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Berlin. Die Gesamtzahl der Todesopfer der Kriege und Kriegshandlungen im Irak, in Afghanistan und in Pakistan wird von der Öffentlichkeit erheblich unterschätzt. Sie liegt bei weit über einer Million Toten. Dies ist das Ergebnis einer Untersuchung, die am 19. März zeitgleich in Berlin, Washington und Ottawa veröffentlicht wurde. Die deutsche, die amerikanische und die kanadische Sektion der Vereinigung „Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges“ (International Physicians for the Prevention of Nuclear War, IPPNW) präsentierten die erschreckenden Ergebnisse an diesem Donnerstag – zwölf Jahre nach Beginn des Irakkrieges – in den Hauptstädten ihres Landes.

Die Gesamtzahl der Opfer des „Krieges gegen den Terror“, der von Amerikas damaligem Präsidenten George W. Bush unmittelbar nach den Anschlägen vom 11. September 2001 ausgerufen worden war („Global War on Terrorism“), ist kaum jemals öffentlich diskutiert worden. Offizielle Stellen gaben und geben nur wenig Zahlenmaterial bekannt. Bislang wurden die Opferzahlen meist erheblich zu niedrig angesetzt.

Da die Todesopfer in der Vergangenheit von offizieller Seite nur unzureichend erfasst und dokumentiert worden waren, gründete sich in Großbritannien während des Irakkrieges eine zivilgesellschaftliche Initiative namens „Iraq Body Count“ (IBC). Angaben von IBC zufolge hat der Irakkrieg bis heute etwa 211.000 Menschen das Leben gekostet. IBC addiert die Zahlen von überprüften Mediendaten aus Krankenhäusern und Leichenhäusern, von Nicht-Regierungsorganisationen sowie offizielle Daten.

Erste Studien korrigierten die Opferzahlen dramatisch nach oben

Die tatsächliche Zahl an Todesopfern, die der „Krieg gegen den Terror“ insgesamt forderte, ist fast zehn Mal so hoch wie bisher angenommen. Davon gehen inzwischen mehrere Studien aus.

2006 beispielsweise veröffentlichte eine Gruppe von Wissenschaftlern um den US-Epidemiologen Les Roberts eine mortalitätsbasierte Studie in der bekannten Medizinfachzeitschrift The Lancet. In dieser Studie („Mortality after the 2003 invasion of Iraq: a cross-sectional cluster sample survey“) wurde die Zahl der Todesopfer nach damals drei Jahren Krieg und Besatzungszeit im Irak auf etwa 655.000 geschätzt. Das angesehene Londoner Meinungsforschungsinstitut Opinion Research Business (ORB) veranschlagte 2007 vor dem Hintergrund der Ergebnisse einer ORB-Bevölkerungsumfrage sogar mehr als eine Million Tote bis zu diesem Zeitpunkt.

„Body Count“-Untersuchung von IPPNW zeigt erschreckendes Ausmaß der Kriege

Die drei IPPNW-Sektionen (USA, Deutschland und Kanada) haben zum Jahrestag des Irakkrieges eine aktuelle Schätzung der Gesamtzahl der Todesopfer für die drei Hauptschauplätze des Anti-Terror-Krieges – Irak, Afghanistan und Pakistan – vorgenommen. Ergebnis ist die 100 Seiten starke Arbeit „Body Count – Casualty Figures after 10 Years of the War on Terror“. Es handelt sich bei dieser Veröffentlichung um die erste internationale Ausgabe in englischer Sprache; in deutscher Sprache sind zuvor bereits drei jeweils aktualisierte und ergänzte Auflagen erschienen (im Mai 2012, im März 2013 und im Oktober 2014).

Die deutsche Sektion – „Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung“ – bewertet das Gesamtergebnis in ihrer Presseerklärung am 19. März so: „Unter der Maßgabe, dass die Quellen für diese Zahlen sehr heterogen und die statistischen Intervalle für entsprechende Studien sehr breit sind, summieren sich die etwa eine Million Toten aus zehn Jahren Irakkrieg sowie über 220.000 Opfer aus Afghanistan und circa 80.000 aus Pakistan auf insgesamt etwa 1,3 Millionen Todesopfer. Dieses erschreckende Ausmaß muss dringend öffentlich wahrgenommen und diskutiert werden.“

Hans-Christof von Sponeck, ehemaliger Koordinator der Vereinten Nationen für humanitäre Fragen im Irak (1998-2000), nennt die Untersuchung im Vorwort „ein mächtiges Aide-Mémoire für die rechtliche und moralische Verantwortung, Täter zur Rechenschaft zu ziehen“. Die amerikanische IPPNW-Sektion spricht davon, dass „Body Count“ die Dimension menschlicher Zerstörung, die weltweit Hass anfeuere, schonungslos offenbare. Außerdem liefere „Body Count“ einen Kontext, um den Aufstieg brutaler Kräfte, wie den der Terrormiliz „Islamischer Staat“, besser verstehen zu können, schreiben die amerikanischen Co-Autoren. Diese Kräfte würden als Folge der US-Politik „weiter gedeihen“.

Bundesregierung weiß von keiner „Statistik ziviler Opfer in Afghanistan“

Ziemlich unbefriedigend, ja unbegreiflich bleibt eine Auskunft der Bundesregierung zum Thema „Zivile Opfer des Afghanistankrieges“. Wolfgang Gehrcke, Jan Korte, Jan van Aken und weitere Bundestagsabgeordnete der Fraktion Die Linke hatten am 8. Juli vergangenen Jahres in einer Großen Anfrage von den Verantwortlichen eine Bilanz der Ereignisse und Entwicklungen am Hindukusch eingefordert. Dabei wollten die Parlamentarier auch wissen, wie viele Zivilisten von „Bundeswehrtruppen oder nach Kenntnis der Bundesregierung in von Offizieren der Bundeswehr angeforderten Einsätzen verbündeter Truppen im Rahmen von ISAF, OEF [Anm.: Operation Enduring Freedom] sowie im Rahmen geheimer Operationen seit dem Jahr 2001“ getötet worden sind.

In der Antwort vom 27. Februar heißt es: „Der Bundesregierung liegt keine Statistik zu der Gesamtzahl der seit 2001 von ISAF- beziehungsweise OEF-Kräften verursachten zivilen Opfer in Afghanistan vor. Eine entsprechende Statistik wird nicht geführt.“ An anderer Stelle erfährt man: „In den von der Bundesregierung beobachteten ,Sicherheitsrelevanten Zwischenfällen‘ werden für Afghanistan zivile Todesopfer registriert, die unmittelbar durch den Konflikt zwischen regierungsfeindlichen Kräften und Sicherheitskräften getötet wurden. Eine Unterscheidung, ob getötete Zivilpersonen als Opfer den Anschlägen der regierungsfeindlichen Kräfte zuzuordnen sind oder den Gefechten regierungsfeindlicher Kräfte mit den afghanischen Sicherheitskräften oder mit ISAF-Kräften zum Opfer fielen, ist in diesen Statistiken nicht möglich.“

Tübinger Verein beklagt auf deutscher Seite „großes politisches Schweigen“

Mit der Frage „Wie viele Menschen hat die Bundeswehr in Afghanistan getötet?“ befasste sich vor Kurzem auch Thomas Mickan, Politikwissenschaftler und Mitarbeiter des Tübinger Vereins „Informationsstelle Militarisierung“ (IMI). In seinem am 12. Februar dieses Jahres veröffentlichten Beitrag schreibt er in der Einleitung: „Die Zahl der getöteten Feinde öffentlich preiszugeben, auszuschmücken und damit die eigene militärische Potenz zu unterstreichen oder die Moral der Truppe zu erhöhen, war seit Jahrtausenden Kriegspraxis. Besondere Bekanntheit erreichte diese Praxis im Vietnamkrieg durch die US-Armee, die damit ihre Fortschritte im Krieg kennzeichnen wollte (Body Count), da sich etwa Gebietsgewinne gegen einen asymmetrisch kämpfenden Feind als trügerisch erwiesen.“

Als ebenso trügerisch hätten sich allerdings in Vietnam auch die gemeldeten Zahlen erwiesen, so Mickan weiter. Sie seien mitunter viel zu hoch oder zu niedrig übermittelt worden, um entweder der eigenen Karriere einen Schub zu verleihen, tote Zivilisten zu vertuschen oder um schlicht die monatliche Tötungsquote zu erfüllen. Während die USA im Vietnamkrieg ihre Tötungsraten als vermeintliche Erfolgsmeldungen kommuniziert hätten, verhalte sich der Fall auf deutscher Seite für den Afghanistankrieg gegenteilig. „Was die Tötungen durch deutsche Soldaten und Soldatinnen betrifft, herrscht ein großes politisches Schweigen.“

Tötete die Bundeswehr in Afghanistan mehr als 270 Zivilisten?

Mickan kommt durch seine Internetrecherchen sowie die Auswertung mittlerweile frei zugänglich gewordener Regierungsdokumente (wie die von der WAZ-Zeitung veröffentlichten „Unterrichtungen des Parlaments“ oder das „Afghan War Diary“ der Enthüllungsplattform WikiLeaks) und anderer Quellen zu dem Schluss, dass von „mindestens 126 bis 132 getöteten Menschen durch die Bundeswehr ausgegangen werden [muss], plus die veranschlagte Zahl von 142 Opfern des Kunduz-Bombardements – bei den so insgesamt rund 270 getöteten Menschen sind auch jene mit erfasst, bei denen die Bundeswehr, wie auch bei den Tanklastzügen, Luftnahunterstützung erhalten hat“.

Diese Zahl sei äußerst konservativ und beschränke sich lediglich auf die öffentlich zugänglichen Quellen, insbesondere im Zeitraum 2009 und 2010, betont der Autor. Die Zahl sei zudem „nur eine vorläufige erste Schätzung, die sich im Rahmen einer weiteren Aufarbeitung des Afghanistankonflikts mit großer Wahrscheinlichkeit noch um ein Vielfaches erhöhen“ werde. Alles in allem müsse „wenn auch mit großer Vorsicht, wahrscheinlich eine deutlich höhere Zahl an Tötungen durch die Bundeswehr in Afghanistan angenommen werden, als wohl allgemein vermutet wird.“


Zu unserer Bildfolge:
1. Titelseite der IPPNW-Studie „Body Count“. Die Aufnahme im Hintergrund entstand am 9. November 2004 im irakischen Falludscha und zeigt zwei US-Marines, die unter schwerem feindlichen Beschuss einen verwundeten Kameraden bergen wollen.
(Hintergrundfoto: Joel A. Chaverri/U.S. Marine Corps)

2. Sicherheitskräfte suchen am 18. November 2005 in der irakischen Hauptstadt nach Opfern zweier Bombenanschläge.
(Foto: Alayne Conway)

3. Eine US-Soldatin bringt ein verwundetes irakisches Mädchen ins „Charlie Medical Center“ im Camp Ramadi. Der Fotograf machte diese Aufnahme am 20. März 2007.
(Foto: James F. Cline III./U.S. Marine Corps)

4. Zwei Soldaten der U.S. Army versorgen am 28. Juni 2011 im Watapur-Distrikt in der Provinz Kunar einen verwundeten afghanischen Zivilisten.
(Foto: Tia Sokimson/U.S. Army)

Kleines Beitragsbild: Versorgung eines afghanischen Zivilisten am 20. März 2013 im vorgeschobenen Militärstützpunkt Delaram in der Helmand-Provinz. Der Afghane war von einer Sprengfalle verletzt worden.
(Foto: Tammy K. Hineline/U.S. Marine Corps)


Kommentare

  1. politisch inkorrekt | 31. März 2015 um 20:38 Uhr

    „Tötete die Bundeswehr in Afghanistan mehr als 270 Zivilisten?“

    Was soll diese Unterstellung? Wieso sind auf einen Schlag alle beim Luftschlag von Kunduz getöteten Personen als Zivilisten eingestuft? Nachweislich gab es in der Folge des Luftschlages eine erkennbare Reduktion der Gefechte um Kunduz, einfach nur deshalb weil man auch viele feindliche Kämpfer getroffen hatte. Die Berichte um die vielen „Daumenhoch“ der Afghanen direkt nach dem Angriff deuten auch in diese Richtung.

    Die Zahl von 142 ist im Übrigen eine Maximalschätzung und mehr als fragwürdig.

    Das ist Hetze gegen die Bundeswehr.

    pi

  2. Klaus Diether | 1. April 2015 um 13:23 Uhr

    Nur so lässt sich die Weltbevölkerung nachhaltig reduzieren. Fazit: Mehr Terror-Kriege, mehr Idioten an die Macht, mehr Merkels und Gabriels in die Regierungen, mehr Putins als Regierungschefs und bald hat die Welt kein Hungerproblem und Überbevölkerung gibt es auch nicht mehr.

  3. Christian | 13. Juni 2015 um 03:09 Uhr

    Und sowas schreibt die Bundeswehr? UN-GLAUB-LICH!

    Kann man davon ausgehen, dass hiermit die Sinnlosigkeit geopolitischer Interventionen unter fragwürdigen Motiven erkannt wurde und sich die Bundeswehr nächste Woche selbst auflöst?

  4. Seb | 20. November 2015 um 22:52 Uhr

    Warum hinterfragt man immer, was die Deutschen dazu beigetragen haben? Bzw. wie böse der Putin doch ist? Öffnet doch mal eure Augen und geht mal die Daten durch, was die Amerikaner machen, wer die Urheber von all dem sind. Wer den Hass gegen den Islam verbreitet, wer die meisten Zivilisten umgebracht hat und Waffen an jeden versendet. Wer Überwachungsstützpunkte überall hat und empört ist, wenn man ihm etwas verbietet. Wer die Bevölkerung medial naiv hält und alles abzockt… Man könnte dies alles noch stundenlang weiterspinnen. Hört nicht auf die Medien, sondern bildet euch weiter und guckt über den Tellerrand hinaus.

  5. Ben | 19. Mai 2017 um 12:22 Uhr

    … Was zum Teufel hat ein Soldat, egal welcher Nationalität, in einem fremden Land zu suchen? Held sein? Helden sind tot, weil sie nicht in der Lage waren, das zu tun, was sinnvoll ist: Zuhause bleiben!

  6. Webdesign Köln | 29. September 2017 um 10:01 Uhr

    Sehr interessant… Danke für den Beitrag.

  7. Neferati | 25. November 2017 um 10:36 Uhr

    Deutschland macht seit vielen Jahren mit den USA gemeinsame Sache. Hat man das hinterfragt oder kritisiert, wurde man gebasht. Heute noch.

    Deutschland hat in Eroberungskriegen nichts zu suchen. Und das sind Eroberungskriege seitens der USA. Die haben in den Ländern überhaupt nichts zu suchen. […] Natürlich tragen deutsche Handlanger der USA […] eine große Schuld am sinnlosen Tod vieler Menschen, nicht nur Zivilisten. Diese Kriege sind sinnlos und dienen nur der Kolonialisierung und Unterwerfung anderer Länder – vor allem der mit reichen Bodenschätzen. […]

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