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Strasbourg/Berlin/Bonn. Einen Tag vor der für sie so schicksalshaften Abstimmung im Europäischen Parlament in Strasbourg über die EU-Kommissionspräsidentschaft setzte Ursula von der Leyen alles auf eine Karte. Am gestrigen Montag (15. Juli) um 16:39 Uhr verkündete die CDU-Politikerin auf Twitter ihren Rücktritt als Bundesministerin der Verteidigung. Der Rücktritt soll am morgigen Mittwoch (17. Juli) erfolgen. In einem Tagesbefehl an die Bundeswehr erläuterte sie danach ihren Schritt. Heute stellt sich von der Leyen dem EU-Parlament als mögliche Nachfolgerin des scheidenden Luxemburgers Jean-Claude Juncker zur Wahl.

Bundeskanzlerin Angela Merkel äußerte sich gestern zur Entscheidung ihrer Ministerin bei einem Werksbesuch in Görlitz. Auf die Frage eines Pressevertreters zur Rücktrittsankündigung von der Leyens erklärte sie: „Ich möchte sagen, dass ich diese Entscheidung respektiere, dass sie deutlich macht, dass sich Ursula von der Leyen einfach für eine neue Etappe ihres Lebens entschieden hat.“ Der Schritt zeige auch, dass sie „mit ganzer Kraft“ und „Verve“ für das Amt der Präsidentin der Europäischen Kommission eintreten wolle. „Das freut mich, so kenne ich sie auch – und alles Weitere werden wir dann sehen“, schloss Merkel mit Blick auf die EU-Parlamentsabstimmung und die Nachfolge an der Spitze des deutschen Wehrressorts.

Wie von der Leyen in ihrem am späten Montagnachmittag im Onlineauftritt des Ministeriums freigeschalteten Tagesbefehl erklärte, war die Bundeskanzlerin über ihren Schritt informiert. Merkel werde „die notwendigen Schritte für einen verantwortungsvollen Übergang im Sinne der Bundeswehr und der Sicherheit Deutschlands einleiten“.

Bundeswehr verfügt über klaren Kompass bis weit ins übernächste Jahrzehnt

Weiter heißt es im Tagesbefehl von der Leyens unter anderem: „Der Europäische Rat hat mich Anfang Juli als Kandidatin für die Präsidentschaft der EU-Kommission vorgeschlagen. Ich möchte Sie vor der morgigen Abstimmung im Europaparlament darüber informieren, dass ich mein Amt als Verteidigungsministerin am Mittwoch zur Verfügung stellen werde.“

Im Rückblick auf ihre Amtszeit als Bundesministerin der Verteidigung versichert von der Leyen dann: „Ich bin sehr dankbar und fühle mich tief geehrt, dass ich mehr als fünfeinhalb Jahre Verantwortung für die Bundeswehr tragen durfte. Die Soldatinnen und Soldaten und die zivilen Beschäftigten der Bundeswehr leisten einen unschätzbaren Dienst für unser Land.“

Nach gut zwei Jahrzehnten des Schrumpfens und Reduzierens gehe es für die Streitkräfte wieder aufwärts, bilanziert die CDU-Politikerin. Der Etat sei um mehr als ein Drittel gestiegen, die Zahl der Bundeswehrangehörigen wachse wieder an, modernes Material und Ausrüstung in Milliardenhöhe sei bestellt oder bereits bei der Truppe eingetroffen. Der Tagesbefehl erinnert daran: „Trotz etlicher Rückschläge haben wir gemeinsam im Ministerium, in den Kommandos, Ämtern und in der Truppe wichtige Reformen auf den Weg gebracht. Im Rüstungswesen, beim Personal oder beim Traditionsverständnis einer Parlamentsarmee, die seit mehr als sechzig Jahren fest in unserer Demokratie verankert ist und für unsere Werte einsteht. Und wir haben die Bundeswehr für neue Herausforderungen aufgestellt, etwa bei der Cyberabwehr und der Digitalisierung. Mit dem Weißbuch, der Konzeption der Bundeswehr und dem Fähigkeitsprofil verfügt die Bundeswehr erstmals in ihrer Geschichte über einen ebenso strategischen wie transparenten Aufbauplan, der klarer Kompass bis weit ins übernächste Jahrzehnt ist.“

Europäische Verteidigungsunion unverzichtbar für Europa

Von der Leyen räumt schließlich ein, dass sie das Amt als Verteidigungsministerin als ihre „politisch forderndste Aufgabe“ empfunden habe. Das Amt bedeute Verantwortung für die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr, die Soldaten und zivilen Beschäftigen. Es bedeute zugleich Verantwortung für die Sicherheit und Freiheit Deutschlands und seiner Verbündeten. Und es bedeute schließlich Verantwortung für Auslandsmissionen, in denen „unsere Truppe auf drei Kontinenten und zwei Weltmeeren Tag für Tag und Nacht für Nacht Herausragendes leistet“.

Deutschland sei ein verlässlicher Partner: in der NATO, bei den Vereinten Nationen und in der Europäischen Union, schloss von der Leyen. Die Christdemokratin, die als überzeugte Europäerin gilt, warb schließlich in ihrem Tagesbefehl an die Truppe noch einmal dafür: „Deutschland ist nur sicher, wenn Europa stark ist. Deswegen haben wir in den vergangenen Jahren die Europäische Verteidigungsunion aus der Taufe gehoben, die wir nun schrittweise weiterentwickeln müssen. Sie ist unverzichtbar für ein Europa, das selbstbewusst auf der Weltbühne seine Werte vertritt und seine Interessen schützt.“

Stimmt Koalitionspartner SPD geschlossen gegen die CDU-Politikerin?

Die Wahl eines neuen EU-Kommissionspräsidenten beziehungsweise einer -präsidentin durch das Europäische Parlament am heutigen Dienstag (16. Juli) ist das zentrale Thema bei phoenix. Der Ereignis- und Dokumentationskanal begleitet die Wahl live und lange aus dem französischen Strasbourg.

Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen braucht für einen Sieg im EU-Parlament die absolute Mehrheit mit mindestens 374 von 751 Stimmen. Die Nachfolge von Juncker würde die designierte Kandidatin am 1. November antreten. Ob von der Leyen allerdings genug Stimmen bekommt, ist noch völlig unklar. Besonders brisant ist, dass der Koalitionspartner SPD geschlossen gegen die Christdemokratin stimmen will (dies würde die Stimmung in der Großen Koalition in Berlin enorm belastet; siehe hier).

Das Sonderprogramm beginnt um 8:45 Uhr mit dem phoenix-„Tagesgespräch“: Reporter Jan Christoph Nüse lotet gemeinsam mit Katarina Barley (Vize-Parlamentspräsidentin für die Sozialdemokraten im Europaparlament) und dem CDU-Politiker David McAllister (Vorsitzender des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten) das mögliche Ergebnis der Wahl aus.

Wahlvorgang beginnt im Parlament in Strasbourg um 18 Uhr

Um 9 Uhr hält Ursula von der Leyen ihre Bewerbungsrede, es folgt die Debatte im Parlament – phoenix überträgt und kommentiert bis 12:30 Uhr live aus dem Plenarsaal in Strasbourg.

Von 14 bis 14:30 Uhr kommen die Fraktionen bei phoenix zu Wort. Reaktionen aus den Parteien in Berlin zeigt phoenix in der Sendung „Der Tag“ von 17:30 bis 18 Uhr.

Um 18 Uhr ist es dann soweit: Die Abstimmung über die Wahl von der Leyens zur EU-Kommissionspräsidentin beginnt. Gewählt wird in geheimer Abstimmung per Stimmzettel. Marlon Amoyal begleitet die Abstimmung von 18 bis 20 Uhr. Um 23 Uhr schaltet phoenix noch einmal zu Reporter Amoyal – ein Interview mit Ursula von der Leyen ist angefragt.

Am Mittwoch widmet sich phoenix ab 9 Uhr in der Sendung „Vor Ort“ der Wahlnachlese. Im „Tagesgespräch“ analysiert Jan Christoph Nüse gemeinsam mit der FDP-Politikerin Nicola Beer und Reinhard Bütikofer von Bündnis 90/Die Grünen den Wahlausgang und die möglichen Folgen.

Rücktrittsentscheidung zeugt „von Charakter und Konsequenz“

Aus der Bundespolitik gab es bereits am Montagabend erste Stellungnahmen zum Rücktritt der Verteidigungsministerin. So meinte die CDU-Parteivorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer, das klare Signal von der Leyens an Europa verdiene Hochachtung. Es handele sich um eine Kandidatur „ohne Netz und doppelten Boden“. Kramp-Karrenbauer: „Eine solche Kandidatin macht deutlich, dass es ihr um Europa geht – eine solche Kandidatin hat Unterstützung im Parlament verdient.“

Ralph Brinkhaus, Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, äußerte sich ähnlich: „Ich habe großen Respekt vor der Entscheidung Ursula von der Leyens, von ihrem Amt als Verteidigungsministerin zurückzutreten. Dies ist, wie sie selbst gesagt hat, ihre Entscheidung für Europa. Es zeigt auch, wie sehr ihr Europa am Herzen liegt.“

Fritz Felgentreu, Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion für Sicherheits- und Verteidigungspolitik, schrieb: „Eine folgerichtige Entscheidung. Ich bedanke mich bei Ursula von der Leyen für gute Zusammenarbeit zum Wohl der Bundeswehr, auch bei Meinungsverschiedenheiten.“

Reaktionen gab es auch von der Opposition. Dietmar Bartsch, Vorsitzender der Linksfraktion im Bundestag, hätte es besser gefunden, wenn der Rücktritt von der Leyens gleich nach der Nominierung gekommen wäre. Bartsch schließt sein kurzes Statement mit dem ironischen Hinweis: „Vielleicht hat Ursula von der Leyen ab Mittwoch mehr Zeit.“

Die FDP-Verteidigungsexpertin Marie-Agnes Strack-Zimmermann spricht hingegen von einer Entscheidung, die Charakter beweise. Es gebe politische Differenzen – aber von der Leyen habe Klasse. In der Presseerklärung der Freidemokratin heißt es wörtlich: „Die Rücktrittsankündigung von Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen ist zumindest eine folgerichtige Entscheidung, unabhängig von ihrer Kandidatur als EU-Kommissionschefin. Trotz aller politischen Differenzen und der Berateraffäre, die im Untersuchungsausschuss noch aufgeklärt werden muss, zeigt ihr Handeln Charakter und Konsequenz. Das kann nicht jeder Amtsvorgänger von sich behaupten. Die Nachfolge muss nun umgehend geklärt werden. Eine Hängepartie wie bei der Nachfolge im Bundesjustizministerium kann sich die Bundesregierung angesichts der Herausforderungen, vor denen die Bundeswehr aktuell steht, nicht erlauben.“

Personaldebatte um die Nachfolge hat begonnen

Mit ihrer Rücktrittsankündigung hat von der Leyen nun natürlich auch die Nachfolge-Diskussion so richtig eröffnet. Es darf spekuliert, es darf gewettet werden. Gehandelt werden derzeit fast immer die gleichen Namen (alle CDU): Gesundheitsminister Jens Spahn, die Verteidigungsexperten Johann Wadephul und Henning Otte sowie der Parlamentarische Staatssekretär Peter Tauber.

Auch der Christdemokrat David James McAllister, von Juli 2010 bis Februar 2013 als Nachfolger von Christian Wulff Ministerpräsident von Niedersachsen und seit 2014 Europaabgeordneter in der EVP-Fraktion, soll gute Karten haben. Als Kandidat gehandelt wird auch der CDU-Bundestagsabgeordnete, Oberst a.D. und frühere Präsident des Reservistenverbandes Roderich Kiesewetter.

Da Bundeskanzlerin Merkel wahrscheinlich an der Geschlechterparität in ihrem Kabinett festgehalten wird, könnte es übrigens auch zu einer Rochade kommen. Sollte Gesundheitsminister Spahn ins Bundesministerium der Verteidigung wechseln, dann wäre die frühere Gesundheitsstaatssekretärin Annette Widmann-Mauz eine aussichtsreiche Spahn-Nachfolgerin.


Randnotiz                                  

Der Ereignis- und Dokumentationskanal phoenix berichtet den ganzen heutigen Dienstag und am morgigen Mittwochvormittag über die Wahl im Europäischen Parlament in Strasbourg:
8:45 bis 9 Uhr phoenix-Sendung „Tagesgespräch“;
9 bis 12:30 Uhr Liveübertragung der Rede von der Leyens und der anschließenden Debatte;
14 bis 14:30 Uhr Stimmen aus den Fraktionen;
17:30 bis 18 Uhr phoenix-Sendung „Der Tag“ mit Reaktionen der Parteien aus Berlin;
18 bis 20 Uhr Liveübertragung des Wahlvorgangs zur Juncker-Nachfolge;
23 Uhr eventuell Interview (angefragt) mit von der Leyen;
am Mittwoch (17. Juli) ab 9 Uhr phoenix-Sendung „Tagesgespräch“ mit Wahlnachlese.
Alle Angaben ohne Gewähr.


Zu unserem Bildmaterial:
1. Strasbourg, 2. Juli 2019: Eröffnungssitzung des neugewählten Europäischen Parlaments.
(Foto: Fred Marvaux/European Parliament/European Union 2019/unter Lizenz CC-BY-4.0 –
vollständiger Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/)

2. Rücktrittsankündigung der Bundesministerin der Verteidigung auf Twitter am 15. Juli 2019.
(Bildschirmfoto: Quelle Twitter-Account Ursula von der Leyen)

Kleines Beitragsbild: Pressevertreter beobachten am 2. Juli 2019 in Strasbourg die konstituierende Parlamentssitzung.
(Foto: Mathieu Cugnot/European Parliament/European Union 2019/unter Lizenz CC-BY-4.0 –
vollständiger Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/)


Kommentare

  1. Dr.-Ing. U. Hensgen | 16. Juli 2019 um 14:59 Uhr

    „Bundeswehr verfügt über klaren Kompass bis weit ins übernächste Jahrzehnt“. Das mag sein. Nur führt die von der Frau Ministerin vorgegebene Marschzahl meines Erachtens nicht zum Ziel. Hoffentlich korrigiert der Nachfolger sie um einige Grad.

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