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Berlin/Tallinn (Estland). Wie werden die Europäer in Zukunft die Verteidigung ihrer Länder gestalten? Wird es eher eine Zusammenarbeit auf freiwilliger Basis geben? Oder am Ende doch eine Verteidigungsunion? Mit solchen Fragen will sich in dieser Woche die Interparlamentarische Konferenz zur Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union befassen. Das EU-Gremium tagt von Donnerstag bis Samstag (7. bis 9. September) in Estlands Hauptstadt Tallinn. Leiter der Bundestagsdelegation in Tallinn ist Wolfgang Hellmich, Vorsitzender des Verteidigungsausschusses.

In einem Interview mit dem Bereich „Presse und Kommunikation“ (Referat „Online-Dienste“) des Deutschen Bundestages sprach sich Hellmich für eine intensivere Kooperation der Europäer in Verteidigungsfragen aus. Einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion räumt der SPD-Politiker große Chancen ein. „Am Ende wird sich die Einsicht durchsetzen, dass eine Verteidigungsunion notwendig ist“, meinte Hellmich in dem Interview. Insgesamt sei in die europäische Verteidigungspolitik „eine ungeheure Bewegung gekommen“, so seine aktuelle Bestandsaufnahme.

Wir veröffentlichen das Interview mit dem Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses mit freundlicher Genehmigung des Bundestagsreferats „Online-Dienste“.

Viele kleine Schritte auf dem Weg zum langfristigen Ziel „Verteidigungsunion“

Herr Hellmich – die EU-Kommission präsentiert drei Vorschläge, die von einer freiwilligen Zusammenarbeit bis hin zu einer Verteidigungsunion reichen. Welches Szenario wird Ihrer Meinung nach bei der Tagung in Tallinn die meisten Befürworter finden?
Wolfgang Hellmich: In die europäische Verteidigungspolitik ist eine ungeheure Bewegung gekommen. Noch vor zwei, drei Jahren war das absolut nicht absehbar. Vor allem auch, weil viele Mitgliedstaaten in der Frage der Verteidigungszusammenarbeit auf der Bremse standen.

Großbritannien etwa? …
Hellmich: Ja, aber nicht allein. Es waren auch polnische und schwedische Delegierte, die sich im vergangenen Jahr auf der Konferenz in der slowakischen Hauptstadt Bratislava sehr klar gegen eine vertiefte europäische Verteidigungszusammenarbeit ausgesprochen haben. Das sieht inzwischen anders aus: Mehr Mitgliedstaaten, wie etwa auch Estland, wollen sich beteiligen. Was die Vorschläge der EU-Kommission betrifft: Es geht heute nicht um die Entscheidung für oder gegen das eine oder andere Szenario. Langfristiges Ziel ist aber eine Verteidigungsunion, da bin ich mir sicher. Dafür gibt es zwar weder eine konkrete Verabredung noch einen bestimmten Zeitrahmen – jedoch viele einzelne Schritte auf dem Weg dorthin. Am Ende wird sich die Einsicht durchsetzen, dass eine Verteidigungsunion notwendig ist.

Konkrete Vorschläge für die Zusammenarbeit statt allgemeiner Erklärungen

Ist die Entscheidung, ein Hauptquartier zur Bündelung des zivil-militärischen Krisenmanagements der Europäischen Union einzurichten, ein solcher Schritt? Oder sind es die Pläne für einen europäischen Kampfjet?
Hellmich: Sicher, erstmals werden nun die Möglichkeiten für eine Ständige Strukturierte Zusammenarbeit im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die der Vertrag von Lissabon immer geboten hat, genutzt. Die deutsch-französische Regierungsvereinbarung macht beispielsweise konkrete Vorschläge für die Ausgestaltung der Zusammenarbeit und führt neue Kriterien ein. Das ist ein entscheidender Unterschied zu vorher, als zwar allgemein verbindliche Erklärungen gefasst wurden, aber nichts daraus folgte.

Lange lag das Feld der europäischen Verteidigungspolitik brach, nun wagen sich die EU-Mitgliedstaaten vor. Wie ist die plötzliche Dynamik zu erklären?
Hellmich: Dazu beigetragen hat sicher auch die Wahl des amerikanischen Präsidenten Donald Trump. Dass dieser die NATO zunächst als „obsolet“ bezeichnet hat, hat auch die kleineren osteuropäischen Länder dazu bewogen, intensiver über eine Vertiefung der europäischen Verteidigungszusammenarbeit nachzudenken.

NATO und Europäische Union verfolgen unterschiedliche Aufträge

Eine vertiefte EU-Verteidigungszusammenarbeit soll keine Konkurrenz zur NATO, sondern nur eine Ergänzung sein, heißt es. Wie kann man sich das nun vorstellen?
Hellmich: Ein erster Schritt der Kooperation ist etwa der Abgleich der Verteidigungsplanung zwischen NATO und EU. Dabei gilt zu klären, wo es möglicherweise Beschaffungs- und Verteidigungslücken gibt, die einzelne EU-Staaten, die auch Mitglied der NATO sind, schließen können. Weiter geht es um Kooperation im Bereich der Boden-und Luftverteidigung, im Kampf gegen hybride Kriegsführung und Cyberangriffe. Das sind Felder, in denen sich die EU und das Bündnis ergänzen können. Die Missionen jedoch werden unterschiedlich bleiben. Der Auftrag der Europäischen Union ist schließlich ein völlig anderer als der der NATO, die eine reine Verteidigungsgemeinschaft ist.

Europa braucht nach wie vor die transatlantischen Beziehungen

Insgesamt etwa 4500 NATO-Soldaten – darunter 450 aus Deutschland – sind seit 2016 entlang der Ostgrenze des Bündnisses stationiert. Insbesondere den nach der Annexion der Krim durch Russland verunsicherten Balten scheint dies immer noch nicht zu reichen. Engagiert sich Deutschland hier genug?
Hellmich: Natürlich wären die im Baltikum und in Polen stationierten Soldaten allein im Ernstfall nicht in der Lage, einen Angriff Russlands, das gerade ein großes Manöver an der NATO-Grenze vorbereitet [Anm.: Herbstmanöver „Zapad 2017“], abzuwehren. Aber das Signal des NATO-Einsatzes ist eindeutig: Wer eines dieser Länder angreift, greift das gesamte Bündnis an und entfesselt einen Krieg mit allen NATO-Staaten. Wichtiger als die Anzahl der Soldaten ist es aus meiner Sicht, die Widerstandsfähigkeit der Staaten gegen Cyberattacken zu stärken. Von diesen geht derzeit eine größere Bedrohung aus als von klassischen kinetischen Angriffen.

Sie haben die Irritationen im transatlantischen Verhältnis seit dem Amtsantritt von US-Präsident Trump bereits angesprochen. Die Konferenz beschäftigt sich jetzt mit der Frage, wie es wieder gestärkt werden kann. Wie wichtig sind denn die transatlantischen Beziehungen noch?
Hellmich: Sehr wichtig, trotz der jüngsten Spannungen. Schließlich sind die USA und die Europäische Union politisch und wirtschaftlich eng verflochten. Ich bin überzeugt, dass wir uns vom transatlantischen Bündnis nicht verabschieden dürfen und auch nicht verabschieden können. Dass Europa die eigene Verteidigung stärken will, ist dazu kein Widerspruch. Wir brauchen die transatlantischen Beziehungen, und es wird des verstärkten diplomatischen Einsatzes aller EU-Mitgliedstaaten bedürfen, um die Zusammenarbeit wieder zu verbessern.


Unsere Aufnahme vom 7. Juli 2016 zeigt den SPD-Bundestagsabgeordneten Wolfgang Hellmich am Rednerpult des Bundestages. Auf der Tagesordnung: Regierungserklärung und Aussprache zum anstehenden NATO-Gipfel am 8. und 9. Juli in Warschau, Polen.
(Foto: Achim Melde/Deutscher Bundestag)

Kleines Beitragsbild: Das Symbolfoto zeigt die Europaflagge und Fahnen europäischer Mitgliedsländer vor dem EU-Parlament im französischen Strasbourg.
(Foto: European Parliament/European Union 2017)


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