stalingrad“ mit der Denkweise, Wahrnehmung und Gefühlslage verzweifelter Soldaten in auswegloser Lage befasste. Seine Zuhörer waren die Offizieranwärter des 108. und 109. Offizierlehrgangs der Luftwaffe.
Hauptmann Jochen Maurer fasste seine Eindrücke von der Veranstaltung später in einem redaktionellen Beitrag für die Offizierschule zusammen. Er schreibt: „Die Soldaten in Stalingrad vertrauten ihre Gedanken und Gefühle unzähligen Briefen an ihre Familie und Freunde an, die sie mit der Feldpost von Russland nach Hause schickten. In einer Zeit ohne Internet oder Handy bildeten Feldpostbriefe somit die einzige Verbindung der Soldaten zur Außenwelt. Sie wurden neben den für das Überleben wichtigen Lebensmitteln zur ,geistigen Verpflegung‘ der Eingeschlossenen. Angesichts des heutigen Wissens um die Schlacht und ihren Verlauf selbst verwundert es kaum, dass Themen wie Hunger, Kälte oder Läuse die bestimmenden Inhalte der Feldpostbriefe waren. Gleichzeitig flüchtete sich die Mehrheit der Briefeschreiber mit Hilfe der Feldpost in eine Traumwelt, in der sie versuchten, den Schrecken des Krieges zu entkommen. Verwundungen oder der Tod kamen fast nie zur Sprache oder wurden verdrängt. Der Krieg sollte aus den Briefen ausgesperrt werden, nicht auch noch Besitz von dieser letzten, heilen Welt ergreifen. Somit … sind es bis heute gerade die Feldpostbriefe der einfachen Soldaten, die einen einprägsamen und überwiegend unverfälschten Blick auf den Zweiten Weltkrieg und die Lebenswelt der Soldaten im Krieg ermöglichen.“
Privatkorrespondenzen historisch bedeutsamer Persönlichkeiten waren schon immer ein beliebtes Objekt der Forschung. Die Namenlosen blieben lange Zeit vergessen. Quod non est in actis, non est in mundo – was nicht in den Akten ist, ist nicht in der Welt. Erst in den 1960er-Jahren besann sich die Forschung, unter anderem in Gestalt der historischen Sozialwissenschaft, auch auf die kleinen Spuren im Räderwerk der Geschichte. So wurden von zahlreichen Wissenschaftsdisziplinen schließlich – spät, aber nicht zu spät – auch Feldpostbriefe und Kriegserinnerungen aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges als eine der wertvollsten Quellen für die Innenansicht eines Systems entdeckt. Die Diplom-Medienberaterin Katrin Anja Kilian beispielsweise promovierte 2001 mit der Dissertation „Das Medium Feldpost als Gegenstand interdisziplinärer Forschung“. Ihre Doktorarbeit leitete die Wissenschaftlerin ein mit dem Satz eines Obergefreiten, der am 31. März 1945 schrieb: „Wie schrecklich schwer ist doch das Schicksal jedes einzelnen Soldaten in diesem grässlichen Krieg, und wie wenig wird an den unbekannten Soldaten gedacht, an Jedermann.“
Der Gast der Offizierschule der Luftwaffe, Dr. phil. Jens Ebert, hatte 1989 mit einer Arbeit zu literarischen und authentischen Texten über die Stalingrad-Schlacht promoviert. Zwei Jahre zuvor, im Sommer 1987, war dem Berliner ein Überraschungsfund gelungen: bei einer Reise in die vormalige Frontstadt, dem heutigen Wolgograd, hatte er in einem vergessenen Winkel des Kriegsmuseums einige Holzkisten, vollgepackt mit deutschen Soldatenbriefen und -tagebüchern, entdeckt. Die Korrespondenz und Erinnerungen waren der Roten Armee mit der Kapitulation der Überreste der 6. Armee und ihrer Verbündeter in die Hände gefallen.
Bis zu Eberts Entdeckung galten authentische Aufzeichnungen der Stalingrad-Kämpfer als Seltenheit: Briefe, Tagebücher und Notizen waren größtenteils in der Hölle an der Wolga mit untergegangen – verbrannt, verweht, verschollen. Eine Fülle an weiterem Material erhielt die deutsche Geschichtswissenschaft schließlich erst nach dem Ende der UdSSR, als sich allmählich im Osten die Archive öffneten. Nach einem Aufruf des früheren Außenministers Hans-Dietrich Genscher stellten zudem im Jahr 2002 Angehörige von Stalingrad-Gefallenen und -Vermissten dem Deutschlandfunk rund 1000 Feldpostbriefe zur Verfügung.
Bereits im Jahr 2000 hatte Katrin Anja Kilian gemeinsam mit Professor Dr. Clemens Schwender, Lehrer für Medienpsychologie und Medienmanagement an der Berliner Hochschule der populären Künste (hdpk), ein Projekt zur Sammlung von Feldpostdokumenten aus dem Zweiten Weltkrieg begonnen. Die Initiative dazu war von Professor Dr. Ortwin Buchbender ausgegangen, dem ehemaligen Leitenden Wissenschaftlichen Direktor der Akademie der Bundeswehr für Information und Kommunikation (AIK) in Strausberg. Kilian und Schwender werden heute auch von Jens Ebert unterstützt. Kooperationspartner der Wissenschaftler sind das Museum für Kommunikation Berlin und die Technische Universität Berlin. Das Feldpost-Archiv im Museum für Kommunikation ist mit seinen rund 100.000 Dokumenten im Bestand und 1200 Briefen heute eine der bedeutendsten Einrichtungen dieser Art (www.feldpost-archiv.de).
„Wie schrecklich schwer ist doch das Schicksal jedes einzelnen Soldaten in diesem grässlichen Krieg, und wie wenig wird an den unbekannten Soldaten gedacht, an Jedermann.“ Geschrieben hat diesen Satz Heinrich Böll, der spätere Literatur-Nobelpreisträger. Böll, der sich auch in der Friedensbewegung engagierte, hat in vielen seiner Werke den Krieg thematisiert. Auch er zog einmal als „Jedermann“ ins Feld und schrieb 1939 begeistert: „Was schreibt der deutsche Soldat nach Hause? Dass er sich unsagbar glücklich fühlt, dienen zu dürfen an diesem großen Werk, das Europa ein anderes Gesicht geben wird. Dass die Stimmung fabelhaft, das Essen reichlich und schmackhaft und die Löhnung bezaubernd ist. Das schreibt der deutsche Soldat nach Hause.“
Der Obergefreite Böll hatte vergleichsweise „Glück“ gehabt: Von den 68 Monaten des Krieges brachte er nur sieben im Osten zu, davon einen „an der Front“. Dabei aber blieb ihm nicht erspart, in die „absolute Hölle des Krieges“, ins Erdloch – wörtlich „im Felde“ – zu müssen. Er schreibt in einem Feldpostbrief an seine spätere Frau: „Ich kann nie mehr das Soldatenleben bedenken, ohne die absolute Wirklichkeit des Krieges zu spüren, wie ich sie ,vorne’ erlebt habe.“ Von da an bekennt Böll in sich nur noch Hass: „Wie maßlos ich dieses Leben hasse, hasse, hasse, aus vollster Seele, …die tägliche und stündliche maßlose Quälerei aller dieser Männer, die in acht Tagen vielleicht den Heldentod sterben müssen! Ist es nicht eine maßlose Grausamkeit, ist es nicht wirklich absolut menschenunwürdig?“…
Der Kampf um Stalingrad war eine der bedeutendsten Schlachten des Zweiten Weltkrieges. Nach der Niederlage vor Moskau im Winter 1941/42 war es Hitlers Absicht, mit einem Großangriff im Süden der Ostfront die Sowjetunion doch noch niederzuwerfen. Mit diesem Vorstoß sollte zum einen das strategisch wichtige Rüstungs- und Verkehrszentrum an der Wolga erobert, zum anderen die Erdölfelder im Raum Baku im Kaukasus besetzt werden.
Die Schlacht um Stalingrad, die sich zwischen Hitler und Stalin in ihrem Verlauf zu einer „Prestigefrage“ entwickeln sollte, begann am 23. August 1942. Teile der 6. Armee drangen in den Nordteil der Stadt ein und eroberten bis Mitte November fast neun Zehntel der Metropole. Während sich deutsche Stoßtrupps in erbittert geführten Häuser- und Straßenkämpfen verschlissen, führte die sowjetische Südwest-Front frische Kräfte nach Stalingrad heran. Am 19. November 1942 begann sie im Nordwesten und im Süden eine zangenförmige Großoffensive. Bereits drei Tage später führte der Angriff zur Einschließung der gesamten 6. Armee und ihrer Verbündeten. Eingekesselt wurden so rund 250.000 Deutsche und mehr als 30.000 rumänische und russische Hilfssoldaten. Obwohl der deutsche Befehlshaber, Generaloberst (später Generalfeldmarschall) Friedrich Paulus, Stalingrad aufgeben und nach Westen durchbrechen wollte, erhielt er von Hitler den Befehl, auszuhalten und auf Unterstützung von außen zu warten. Ein Vorstoß der Heeresgruppe Don zur Rettung scheiterte.
Am 10. Januar 1943 begannen die sowjetischen Truppen mit der „Zerschlagung des Kessels“. Am 31. Januar und 2. Februar 1943 ergaben sich die eingeschlossenen Truppen. Den Kämpfen um Stalingrad, der Kälte oder dem Hunger fielen zwischen 100.000 und 145.000 deutsche und mit ihnen verbündete Soldaten um Opfer. 29.000 bis 45.000 Verwundete, Kranke aber auch Gesunde wurden aus dem Kessel ausgeflogen. Rund 91.000 Mann gerieten in sowjetische Kriegsgefangenschaft, aus der nur 6000 Überlebende bis 1956 nach Deutschland zurückkehrten.
Zu unseren Bildern:
1. Ein Rotarmist in Stalingrad am Tag der deutschen Kapitulation.
(Foto: Bundesarchiv)
2. Der Historiker Jens Ebert an der Offizierschule der Luftwaffe.
3. Dr. Ebert bei seinem Vortrag „Feldpostbriefe in Stalingrad“.
(Fotos: Michael Kistler/OSLw)