Berlin. Die Zahl der Bundeswehrsoldaten, die bei ihrem Dienstantritt noch minderjährig waren, hat sich seit dem Jahr 2011 mehr als verdoppelt. Im vergangenen Jahr waren 1515 der insgesamt 21.092 Rekruten an ihrem ersten Tag bei der Bundeswehr noch nicht volljährig. Dies geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion des Bundestages hervor. 484 der Minderjährigen beendeten ihren Militärdienst im vergangenen Jahr noch während der Probezeit oder kurz danach. Norbert Müller, Abgeordneter der Linken und Vorsitzender der Parlamentskommission zur Wahrnehmung der Belange der Kinder (kurz Kinderkommission), appelliert an die Bundeswehr: „Die Linke fordert den sofortigen Rekrutierungsstopp Minderjähriger einschließlich der Einstellung sämtlicher an Jugendliche gerichteter Werbemaßnahmen!“
Bewerber, die noch nicht 18 Jahre alt sind, werden ausschließlich in die Truppe aufgenommen, um dort eine militärische Ausbildung zu beginnen. Die Bundesregierung weist in ihrer Antwort vom 1. Februar allerdings mit Nachdruck darauf hin: „Der Schutz der unter 18-Jährigen Freiwilligen im Rahmen ihrer Entscheidung über den Eintritt in die Streitkräfte ist unter anderem durch die notwendige Zustimmung ihrer gesetzlichen Vertretung und durch das zwingende Erfordernis der Vorlage ihres Personalausweises oder Reisepasses als verlässlichen Nachweis ihres Alters sichergestellt.“
Minderjährige Rekruten nehmen grundsätzlich an allen ihrer Laufbahn und Tätigkeit entsprechenden militärischen Ausbildungen teil. Dabei dürfen sie „eigenverantwortlich und außerhalb der militärischen Ausbildung“ keine Funktionen ausüben, in denen sie „zum Gebrauch der Waffe gezwungen“ sein könnten. Insbesondere dürfen sie nicht zu Wachdiensten mit der Waffe eingesetzt werden. Der Gebrauch der Waffe ist allein auf die Ausbildung beschränkt und unter strenge Aufsicht gestellt.
Keine Unterscheidungen gibt es in der Arbeitszeit. Sie ist durch den Paragrafen 30c des Soldatengesetzes geregelt und beträgt für alle Soldaten der Bundeswehr „grundsätzlich 41 Stunden“.
Unter 18-jährige Soldaten der Bundeswehr dürfen auch „unter keinen Umständen“ an Auslandseinsätzen ihrer Einheit teilnehmen. Eine abgegebene Verpflichtungserklärung zur Teilnahme an einer besonderen Auslandsverwendung müssen Bundeswehrangehörige, die minderjährig ihren Militärdienst angetreten haben, mit Beginn ihrer Volljährigkeit eigenhändig unterschreiben.
Nach 2011 bis Ende 2015 waren der Bundesregierung zufolge 173 Soldatinnen und Soldaten, die zum Zeitpunkt ihrer Einstellung in die Bundeswehr minderjährig waren, bei einem oder mehreren Auslandsmissionen eingesetzt. Die Teilnahme am Auslandseinsatz erfolgte bei diesem Personenkreis erst nach der Vollendung des 18. Lebensjahres.
Die Linken sind der Ansicht, dass viele Minderjährige noch nicht reif genug seien, um die Folgen einer Verpflichtung als Soldat „adäquat einschätzen“ zu können. Dies würden auch Angehörige der Bundeswehr, die teilweise von einem Dienst in der Truppe vor dem Erreichen der Volljährigkeit abrieten, bestätigen.
Weiter schreibt die Linksfraktion in der Vorbemerkung zu ihrer Kleinen Anfrage: „Untersuchungen in der britischen Armee, die 16- und 17-Jährige rekrutiert, zeigen, dass unter den jüngsten Rekrutinnen und Rekruten die Fälle von psychischen Traumata wie PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung), Mobbing, Selbstverletzung und Selbstmord deutlich höher sind als bei Erwachsenen. Für sie besteht außerdem ein höheres Risiko von Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit, Alkoholismus und Kriminalität im Anschluss an ihre Entlassung.“
Die Bundesregierung widerspricht: „Es liegen keine Erkenntnisse darüber vor, dass viele Minderjährige noch nicht reif genug seien, die ,Folgen einer Verpflichtung als Bundeswehrsoldat adäquat einschätzen‘ zu können. Die für alle Bewerberinnen und Bewerber nach einem einheitlichen Maßstab durchgeführte Eignungsfeststellung gewährleistet, dass nur Minderjährige eingeplant werden, deren Merkmalsausprägung den definierten Mindestanforderungen – wie sie auch für Volljährige gelten – in vollem Umfang entspricht.“
Sorgen bereitet den Linken auch die steigende Zahl der jungen „Abbrecher“. So beendeten im Jahr 2015 insgesamt 281 Minderjährige während der Probezeit ihren Militärdienst und 203 nach Ablauf der Probezeit. Hinzu kommen im vergangenen Jahr 316 Bundeswehrangehörige, die als Minderjährige ihren Dienst begonnen hatten, nach Ablauf der Probezeit volljährig waren und dann den Dienst vorzeitig beendet beziehungsweise einen entsprechenden Antrag dazu gestellt haben.
Über diese 800 zum Zeitpunkt ihres Dienstantritts Minderjährigen heißt es bei den Linken: „Wer sich dazu entscheidet, den freiwilligen Wehrdienst beenden zu wollen, kann dies nur innerhalb der ersten sechs Monate, die Probezeit genannt werden, problemlos“ tun. Wer aber nach Ablauf der Probezeit den Wehrdienst beenden will, sei auf das Entgegenkommen der Bundeswehr angewiesen. „Eigenmächtige Abwesenheit vom Dienst ist nach dem Wehrstrafgesetz unter Strafe gestellt – gegen wie viele der zum Dienstantritt minderjährigen Rekruten deswegen Verfahren eingeleitet wurden, kann die Bundesregierung nicht sagen“, so die Fragesteller.
Der kinder- und jugendpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion, Norbert Müller, kommentiert die Zahlen wie folgt: „Junge Menschen werden mit falschen Erwartungen geködert und verlassen [die Bundeswehr] scharenweise. Die Linke fordert den sofortigen Rekrutierungsstopp Minderjähriger einschließlich der Einstellung sämtlicher an Jugendliche gerichteter Werbemaßnahmen.“
Am 12. Februar, dem internationalen Tag gegen den Einsatz von Kindersoldaten („Red Hand Day“) äußerte sich auch das Deutsche Bündnis Kindersoldaten – ein Zusammenschluss von neun Kinderrechtsorganisationen – zu dem Thema „minderjährige Rekruten bei der Bundeswehr“.
So fordert Frank Mischo, Kinderrechtsexperte der Kindernothilfe und Bündnissprecher, einen Verzicht der Bundeswehr auf die Rekrutierung Minderjähriger, damit Deutschland eine internationale Vorbildrolle zur Reduzierung der Beteiligung von Kindern in militärischen Einheiten weltweit übernehmen könne. „Es ist schwierig, Regierungen und Rebellengruppen bei Demobilisierungen von Kindersoldaten zu erklären, wieso beispielsweise 17-Jährige aus kinderrechtlichen Gründen nicht im Militär bleiben sollen, wenn Staaten wie Deutschland dies nicht beachten.“
Ralf Willinger, Kinderrechtsexperte bei der Organisation terre des hommes, argumentiert ähnlich. Am 11. Februar sagte er der Neuen Osnabrücker Zeitung, Deutschland müsse sich seiner großen Verantwortung bewusst sein. Es gehe nicht an, dass sich die Bundesrepublik einerseits international gegen die Rekrutierung von Kindersoldaten einsetze, die Bundeswehr aber gleichzeitig jedes Jahr mehrere Tausend 17-Jährige anwerbe. Die Altersgrenze müsse auf 18 Jahre heraufgesetzt werden.
Die Bundesregierung hält dagegen: „Die Rekrutierungspraxis der Bundesrepublik Deutschland ist völkerrechtskonform. Eine Altersanhebung ist derzeit nicht vorgesehen.“
Der internationale Tag gegen den Einsatz von Kindersoldaten – „Red Hand Day“ – findet seit 2002 immer am 12. Februar statt. Denn seit 2002 legt das Zusatzprotokoll zur Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen fest, dass Kinder unter 18 Jahren nicht mehr zwangsweise zum Militärdienst eingezogen werden dürfen. Das Rekrutieren von Jungen und Mädchen unter 15 Jahren für militärische Zwecke wird sogar als Kriegsverbrechen gewertet. Laut Schätzungen werden derzeit in mehr als 20 Ländern der Erde mindestens 250.000 Jungen und Mädchen als Kindersoldaten missbraucht.
Mehr als 400.000 Menschen in über 50 Ländern weltweit haben bislang mit ihrem Handabdruck gegen den Einsatz von Kindern als Soldaten protestiert.
Zu unserem Bildangebot:
1. Das Hintergrundbild unserer Infografik stammt aus dem sächsischen Bad Salzungen. Hier fand am 9. November 2015 ein Feierliches Gelöbnis von 238 Rekruten der Panzergrenadierbrigade 37 „Freistaat Sachsen“ statt.
(Foto: Sebastian Wilke/Bundeswehr, Infografik © mediakompakt 02.16)
2. Gegen den Einsatz von Kindern als Soldaten (von links): Norbert Müller (Die Linke), Caren Marks (SPD), Eckhard Pols (CDU/CSU), Beate Walter-Rosenheimer (Bündnis 90/Die Grünen), Heiko Schmelzle (CDU/CSU) und Susann Rüthrich (SPD) am 28. Januar 2016 im Paul-Löbe-Haus in Berlin. Die Bundespolitiker präsentierten an diesem Donnerstag bei einer Veranstaltung der Kinderkommission des Bundestages ein Banner mit Handabdrücken und erinnerten so an den weltweiten „Red Hand Day“.
(Foto: Werner Schüring/Deutscher Bundestag)