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Osnabrück/München. Christoph Heusgen, Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz (Munich Security Conference, MSC) und einst außen- und sicherheitspolitischer Berater von Ex-Kanzlerin Angela Merkel, hat die Bundesregierung davor gewarnt, die ausgerufene „Zeitenwende“ für die Bundeswehr zu verschleppen. „Derzeit ist das Bild, das Deutschland nach außen abgibt, keines der Entschlossenheit“, beklagte Heusgen im Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung (NOZ). Heusgen sprach sich in der NOZ außerdem für ein Umdenken hinsichtlich einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine aus. „Anders als 2008 sollte man einen NATO-Beitritt der Ukraine nicht mehr kategorisch ausschließen – nach einem möglichen Friedensschluss mit Russland“, so der Chef der MSC.

Auf die Frage, ob die Hoffnungen auf ein baldiges Ende des Krieges in der Ukraine – geweckt durch den Rückzug der russischen Armee aus Cherson und die territorialen Rückeroberungen durch die ukrainischen Streitkräfte – nicht doch verfrüht seien, sagte Heusgen der NOZ unter anderem: „Für die nächsten Monate sehe ich keine Lösung des Konflikts. Dazu sind die politischen Positionen Russlands und der Ukraine zu weit auseinander. Wenn sich im nächsten Jahr aber militärisch herausstellt, dass keine Seite echte Fortschritte machen kann und sich der Frontverlauf verfestigt, könnte der Druck und die Bereitschaft, zu Verhandlungen zu kommen, auf beiden Seiten größer werden.“

Gefragt, ob es seitens der ukrainischen Regierung sinnvoll sei, auf der Maximalforderung zu bestehen, erst dann in Verhandlungen einzutreten, wenn sich Russland aus allen besetzten Gebieten zurückgezogen habe, sagte Heusgen: „Das ist keine Maximalforderung, sondern eine Forderung, die internationalem Recht entspricht. Russland hat gegen das Völkerrecht, gegen Verträge, die es mit der Ukraine geschlossen hat, verstoßen. Deshalb habe ich volles Verständnis dafür, einen Friedensschluss an die Rückgaben des der Ukraine völkerrechtlich zustehenden Territoriums zu knüpfen.“ Denn, so erklärte der frühere Diplomat (am 30. Juni 2021 ist Heusgen aus dem Auswärtigen Dienst ausgeschieden): „Warum soll die Ukraine im Vorfeld Zugeständnisse machen, wenn der Verhandlungspartner nicht gewillt ist, irgendwelche Abstriche zu machen? Im Übrigen wird Russland auch Reparationen zahlen und für die begangenen Kriegsverbrechen werden die russischen Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden müssen.“

Beim Zwei-Prozent-Ziel der NATO geht es auch um Deutschlands Glaubwürdigkeit

Der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz erinnerte in seinem Interview mit der NOZ dann an die Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz zum Krieg in der Ukraine vom 27. Februar 2022. Scholz hatte darin eine „Zeitenwende“ ausgerufen und ein Sondervermögen „Bundeswehr“ in Höhe von 100 Milliarden Euro angekündigt. Heusgen warnte jetzt die Bundesregierung davor, diese „Zeitenwende“ für die Bundeswehr zu verschleppen. „Derzeit ist das Bild, das Deutschland nach außen abgibt, keines der Entschlossenheit“, kritisierte Heusgen. „Im Haushaltsplan für das kommende Jahr sind wir noch immer nicht beim Zwei-Prozent-Ziel [der NATO] für Verteidigung. Und zwischen dem Verteidigungsministerium und der Industrie schiebt man sich den Schwarzen Peter für die Probleme bei der Beschaffung von Munition und Ausrüstung hin und her.“ Das müsse dringend aufhören, denn ein solcher Streit spiele nur Putin in die Hände.

Weiter sagte Heusgen der NOZ: „Wir dürfen nicht zurückfallen in den alten Trott. Schon 2014 hat die Bundesregierung gegenüber den NATO-Partnern zugesagt, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben. Fast zehn Jahre später haben wir das Ziel immer noch nicht erreicht. Damit steht Deutschlands Glaubwürdigkeit auf dem Spiel. Wie will man denn so die zugesagte internationale Führungsrolle übernehmen?“

NATO-Beitritt der Ukraine könnte Russland von erneuter Aggression abhalten

Heusgen sprach sich in der Neuen Osnabrücker Zeitung auch für ein Umdenken hinsichtlich einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine aus. Er argumentierte: „Anders als 2008 sollte man einen NATO-Beitritt der Ukraine nicht mehr kategorisch ausschließen – nach einem möglichen Friedensschluss. Denn Russlands Aggressivität und die Erfahrung, dass es sich nicht an Vereinbarungen hält, beispielsweise an die abgegebene Garantie zur territorialen Integrität der Ukraine, müssen zum Umdenken anregen.“

Heusgen gab in der NOZ zu bedenken: „Wer garantiert, dass Russland auch nach einem Friedensschluss nach ein paar Jahren der Pause und erneuter Aufrüstung die Ukraine nicht erneut angreift? Ein NATO-Beitritt der Ukraine erhöhte den Preis dramatisch, den Moskau für ein solches Vorgehen zahlen müsste.“

Abschließend sprach sich der Leiter der Münchner Konferenz auch für eine mögliche Stationierung deutscher Flugabwehrbatterien vom Typ Patriot in der Ukraine aus. „Die Stationierung von deutschen Patriot-Flugabwehrsystemen in der Ukraine sollte nicht von vornherein ausgeschlossen werden“, meinte Heusgen. Er führte aus: „Die Systeme sind grundsätzlich auch von Ukrainern zu bedienen. Und als reine Abwehrwaffe würde sie wirklich zum Schutz der Ukraine beitragen und so natürlich auch Polens.“


Kompakt                           

Die Münchner Sicherheitskonferenz (Munich Security Conference, MSC) ist nach eigener Darstellung „das weltweit führende unabhängige Forum für internationale Sicherheitspolitik“. Zusätzlich zur Hauptkonferenz in München richtet die MSC regelmäßig hochkarätig besetzte Veranstaltungen überall auf der Welt aus. Während der Hauptkonferenz jeweils im Februar versammelt die MSC mehr als 450 hochrangige Entscheidungsträger und prominente Meinungsführer aus der ganzen Welt – darunter Staatsoberhäupter, Minister, Führungspersonen von internationalen Organisationen und Nichtregierungsorganisationen sowie führende Vertreter aus Wirtschaft, Medien, Forschung und Zivilgesellschaft.

Die 58. Münchner Sicherheitskonferenz fand vom 18. bis 20. Februar 2022 an ihrem gewohnten Veranstaltungsort in München, dem Hotel „Bayerischer Hof“, statt. Termin für die 59. MSC ist der Zeitraum 17. bis zum 19. Februar 2023, ebenfalls wieder im „Bayerischen Hof“. Zuletzt berichtete das bundeswehr-journal über die MSC am 14. April 2022.

Botschafter Christoph Heusgen hat am 20. Februar 2022 als Nachfolger von Botschafter Wolfgang Ischinger den Vorsitz der Münchner Sicherheitskonferenz übernommen. Der 67 Jahre alte frühere Diplomat wurde vom Stiftungsrat der MSC im vergangenen Dezember zum Vorsitzenden der Konferenz gewählt. Die Wahl fand auf Vorschlag von Vorgänger Ischinger statt und erfolgte einstimmig.

Heusgen, geboren am 17. März 1955 in Düsseldorf-Heerdt, studierte an der Universität St. Gallen, dem Georgia Southern College in den USA und an der Sorbonne in Paris. Er promovierte an der Universität St. Gallen, wo er zurzeit Politikwissenschaft lehrt.

Er trat im Jahr 1980 in den Auswärtigen Dienst ein. Nach Stationen im deutschen Konsulat in der US-Metropole Chicago und der deutschen Botschaft in Paris wurde er 1988 zum Persönlichen Referenten des Koordinators für Deutsch-Französische Zusammenarbeit ernannt. Von 1993 bis 1997 arbeitete Heusgen im Ministerbüro von Außenminister Klaus Kinkel. Anschließend übernahm er für zwei Jahre die Leitung der Unterabteilung „Europa“ im Auswärtigen Amt.

Von 1999 bis 2005 leitete Heusgen den Politischen Stab des Hohen Vertreters für Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union, Javier Solana. Seit 2005 beriet der Diplomat Bundeskanzlerin Merkel zu außen- und sicherheitspolitischen Fragen und leitete als Ministerialdirektor die Abteilung „Außenpolitik“ im Bundeskanzleramt.

Bevor Christoph Heusgen den Vorsitz der Münchner Sicherheitskonferenz übernahm, war er von 2017 bis 2021 Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei den Vereinten Nationen (VN) in New York und saß im April 2018 und im Juli 2020 dem VN-Sicherheitsrat vor.


Die Aufnahme zeigt Botschafter Christoph Heusgen, der am 20. Februar 2022 den Vorsitz der Münchner Sicherheitskonferenz (Munich Security Conference, MSC) übernommen hat. Er folgte auf Botschafter Wolfgang Ischinger, der nach wie vor Präsident des MSC-Stiftungsrates ist. Ischinger war von 2008 bis Februar 2022 Vorsitzender der Konferenz.
(Foto: Michael Kuhlmann/MSC)


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