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Brüssel (Belgien)/Potsdam/Brindisi (Italien). Irgendwo in Afrika, im Nordosten des Kontinents, in einem Gebiet dreimal so groß wie Deutschland, irgendwo hier warten die Menschen auf die Hilfe der Vereinten Nationen, der Europäer. Banden bekriegen sich, die schweren Konflikte greifen auf Nachbarländer über, der Zivilbevölkerung droht eine Katastrophe. Die EU stellt sich diesem Desaster. 15.000 Soldaten und 25.000 Tonnen Material müssen nach Afrika transportiert werden – über eine Distanz von 6000 Kilometern…

Dies ist die grobe Inhaltsstruktur eines Drehbuches, das vor kurzem einer komplexen Übung der Europäischen Union (EU) zugrunde lag. Mit „Multilayer 2012“, organisiert vom Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) gemäß den Bestimmungen des Vertrages von Lissabon, wurden erstmals die verschiedenen Ebenen der Krisenreaktion und des Krisenmanagements der EU erfasst. Drehbuchinhalte und Handlungsstränge wurden bei „Multilayer 2012“ von einer speziellen Software fortgeschrieben. Sie stellte komplexe Entwicklungen zeitgleich für alle drei an der Übung beteiligte Ebenen – für die beiden strategischen Hauptquartiere in Brüssel (Civil Planning and Conduct Capability, CPCC) und Potsdam (Operation Headquarters, OHQ) sowie für das untergeordnete operative Hauptquartier im süditalienischen Brindisi (Force Headquarters, FHQ) – dar. Alle Beteiligten arbeiteten mit ein und derselben Datenbank und konnten jederzeit in Telefon- und Videokonferenzen miteinander kommunizieren.

Bewährte Verfahren optimieren

Insgesamt kamen im Zeitraum 1. bis 26. Oktober mehr als 500 Soldaten, Sicherheitskräfte und zivile Experten aus 23 Nationen zum Einsatz, die das Szenario in den virtuellen Ländern „Nusia“ und „Recuria“ zur Realisierungsreife führten. Das OHQ in Potsdam war dabei für die militärstrategische Umsetzung der sicherheitspolitischen EU-Vorgaben aus Brüssel verantwortlich und hatte – quasi als Scharnier – dafür Sorge zu tragen, dass das FHQ im italienischen Brindisi die Operation in den jeweiligen nordostafrikanischen Übungsländern mit zwei EU-Battlegroups (fiktiv) umsetzen konnte. Die Potsdamer Führungsvorgaben wurden per Satellit in die italienische Hafenstadt übermittelt.

Dr. Agostino Miozzo, Exekutivdirektor für Krisenreaktion und operative Koordinierung im EAD, leitete „Multilayer 2012“ von Brüssel aus. Später, beim Besucher- und Medientag in Potsdam, stellte er sich gemeinsam mit Botschafter Hansjörg Haber, Chef des zivilen EDA-Planungs- und Durchführungsstabes, den Fragen der Pressevertreter. Miozzo erklärte mit Blick auf die bei der Pressekonferenz anwesenden Generale und Diplomaten: „Ich denke, mit dieser Übung optimieren wir bewährte Verfahren des EU-Krisenmanagements, üben die zivil-militärische Kooperation, lernen voneinander und entwickeln neue Ideen. Das ist eine optimale Vorbereitung für reale Einsätze.“ Beide bezeichneten „Multilayer 2012“ als ein Stück Pionierarbeit im Hinblick auf die Bewältigung zukünftiger Krisenszenarien.

Militärische Komponente ist einsatzbereit

Den überwiegenden Teil der 124 Soldaten im OHQ Potsdam stellte das Ulmer Kommando Operative Führung Eingreifkräfte, das seit 2005 als Hauptquartier für mögliche EU-Einsätze dient und nach seiner Umgliederung (im Rahmen der Bundeswehr-Neuausrichtung) und weiteren Spezialisierung auch der NATO zur Verfügung stehen soll. 53 zivile und militärische Teilnehmer kamen aus 15 weiteren Staaten. Generalleutnant Markus Bentler, Befehlshaber des Ulmer Kommandos, war bei „Multilayer 2012“ der Operation Commander des militärischen Hauptquartiers. Er sagte bei der Pressekonferenz: „Wir zeigen in Potsdam, dass das Krisenmanagement der Europäischen Union funktioniert.“ Bei „Multilayer 2012“ habe man viele neue Erkenntnisse gewinnen können, so Bentler weiter. „Wir wissen jetzt auch, dass die militärische Komponente des EU-Krisenmanagements einsatzbereit ist.“

Teil eines umfassenden Ansatzes

Welchen Stellenwert die EU ihrer nunmehr siebten Krisenmanagementübung beimisst, wird bereits in einer Presseerklärung vom 28. September deutlich: „Ziel von ,Multilayer 2012‘ sind die Beübung und Beurteilung der Strukturen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP)/Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) für die Krisenreaktion und das Krisenmanagement sowie deren Zusammenspiel mit dem gesamten Spektrum der EU-Krisenreaktionsmechanismen. Sie ist Teil des umfassenden Ansatzes, den die EU im Rahmen ihrer Außenbeziehungen für Krisen entwickelt.“ An der Übung der EDA – und dies unterstreicht zusätzlich die Bedeutung des Projektes – nahmen auch eine Reihe von EU-Delegationen sowie Vertreter der Europäischen Kommission, des Rates sowie der EU-Mitgliedstaaten teil. Die Übung ordnete sich zudem in den Kontext der derzeitigen Überprüfung der Krisenbewältigungsverfahren ein, durch die Brüssel die Wirksamkeit der Entscheidungsfindung, Planung, Ausführung und Beurteilung im Rahmen der GSVP verbessern will.

Militäroperationen und Finanzierungsfragen

Oberstleutnant Klaus Brandel vom Kommando Operative Führung Eingreifkräfte zieht in einem Pressebeitrag für das Ulmer Kommando folgendes vorläufiges Fazit: „Bereits jetzt lässt sich eine Reihe von Erkenntnissen ableiten, die den Wert von ,Multilayer 2012‘ herausstellen. Es wird deutlich erkennbar, wie effektiv und zielführend das ursprünglich rein militärische Planungsverfahren sich auch im zivilen Bereich einsetzen lässt. In Zusammenarbeit mit dem Militärstab der EU wurde das Verfahren an bestehende EU-Strukturen angepasst und auf die verschiedenen Arbeitsebenen mit seinen Schnittstellen und Interdependenzen heruntergebrochen. Mit diesem Vorgehen und der Darstellung der unterschiedlichen Planungsstufen und -ebenen wurde den immer komplexer werdenden Krisenszenarien der Gegenwart Rechnung getragen.“

Durch den Einsatz der speziellen NATO-Software TOPFAS (Tools for Operations. Planning Functional. Area Services.) konnten – wie eingangs bereits geschildert – Lageentwicklungen und Planungsabläufe für Brüssel, Potsdam und Brindisi zeitgleich dargestellt werden. Dazu Brandel: „Auch dieser Aspekt ist von großer Wichtigkeit, zeichneten sich bisherige Übungen der zivil-militärischen Zusammenarbeit doch oftmals durch Kompatibilitätsprobleme aus.“

Wichtige Ergebnisse brachte „Multilayer 2012“ auch für die Finanzexperten. Seit 2004 gilt unter dem Namen „Athena“ ein einvernehmlich beschlossener Zahlungs- und Finanzierungsmechanismus für militärische Operationen unter EU-Führung (lediglich Dänemark verweigerte sich bislang diesem Mechanismus). „Athena“ wurde eingeführt, da die Militäroperationen, die im Rahmen der GSVP geführt werden, nicht im Haushaltsplan der Europäischen Union enthalten sind. Vorrangig sollen so zwei Arten von Operationen finanziert werden: klassische Militäreinsätze der EU sowie militärische Unterstützungsaktionen (die der Rat zur Unterstützung eines Drittstaates oder einer Drittstaatorganisation beschließt, aber nicht einem Hauptquartier der EU unterstehen). Oberstleutnant Brandel erklärt die Zusammenhänge: „Nach dem Athena-Mechanismus verpflichten sich die Mitgliedsländer, die Kosten nach einem prozentualen Verteilerschlüssel in Relation zu ihrem jeweiligen Bruttoinlandsprodukt zu übernehmen. Da umfangreiche Operationen sich in der Umsetzung stets sehr kostenintensiv gestalten, wurden die Finanzierungsabläufe und Verfahren bei dieser Übung ebenfalls an Fallbeispielen durchgeführt und beübt. Auch auf diesem Gebiet konnten wichtige Erkenntnisse gewonnen werden, die nunmehr ausgewertet werden.“

Lücken im Instrumentenkasten

Mit dem Thema „EU-Krisenmanagement“ hat sich auch die Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) befasst. SWP hat eine Reihe von Studienbeiträgen dazu veröffentlicht, von denen wir hier einige nennen wollen. Die 2009 erschienene Sammelstudie „Die EU als strategischer Akteur in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik?“ von Muriel Asseburg und Ronja Kempin bietet eine Analyse verschiedener GSVP-Missionen und -Operationen. Grundlagenarbeit leistete 2010 auch Marco Overhaus mit seinem Beitrag „Zivil-militärisches Zusammenwirken in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU“. 2011 kritisierte Overhaus mit seiner Studie „Lücken im Instrumentenkasten“ die Defizite im EU-Krisenmanagement, die durch die Umbrüche in Nordafrika aufgedeckt worden sind. Ronja Kempin und Nicolai von Ondarza finden 2011 in ihrer Gemeinschaftsarbeit „Die GSVP vor der Erosion?“ kritische Worte für den aktuellen Zustand des EU-Krisenmanagements und fordern eine Wiedereinbindung Frankreichs und Großbritanniens in den Prozess. In ihrer gleichnamigen Studie zu den EU-Battlegroups (2010) kommen Claudia Major und Christian Mölling zu einem ambivalenten Ergebnis. Während sie bei Führungsfähigkeit und Logistik tatsächlich Erfolge erkennen, sehen sie keinen generellen Wandel nationaler Strukturen und Fähigkeiten hin zur europäischen Ebene.


Zu unserer Bildsequenz:
1. Die EU engagierte sich bereits 2006 in Afrika mit einer Militäroperation. Die Aufnahme zeigt Fallschirmjäger aus Lebach in Kinshasa, der Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo. Deutschland beteiligte sich dort am EU-Einsatz EUFOR RD Congo zur Absicherung der Wahlen.
(Foto: Andrea Bienert/Bundeswehr)
2. EU-Krisenmanagementübung „Multilayer 2012“ – Briefing in Potsdam durch den Operation Commander.
3. Multinationale Zusammenarbeit im Potsdamer Hauptquartier.
4. EAD-Direktor Agostino Miozzo und Generalleutnant Markus Bentler bei der Pressekonferenz.
(Foto: NATO)
5. Feierliche Indienststellung eines Bataillons der Afghanischen Nationalarmee im Camp Morehead.
(Fotos: PrInfoZ Kommando Operative Führung Eingreifkräfte)

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