menu +

Nachrichten



Berlin/Osnabrück. Trotz aller Kritik zieht die Bundesregierung in weiten Teilen eine positive Bilanz des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan. Das geht aus einer Antwort des Verteidigungsministeriums auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion hervor, die der Neuen Osnabrücker Zeitung (NOZ) vorliegt und über die das Blatt jetzt berichtet.

Das Verteidigungsministerium, das die Anfrage für die Bundesregierung beantwortete, bejaht in dem Papier die Frage der Linken nach einem Erfolg bei der Ausbildung der afghanischen Sicherheits- und Spezialkräfte, dem Aufbau staatlicher Strukturen und der Unterstützung der Zivilgesellschaft. Aus Sicht des Ministeriums beziehungsweise der Bundesregierung habe man ganz klar die Leistungsfähigkeit der afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte steigern können, heißt es. Auch die Spezialkräfte des afghanischen Innenministeriums hätten im Februar 2021 ihre volle Einsatzbereitschaft erreicht. Das Verteidigungsministerium weist zudem in der Antwort darauf hin, dass das zivile Engagement der Bundesregierung in Afghanistan zu Fortschritten im Sinne der Fragestellung beigetragen habe.

Nach Ansicht der Linksfraktion ist dieser Fortschritt jedoch „nicht messbar“. Denn über den Verbleib der ausgebildeten Verteidigungs- und Sicherheitskräfte an den Standorten Mazar-e Sharif und Kunduz habe die Bundesregierung ja angeblich „keine Kenntnis“. Für die Linken-Abgeordnete Sevim Dağdelen, die die Anfrage gestellt hatte, ist es „sehr wahrscheinlich, dass ein großer Teil von ihnen inzwischen bei den islamistischen Taliban im Einsatz ist“.

Läuft Bundesregierung Gefahr, in Mali in ein ähnliches Fiasko zu geraten?

Dağdelen kritisierte die „realitätsverweigernde Schönfärberei“ im Hinblick auf den Afghanistaneinsatz durch die Regierung und forderte letztendlich einen Untersuchungsausschuss. Die Obfrau im Auswärtigen Ausschuss sagte der NOZ: „Die Bundesregierung zeigt keinerlei Willen, Lehren aus der Niederlage am Hindukusch ziehen zu wollen, und läuft so Gefahr, in Mali in ein ähnliches Fiasko zu geraten.“

Die Politikerin der Linken verlangt deshalb nun „eine tatsächlich ehrliche, schonungslose und zielführende Aufarbeitung in einem Untersuchungsausschuss, statt den Afghanistankrieg weiter in Pastelltönen zu malen“.

Wehrmaterial aus Deutschland inzwischen in den Händen der Taliban

Die Bundeswehr hat laut Antwort des Verteidigungsministeriums nach dem Abzug aus Afghanistan auch Fahrzeuge, mit denen afghanische Sicherheitskräfte ausgestattet worden waren, mit einem Restwert von fast einer halben Million Euro im Land zurückgelassen.

Abgegeben worden waren laut Regierung in den vergangenen zehn Jahren 56 handelsübliche Autos der Marken Mercedes-Benz, Volkswagen, Toyota und Nissan mit einem Gesamtrestwert von 387.000 Euro an das afghanische Verteidigungsministerium zur Nutzung für die Streitkräfte. Hinzu kamen dem Wehrressort zufolge fünf handelsübliche Sonderfahrzeuge wie Gabelstapler der Hersteller Linde und Still mit einem Gesamtrestwert von 66.000 Euro.

Unklar ist, in wessen Besitz sich diese Fahrzeuge jetzt befinden. Die Bundesregierung hat darüber nach eigenen Angaben genauso „keine Kenntnisse“ wie darüber, was mit den Flugkörperabwehrsystemen für Flugzeuge, deren Export im Jahr 2017 genehmigt worden war, mittlerweile geschehen ist. Diese Waffensysteme aus Deutschland dürften sich nun ebenfalls in den Händen der radikal-islamischen Taliban befinden, mutmaßte Dağdelen.

Redaktioneller NACHBRENNER

Wie die Redaktion des ZDF-Politikmagazins „frontal“ am heutigen Dienstag (12. Oktober) meldet, wollen die Grünen auch im Fall einer Regierungsbeteiligung an einem Untersuchungsausschuss zu Afghanistan festhalten. Der außenpolitische Experte von Bündnis 90/Die Grünen Omid Nouripour sagte dem ZDF-Magazin (Sendung heute 21:00 Uhr): „Es gab eine große Kette von Fehlern im Afghanistaneinsatz. Und wir werden aufarbeiten müssen, was seit Beginn der Evakuierung alles schiefgelaufen ist.“ Auch bei den Koalitionsverhandlungen müsse der Einsatz in Afghanistan ein Thema sein, so Nouripour. „Wir werden bei der Regierungsbildung darüber miteinander reden müssen, wie wir aufarbeiten, was alles schiefgegangen ist. Und das ist sehr viel.“

Vor der Bundestagswahl hatten Grüne, FDP und Linke einen Untersuchungsausschuss gefordert, der aufklären soll, wer für das Chaos beim Abzug aus Afghanistan und bei der Luftbrücke für die Ortskräfte verantwortlich ist.

Nach dem Ende der Luftbrücke vor sechs Wochen konnten nach Angaben des Auswärtigen Amtes mittlerweile weitere rund 1000 Menschen mit Hilfe der Bundesregierung Afghanistan auf dem Landweg oder mit dem Flugzeug verlassen. Das Ministerium erklärte dazu: „Wir arbeiten mit verschiedenen Akteuren in der Region weiter intensiv daran, zusätzliche Optionen zu identifizieren, um den Betroffenen eine schnellere und sichere Ausreise aus Afghanistan zu ermöglichen.“

Nouripour forderte im Interview mit „frontal“, jetzt alle Bundeswehreinsätze auf den Prüfstand zu stellen: „Wir müssen uns alle Einsätze genau ansehen und überlegen, was dort richtig läuft, was falsch läuft und ob Dinge tatsächlich noch zu retten sind. Und dann werden wir zusammenkommen müssen, um zu überlegen, welche Einsätze wie fortgesetzt werden.“


Zu unserem Bildmaterial:
1. Die letzten Wochen auf afghanischem Boden – die Bundeswehr bereitetet an vielen Stellen sichtbar ihren Abzug vor. Die Aufnahme, entstanden am 22. Juni 2021 im Camp Marmal bei Mazar-e Sharif, zeigt den Bereich des ehemaligen „Deutschen Ecks“. Hier wurden von Soldaten bereits die Schriftzüge übermalt.
(Foto: Torsten Kraatz/Bundeswehr)

2. Die Bundestagsabgeordnete Sevim Dağdelen der Linken wirft der Bundesregierung vor, ihre Bilanz des Afghanistaneinsatzes „in Pastelltönen zu malen“. Das Bild zeigt die Parlamentarierin am 21. November 2017 im Bundestag bei einer Rede zum Tagesordnungspunkt „Bundeswehreinsatz gegen die Terrororganisation ,Islamischer Staat‘ (IS)“.
(Foto: Achim Melde/Deutscher Bundestag)

Kleines Beitragsbild: Symbolfoto „Abzug aus Nordafghanistan“ – ein letztes Mal startet von Mazar-e Sharif aus eine deutsche Transportmaschine mit Bundeswehrsoldaten an Bord. Mit der letzten Gruppe verlässt auch Befehlshaber Ansgar Meyer das Land am Hindukusch. In den vergangenen 20 Jahren waren etwa 150.000 Männer und Frauen der Bundeswehr in Afghanistan im Einsatz, viele von ihnen mehrfach. 59 deutsche Soldaten kamen hier ums Leben, 35 von ihnen fielen durch Fremdeinwirkung im Gefecht oder durch Anschläge.
(Torsten Kraatz/Bundeswehr)


Kommentieren

Bitte beantworten Sie die Frage. Dies ist ein Schutz der Seite vor ungewollten Spam-Beiträgen. Vielen Dank *

OBEN