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Hamburg. Akten der Bundeswehr und der US-Regierung belegen, dass in den 1960er-Jahren die politisch und militärisch Verantwortlichen in der Bundesrepublik umfassende Planungen für den Einsatz von Chemiewaffen betrieben haben. Dies wurde in der Vergangenheit stets energisch dementiert. Die Akten sind nun nach jahrzehntelanger strenger Geheimhaltung offengelegt worden. Ein Team von NDR, WDR und Süddeutsche Zeitung konnte die Dokumente auswerten. Die Recherchen zeigen, dass Bundesregierung und Bundeswehr in jenen Jahren auf mehrfache Nachfrage von Journalisten die Unwahrheit gesagt haben.

Aus den Dokumenten gehe hervor, dass der damalige Verteidigungsminister Kai-Uwe von Hassel (Amtszeit: 9. Januar 1963 bis 1. Dezember 1966) die US-Regierung 1963 um die Belieferung mit Chemiewaffen gebeten habe, so der NDR in einer Pressemitteilung am heutigen Donnerstag.

Von 1962 bis mindestens 1968 habe die Bundeswehr eine detaillierte Planung für eine chemische Kriegführung betrieben, um einen möglichen C-Waffen-Angriff des Warschauer Paktes zu vergelten. Zur Umsetzung der Pläne sei es nicht gekommen, weil sich unter anderem die US-Regierung 1966 gegen eine Weitergabe chemischer Munition an die Bundesrepublik entschieden habe.

Bundesregierung und Bundeswehr haben in der Vergangenheit immer wieder den Vorwurf, den Besitz von Chemiewaffen anzustreben und deren Einsatz zu planen, vehement bestritten und entsprechende Berichte zurückgewiesen. Dementiert wurden beispielsweise ein Artikel von Günter Wallraff und Jörg Heimbrecht 1969/1970 in der Zeitschrift Konkret, 1970 ein Beitrag des ARD-Magazins „Monitor“ sowie ab 1968 entsprechende Vorwürfe der damaligen DDR-Führung.

14.000 Tonnen C-Waffen für das Heer und die Luftwaffe

Die Bundesrepublik hatte 1961 in streng geheimen NATO-Sitzungen eine Grundsatzdebatte über Chemiewaffen angestoßen und gefordert, nicht nur die USA sollten die Fähigkeit zur Abschreckung und Vergeltung mit C-Waffen haben. Dazu der NDR: „1963 stellte Verteidigungsminister von Hassel eine Anfrage an die US-Regierung für die Belieferung mit chemischer Munition. Das Pentagon war zunächst bereit, dem nachzukommen. Da das Außenministerium aber Bedenken äußerte, wurde die amerikanische Position auf Weisung des Nationalen Sicherheitsberaters von US-Präsident John F. Kennedy grundlegend diskutiert. 1966 entschieden sich die USA gegen eine Weitergabe, ließen aber die Möglichkeit offen, Alliierten im Kriegsfall chemische Munition zur Verfügung zu stellen.“

Parallel dazu habe die Bundeswehr in einem kleinen Kreis hochrangiger Offiziere seit 1962 detailliert einen möglichen Einsatz von C-Waffen geplant. Dies sei auf Weisung des damaligen Generalinspekteurs Friedrich Foertsch (Amtszeit: 1. April 1961 bis 31. Mai 1963) und in Rücksprache mit von Hassels Vorgänger Franz Josef Strauß (Amtszeiten: 16. Oktober 1956 bis 29. Dezember 1961/30. Dezember 1961 bis 9. Januar 1963) geschehen, so der NDR weiter.

Wie aus den von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung ausgewerteten Dokumenten hervorgeht, schlugen die bundesdeutschen Militärs in jenen Jahren vor, 14.000 Tonnen C-Waffen für die Bundeswehr in den USA zu beschaffen und im Ernstfall durch Artillerie und Luftwaffe gegen Truppen des Warschauer Pakts einzusetzen.

Planuntersuchung „Damokles“ mit Schwerpunkt Braunschweig

1966 wurde die streng geheime „Studiengruppe ABC-Wesen“ in Sonthofen gegründet. Das Expertenteam führte 1967 die Planuntersuchung „Damokles“ durch, in der Gefechte mit einem C-Waffen-Einsatz beider Seiten in der Region um Braunschweig durchgespielt wurden. 1968 entschied schließlich von Hassel-Nachfolger Gerhard Schröder (Amtszeit: 1. Dezember 1966 bis 21. Oktober 1969), „zunächst (…) keine Vorbereitung für eine aktive Verwendung von chemischen Waffen durch die Bundeswehr vorzusehen“. Die Studiengruppe solle sich aber weiter mit dem Thema beschäftigen.

Die Bundesregierung hatte sich 1954 – zusätzlich zum internationalen Verbot des Einsatzes von C-Waffen durch das Genfer Protokoll – dazu verpflichtet, keine chemischen Waffen herzustellen. Der NDR berichtet: „Darauf nahmen Ministeriumsjuristen bei ihrer Rechtfertigung der geheimen Planungen Rücksicht. Zwar seien der Bundesrepublik Entwicklung, Herstellung und Ersteinsatz von C-Waffen verboten, nicht aber die Ausrüstung mit C-Waffen und ihre Lagerung, die Ausbildung und ein Vergeltungsschlag mit C-Waffen, falls der Feind solche Waffen zuerst einsetzen und damit Völkerrecht brechen würde. Die NATO rechnete im Fall eines sowjetischen Angriffs mit einem raschen Chemiewaffen-Einsatz durch den Warschauer Pakt. Deshalb sah auch die 1967 formulierte Strategie der ,Flexible Response‘ den limitierten Einsatz tödlicher B- und C-Kampfstoffe zur Vergeltung vor.“

Auf Anfrage von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung erklärte jetzt das Bundesministerium der Verteidigung, ihm lägen zu den damaligen Planungen keine Informationen vor, da der Vorgang zeitlich zu weit zurückreiche. Und: „Heute existieren auf deutschem Boden weder in deutscher noch in Verantwortung von NATO-Verbündeten Chemiewaffen.“


Randnotiz                                  

Über das Thema berichtet am Donnerstag, 3. Mai, im Ersten das NDR-Politikmagazin „Panorama“ (ab 21:45 Uhr). Titel der Sendung: „Streng geheim! Deutsche Chemiewaffen-Pläne im Kalten Krieg“. Die Süddeutsche Zeitung berichtet in ihrer Freitagsausgabe (4. Mai).
Alle Angaben ohne Gewähr.


Zu unserem Bildmaterial:

1. Besuch von US-Präsident John F. Kennedy am 23. Juni 1963 in Deutschland. Neben Kennedy Bundeskanzler Konrad Adenauer, hinter ihm und Kennedy in der zweiten Reihe Verteidigungsminister Kai-Uwe von Hassel. Er soll in diesem Jahr die amerikanische Regierung um die Belieferung mit C-Waffen gebeten haben.
(Foto: Cecil W. Stoughton/John F. Kennedy Presidential Library and Museum)

2. Friedrich Foertsch, von 1961 bis 1963 der zweite Generalinspekteur der Bundeswehr.
(Foto: Bundesarchiv)

Kleines Beitragsbild: Soldaten der Bundeswehr in ABC-Schutzbekleidung und mit ABC-Schutzmaske. Die Aufnahme wurde am 21. August 1990 bei der Übung „Crocodile“ gemacht.
(Foto: D. Jackson/U.S. Army)


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