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Genf (Schweiz). In den Bürgerkriegsländern Syrien und Jemen werden nach Angaben internationaler Organisationen immer wieder Streubomben eingesetzt. Etwa 350 Menschen – zumeist Zivilisten – sollen 2015 in diesen beiden Ländern den besonders heimtückischen und grausamen Waffen zum Opfer gefallen sein. Dies dokumentiert der 136 Seiten starke Jahresbericht der „Cluster Munition Coalition“ (CMC), der am 1. September im Büro der Vereinten Nationen in Genf vorgestellt wurde. In Genf fand vom 5. bis 7. September auch die Konferenz der Unterzeichnerstaaten der Oslo-Konvention zum Verbot von Streumunition statt. Das Abkommen verbietet den Einsatz, die Herstellung, die Weitergabe und die Lagerung von Streubomben.

Dem Bericht „Cluster Munition Monitor 2016“ zufolge sollen die Einsätze von Streumunition in Syrien zugenommen haben, seit Russland die Truppen von Staatspräsident Baschar al-Assad unterstützt. Zwischen September 2015 bis Mitte Juli 2016 seien 76 Angriffe mit Streumunition gezählt worden, erklärte dazu Mary Wareham vom Human Rights Watch in Genf. „Inzwischen gibt es in Syrien fast täglich solche Angriffe.“ Syrien gilt ohnehin als schwer betroffenes Land – seit Juli 2012 wurden auf zehn der 14 Gouvernements des Landes 360 Angriffe mit Streumunition verübt. Die Dunkelziffer ist vermutlich noch höher.

Die CMC beschuldigt auch Saudi-Arabien, während des Konflikts im Jemen Streubomben eingesetzt zu haben. Dies sei von April 2015 bis Februar 2016 mindestens 19 Mal geschehen. In diesem Zeitraum habe eine saudisch geführte Militärkoalition Angriffe auf Stellungen der Huthi-Rebellen in dem Land geflogen, so der „Streubomben-Monitor“. Wie in Syrien, so hätten auch im Jemen zahlreiche Bombardements Wohngebieten, Märkten, Schulen und Krankenhäusern gegolten.

Weitere Opfer auch noch lange nach Ende eines Konflikts

Streu- oder Cluster-Munition wird durch Kassettenbomben oder Schüttbomben ausgebracht. Dabei dient die Bombe als Behälter für mehrere kleinere Bomblets oder Submunitionen, die nach dem Abwurf oder Abschuss verstreut werden. Die Streumunition kommt durch Fliegerbomben (Streubombe), Artilleriegeschosse (Cargo-Munition) oder Marschflugkörper-Sprengköpfe zum Einsatz.

Streubomben bedrohen durch ihre ungezielte Wirkung immer auch die Zivilbevölkerung. Sie hinterlassen zudem zahlreiche Blindgänger, die noch lange nach Ende eines Konflikts Menschen verletzen oder töten.

Weltweit sind laut „Streubomben-Monitor“ 24 Staaten und drei Gebiete durch Blindgänger von Streumunition verseucht. Zwischen Januar 2015 und Juli 2016 wurden in mindestens drei weiteren Staaten Streumunition verwendet: in der Ukraine, im Sudan und in Libyen. Vermutlich, so die CMC, auch in Bergkarabach. 2015 waren 97 Prozent der Opfer von Streumunition Zivilpersonen, 36 Prozent davon Kinder.

„Diese barbarische Waffe muss endlich aus allen Konfliktgebieten verschwinden“

Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen wie das Rote Kreuz, Human Rights Watch oder Amnesty International sowie humanitäre Initiativen wie Handicap International kämpfen seit Jahren für eine Ächtung der perfiden Munition. 2003 wurde schließlich von zivilgesellschaftlichen Gruppierungen die CMC ins Leben gerufen. Der „Cluster Munition Coalition“ gehören heute weltweit rund 150 Organisationen an, die für eine komplette Verbannung von Streumunition eintreten. CMC orientiert sich an der vorbildhaften Kampagne gegen Landminen, die ein völkerrechtliches Verbot von Landminen durchsetzen konnte (und dafür 1997 den Friedensnobelpreis bekam).

Eva Maria Fischer, Kampagnensprecherin von Handicap International Deutschland, erklärte nach Erscheinen des Reports „Cluster Munition Monitor 2016“: „Der wiederholte Einsatz von Streumunition in Syrien und im Jemen zeigt das völlige Fehlen jeder Rücksicht auf das Leben der Zivilbevölkerung und in einigen Fällen die ausdrückliche Absicht, sie zu treffen. Wir müssen die Kriegsparteien immer wieder daran erinnern, dass diese Waffen verboten sind und dass internationales Recht respektiert werden muss. Diese barbarische Waffe muss endlich aus allen Konfliktgebieten verschwinden.“

Stellt letztes US-Unternehmen wirklich die Cluster-Produktion ein?

Aus den Vereinigten Staaten kommt (vermutlich) eine gute Nachricht: Das Unternehmen Textron Systems teilte mit, keine Streubomben mehr herstellen zu wollen. Dies meldete unter anderem die Nachrichtenagentur AFP und zitierte dabei David Sylvestre, den Sprecher der im US-Bundesstaat Rhode Island ansässigen Rüstungsfirma. In einer am 30. August verbreiteten Meldung hatte Textron bereits erklärt, dass seine „Waffe mit Sensorzünder“ – so nennt die Firma ihre Streubomben – „wegen sinkender Verkaufszahlen“ vom Markt genommen werde. Textron ist momentan der letzte Produzent solcher Waffen in den Vereinigten Staaten.

Textron Systems, eine 100%ige Tochtergesellschaft von Textron Inc., stellt Streumunition des Typs CBU-97/CBU-105 Sensor-Fuzed Weapon (SFW) her. Diese enthält zehn BLU-108-Submunitionen, die wiederum jeweils vier „Skeet“-Sprengköpfe enthalten – insgesamt also eine Summe von 40 zielsuchenden Submunitionen. Wie zweifelhaft die Haltung des Unternehmens zu diesen geächteten Systemen ist, verriet Pressesprecher Sylvestre am 1. September in seinem Statement zur Einstellung der Cluster-Produktion. Die Streubomben seien „eine clevere, verlässliche Luft-Boden-Waffe, die vollkommen übereinstimmt mit der Politik des US-Verteidigungsministeriums und der geltenden Gesetze“. Trotzdem habe man angesichts geringerer Bestellungen entschieden, das Geschäft von Textron neu auszurichten, um „den künftigen Anforderungen der Kunden zu entsprechen“. Wahre Einsicht klingt anders!

Deutschland vernichtete letzte Bundeswehr-Streubombe im November 2015

Die amerikanische Regierung, die im Mai eine Textron-Lieferung von Streubomben an Saudi-Arabien für den Einsatz im Jemen blockierte (Wert dieses Rüstungsdeals rund 641 Millionen US-Dollar), hat bis heute noch nicht das zentrale Vertragswerk über die weltweite Ächtung von Streumunition ratifiziert. Laut „Cluster Munition Monitor 2016“ verfügten die USA noch im Jahr 2011 über mehr als sechs Millionen Exemplare verschiedener Cluster-Systeme.

Deutschland hatte sich bei der Unterzeichnung der Oslo-Konvention am 3. Dezember 2008 in der norwegischen Hauptstadt dazu verpflichtet, auf den Einsatz, die Entwicklung und den Erwerb von Streumunition zu verzichten. Die Bundesregierung hatte zugesichert, innerhalb von acht Jahren nach Inkrafttreten des Übereinkommens die Lagerbestände für die Bundeswehr zu vernichten. Am 25. November 2015 wurde dann in der Tat die letzte deutsche Streubombe zerstört (wir berichteten).

Ob Textron tatsächlich endgültig auf die Herstellung der SFW verzichten wird, muss abgewartet werden. Noch bewirbt der Rüstungsproduzent in seinem Onlineauftritt aktiv die BLU-108. Die SFW wurde von den amerikanischen Truppen erstmals 2003 im Irakkrieg eingesetzt – unzählige nicht explodierte Blindgänger gefährden dort bis heute Zivilisten.


Zu unserem Bildmaterial:
1. Gefährliche Hinterlassenschaft – Reste von Streubomben und Streumunition in Afghanistan.
(Foto: John Rodsted/Landmine and Cluster Munition Monitor/unter Lizenz CC-BY 2.0; vollständiger Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/)

2. Laos – eine Mutter hält das Bild ihrer beiden Töchter in der Hand, die bei der Explosion einer Streubombe schwer verletzt wurden. Die zehn Jahre alte Piou (rechts) starb später in einem Krankenhaus, ihre 15 Jahre alte Schwester Paeng überlebte.
(Foto: Giovanni Diffidenti/Landmine and Cluster Munition Monitor/unter Lizenz CC-BY 2.0; vollständiger Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/)

3. Artillerie-Streumunition vom Typ M42/M46, gefunden im April 2011 in Kambodscha.
(Foto: Stéphane De Greef/Landmine and Cluster Munition Monitor/unter Lizenz CC-BY 2.0; vollständiger Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/)

4. Nach wie vor preist Textron seine BLU-108 Submunitionen auf der Unternehmenshomepage äußerst herausgehoben an.
(Bildschirmfoto: Quelle Onlineauftritt Textron)

Kleines Beitragsbild: Nicht explodierte Streumunition vom Typ M85.
(Foto: Stéphane De Greef/Landmine and Cluster Munition Monitor/unter Lizenz CC-BY 2.0; vollständiger Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/)


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