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Kiel/Rostock. Mindestens elf Personen und zwei Rettungskräfte starben, als die Fähre „Norman Atlantic“ am 28. Dezember 2014 auf dem Weg von Patras (Griechenland) nach Ancona (Italien) nahe der griechischen Insel Korfu in Brand geriet. Nach diesem schweren Unglück, das auch zwei Deutschen das Leben kostete, hat der künftige Wehrbeauftragte Hans-Peter Bartels die Einsatzbereitschaft von seeflugtauglichen Hubschraubern unserer Marine in Nord- und Ostsee als „desaströs“ bezeichnet. Der SPD-Politiker äußerte sich unmittelbar nach der Havarie in der Adria gegenüber den Kieler Nachrichten: „Wir können von Glück sagen, dass sich dieses Unglück nicht hier ereignet hat.“ Bereits 2012 hatte der FDP-Politiker Gero Hocker, Abgeordneter des Niedersächsischen Landtages, die Hubschrauberausstattung der deutschen Marine scharf kritisiert. Ihre Hubschrauberkapazitäten seien für den Ernstfall „zu stark eingeschränkt“. Eine gute Nachricht kam von der Teilstreitkraft am vergangenen Montag (12. Januar): die Bordhubschrauber Sea Lynx Mk.88A haben – wenn auch noch limitiert – den Flugbetrieb wieder aufgenommen.

Hans-Peter Bartels, derzeit noch Vorsitzender des Verteidigungsausschusses des Bundestages, formulierte im Gespräch mit den Kieler Nachrichten massive Bedenken. Wäre zum Beispiel das Schwesterschiff der „Norman Atlantic“, die zwischen Lübeck und Lettland pendelnde „Stena Flavia“, am Wochenende in der Lübecker Bucht in Brand geraten, wären die Passagiere auf Hubschrauber aus Dänemark und Schweden angewiesen gewesen, schreibt die Zeitung, die auch Experten zu dem Szenario befragt hatte.

Wie das Marinekommando in Rostock dem Blatt bestätigte, wird der Such- und Rettungsdienst der Marine (Search and Rescue, SAR) gegenwärtig nur noch von der Nordseeinsel Helgoland aus geflogen – von einem einzigen 40 Jahre alten Hubschrauber Sea King Mk.41. Alle anderen Helikopter waren 2012 von Kiel ins niedersächsische Nordholz verlegt worden.

Von insgesamt 43 Hubschraubern der Marine gerade mal sieben einsatzbereit

Bereits vor gut vier Monaten hatten Arne Meyer vom NDR und Christian Thiels von der Tagesschau über das Dilemma berichtet. In ihrem Beitrag „Ausrüstungsmisere gefährdet Seerettung“ erklärten sie am 10. Oktober vergangenen Jahres die Hintergründe: „Die aktuelle Misere der Seenotrettung durch die Bundeswehr hat ihre Ursache im allgemein schlechten Zustand des gesamten Gerätes der Streitkräfte. Schon seit dem Sommer weiß das Verteidigungsministerium, dass von 43 Marinehelikoptern gerade mal sieben einsatzfähig sind. Zu den Sorgenkindern gehört auch die betagte Sea King, die eigentlich auch die Such- und Rettungsmissionen durchführen soll. Der Ersatz für die Sea King durch modernere Hubschrauber vom Typ MH90 Sea Lion ist frühestens für Ende 2017 vorgesehen.“

Zur Lage der Seenotrettung hatte sich der designierte Wehrbeauftragte Hans-Peter Bartels bereits mehrfach geäußert, so auch im Oktober gegenüber der Tagesschau. Das Management der Aufgabe „Seenotrettung“ an den Küsten sei „momentan nicht perfekt“. Die gesamte Situation beurteile er als „extrem ärgerlich“, so der SPD-Verteidigungsexperte damals auch mit Blick auf die zu diesem Zeitpunkt erschütternden Klarstände bei der Marine. Von 21 Hubschraubern des Typs Sea King waren Ende September 2014 lediglich 15 Maschinen verfügbar, nur drei davon waren einsatzbereit. Ähnlich düster die Situation bei den Marinehubschraubern Sea Lynx: Gesamtbestand 22, verfügbar 18, einsatzbereit vier. Den Bereich der Seenotrettung habe die Bundeswehr vom Verkehrsministerium übernommen, erinnerte Bartels im Oktober, „aber das muss man dann auch leisten können“.

Dänische und schwedische Seestreitkräfte fliegen rund um die Uhr

Zurück zum Hier und Heute und zu einer Situation, die nicht besser geworden ist. Ulrike Windhövel, Sprecherin des Havariekommandos in Cuxhaven, schilderte den Kieler Nachrichten vor Kurzem die momentane Lage. Bei Großeinsätzen sei man auf Hubschrauber angewiesen, sagte sie. „Dabei setzen wir schon seit geraumer Zeit auch auf die internationale Kooperation mit Dänemark und Schweden.“ Der Grund: Die deutsche Marine habe in der jüngeren Vergangenheit regelmäßig „passen müssen“, denn im Marinefliegerhorst Nordholz – etwa 45 Flugminuten von Kiel entfernt – seien wegen technischer Probleme im Herbst zeitweise nur ein oder zwei der insgesamt 43 veralteten Marinehubschrauber zur Verfügung gestanden, so Windhövel.

Nachts müsse der Verkehr dort wegen der Personalengpässe bei der Flughafenfeuerwehr immer öfter sogar ganz ruhen, erfahren die Kieler Nachrichten weiter. Die dänischen und britischen Seestreitkräfte hingegen würden rund um die Uhr mit modernen Hubschraubern des Typs AW101 Merlin von AgustaWestland fliegen.

Erinnerungen an das Feuer auf der Ostseefähre „MS Lisco Gloria“

Das Unglück der „Norman Atlantic“ in der Adria weckt auch Erinnerungen an das verheerende Feuer auf der Ostseefähre „Lisco Gloria“ am 9. Oktober 2010 vor Fehmarn. Im Einsatzbericht des damaligen Leitenden Notarztes See lesen wir: An diesem Samstag „brach kurz nach Mitternacht auf der Autofähre ,MS Lisco Gloria‘ – während der Reise von Kiel nach Klaidpeda in Litauen rund fünf Seemeilen nordwestlich von Fehmarn – auf dem Fahrzeugdeck des Schiffes ein Feuer aus. Als Ursache wurde ein Kurzschluss im Kühlaggregat eines Lkw-Trailers vermutet, der zum Ausbruch eines Feuers führte, das sich in sehr kurzer Zeit über das gesamte Fahrzeugdeck der Fähre ausbreitete […] Nachdem Löschversuche der Besatzung keinen Erfolg zeigten, mussten die Passagiere in die Rettungsboote und Rettungsinseln evakuiert werden, das Schiff wurde von der Besatzung aufgegeben […] Zum Zeitpunkt des Unglücks befanden sich auf der Fähre 32 Besatzungsmitglieder und 204 Passagiere.“

Der Notruf des Kapitäns erreichte kurz nach Mitternacht das Maritime Rescue Coordination Center (MRCC) der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) in Bremen und auch das militärisch besetzte Rescue Coordination Center (RCC) in Glücksburg. Ein Sea King-Marinehubschrauber startete in die Nacht.

Professionelle Arbeit der Einsatzkräfte und viele glückliche Umstände

Die Besatzung des Sea King flog später drei Verletzte direkt zum Marinefliegerhost Kiel-Holtenau und brachte eine Oberstabsärztin an den Unglücksort. Das Gros der Schiffbrüchigen wurde nach und nach von einem Schiff der Bundespolizei, der „Neustrelitz“, und von der Fähre „MS Deutschland“ aufgenommen. Der Einsatzbericht stellt am Ende lapidar fest: „Bei ähnlichen Fährbränden in den letzten 20 Jahren hatte es, neben einer großen Anzahl von Verletzten, immer Tote im zwei- bis dreistelligen Bereich gegeben. Dass bei diesem Unglück nicht viele Menschen ernsthaften Schaden genommen haben, ist neben der professionellen Arbeit der Einsatzkräfte vielen glücklichen Umständen zu verdanken.“

Der Fall der Ostseefähre „Lisco Gloria“ habe gezeigt, dass schnell verfügbare Hubschrauber ein wichtiges Rettungsmittel seien, erklärte Jürgen Rohweder gegenüber den Kieler Nachrichten. Der Vorsitzende des Nautischen Vereins zu Kiel bedauert: „Die Verlegung der Marinehubschrauber ins niedersächsische Nordholz war ein großer Fehler für die Ostsee.“ Etliche Passagiere der „Lisco Gloria“ verdankten ihr Leben vor allem dem raschen Hubschraubereinsatz und dem umsichtigen Handeln der Besatzungen (neben dem deutschen Sea King waren auch Helikopter aus Schweden und Dänemark im Einsatz). Rohweder zieht noch einmal die Parallelen zur aktuellen Havarie im Mittelmeer: „Auch bei der ,Lisco Gloria‘ war der Brand auf dem Autodeck ausgebrochen. Die Flammen hatten sich auf dem offenen Deck rasend schnell ausbreiten können.“ Wie jetzt bei der „Norman Atlantic“ …

Verfügt Deutschland über ein „sehr gut ausgebautes Sicherheitssystem“?

Die Bundesregierung sieht Deutschland für Notfälle auf See gut gerüstet. Diesen Eindruck gewannen die Redakteure der Kieler Nachrichten bei ihren Recherchen zu dem heiklen Thema. „Wir haben ein sehr gut ausgebautes Sicherheitssystem“, hieß es beispielsweise im Bundesverkehrsministerium unter Hinweis auf das Cuxhavener Havariekommando. Die gemeinsame Einrichtung von Bund und Küstenländern koordiniert das Unfallmanagement auf Nord- und Ostsee.

Auch die Bundeswehr versicherte, den Verpflichtungen im Rahmen des SAR-Auftrages voll nachzukommen. Ein Sprecher des Verteidigungsministeriums sagte der Zeitung, der auf Helgoland stationierte Sea King-Hubschrauber sei „rund um die Uhr sofort einsetzbar“. Zusätzlich stehe eine weitere Maschine in Nordholz für Rettungseinsätze zur Verfügung.

Der FDP-Umweltpolitiker Gero Hocker hatte bereits 2012 die Verantwortlichen aufgefordert, Lehren aus dem „Lisco Gloria“-Unglück zu ziehen. Seine Befürchtungen: Die militärischen Hubschrauberkapazitäten könnten „für den Ernstfall zu stark eingeschränkt“ sein. Der Landtagsabgeordnete hatte in einer Presseerklärung den Hubschrauberbestand der deutschen Marine heftig kritisiert: „Hier wird ein Nachfolger des aktuellen Modells dringend benötigt. Wenn sich daran nichts ändert, wird die Bundeswehr bis über das Jahr 2020 mit dann etwa 50 Jahre alten Hubschraubern agieren. Das trägt langfristig nicht unbedingt zur Sicherheit der Nordsee und des Wattenmeers bei.“

Fregatte „Lübeck“ ohne Bordhubschrauber im Auslandseinsatz

Die Einsatzbereitschaft unserer Marine ist seit dem Sommer vergangenen Jahres in der Tat mehr als eingeschränkt. Wie die Süddeutsche Zeitung berichtet hatte, waren bereits im Juni 2014 erste Risse an Sea Lynx-Helikoptern festgestellt worden. Was folgte war die ministerielle Anordnung, alle 22 Maschinen bis zur Klärung der Ursachen und Behebung der Schäden stillzulegen. Die Fregatte „Lübeck“ musste deswegen auch am 22. September zum Einsatz am Horn von Afrika ohne einen Bordhubschrauber Sea Lynx aus Wilhelmshaven auslaufen (Schiff und Besatzung unter dem Kommando von Fregattenkapitän Peter Christian Semrau werden im Februar von diesem Einsatz zurückerwartet).

Da auch die 21 Hubschrauber des Typs Sea King einem Bericht von Spiegel Online zufolge als „altersschwach und wegen ständiger Reparaturen als nur sehr bedingt einsatzbereit“ gelten, liegt derzeit die Flotte der deutschen Marine-Drehflügler fast völlig danieder. Doch am Horizont erscheint ein Lichtstreif …

Baldige Rückkehr der Sea Lynx in den Einsatzbetrieb?

Wie das Presse- und Informationszentrum der Marine in Rostock am 12. Januar in einem Onlinebeitrag mitteilte, haben die „Sea Lynx Mk.88A nach erfolgter Instandsetzung wieder den ersten Flugbetrieb aufgenommen“. Erinnert wurde auch noch einmal daran, dass die derzeitigen Einschränkungen durch Inspektionsintervalle und Inspektionsintensität Auswirkungen auf die technische Verfügbarkeit und somit auf die operative Verfügbarkeit des Bordhubschraubers – sowohl am Heimatstandort als auch für die Einschiffung an Bord – hätten. Voraussichtlich könnten aber „im zweiten Quartal dieses Jahres“ zwei Sea Lynx auf der Fregatte „Bayern“ für den Einsatz eingeschifft werden.

Über die entdeckten Schäden, die zur vorübergehenden Stilllegung dieses Hubschraubertyps geführt haben, heißt es in der Verlautbarung: „Nach einer gemeinsamen Fehler- und Ursachenanalyse stand für Hersteller und die systembetreuende Firma das Ergebnis fest: Der starre Heckbereich des Bordhubschraubers ,Sea Lynx‘ führt am Zwischengetriebe zu einer besonderen Belastung. Die erkannten strukturellen Schäden am Träger des Heckrotors der Hubschrauber werden derzeit mit Industrieunterstützung behoben.“

Sicherheit der Luftfahrzeugbesatzungen hat oberste Priorität

Zur möglichen Wiederaufnahme des Flugbetriebs erklärt die Marine, eine teilweise Aufnahme sei zwar bereits möglich. Einschränkungen würden jedoch bis zum vollständigen Abschluss der Reparaturarbeiten bestehen bleiben, da die Sicherheit für die Luftfahrzeugbesatzungen oberste Priorität habe. Vorgaben – wie beispielsweise die definierte Anzahl an Flugstunden, Starts und Landungen oder eine Begrenzung der maximal zulässigen Geschwindigkeit – dürften keinesfalls abgeändert werden. Zudem seien die Inspektionsintervalle verkürzt und die Inspektionsintensität erhöht worden, um einen sicheren Flugbetrieb zu gewährleisten.

Der Pressetext schließt mit dem Hinweis: „Der eingeschränkte Flugbetrieb wird jetzt im ersten Quartal genutzt, um die Besatzungen so zu qualifizieren, dass diese schnellstmöglich unter Einsatzbedingungen fliegen können. Dieses Training ist Voraussetzung für die operative Einschiffung von den Bordhubschraubern Sea Lynx für die Einsätze der Marine, wie zum Beispiel für Atalanta.“


Die drei Aufnahmen zeigen:
1. Hubschrauber Sea King Mk.41 der deutschen Marine im Mai 2012 bei der SAR-Großübung „Baltic SAREX“. Das Foto entstand vor der Küste der dänischen Insel Bornholm. An der Übung beteiligten sich damals rund 30 Schiffe mit 400 Seeleuten sowie mehrere Hubschrauber. Die SAR-Maschinen kamen aus Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Lettland, Litauen, Polen, Russland und Schweden.
(Foto: Thomas Lerdo/Bundeswehr)

2. Fähre „Norman Atlantic“. Das ausgebrannte Schiff wurde nach der Havarie nahe Korfu in den süditalienischen Hafen Brindisi geschleppt.
(Foto: protothema)

3. Bordhubschrauber Sea Lynx Mk.88A. Das Bild wurde im Juni 2007 beim UNIFIL-Einsatz der Fregatte „Niedersachsen“ gemacht.
(Foto: Jorge Aramburu/United Nations)


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