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Mainz/Berlin/Büchel. „Deutschland muss deutliche Zeichen für eine Welt frei von Atomwaffen setzen“ – so lautete der fraktionsübergreifende Antrag von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen, der dem Bundestag am 26. März 2010 zur Beratung und Abstimmung vorlag. In dem Dokument forderte das Parlament damals die Bundesregierung unter anderem auf, sich „auch bei der Ausarbeitung eines neuen strategischen Konzepts der NATO im Bündnis sowie gegenüber den amerikanischen Verbündeten mit Nachdruck für den Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland einzusetzen“. Der Antrag ist an diesem Freitag vor gut fünf Jahren mit den Stimmen der einbringenden Fraktionen und gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke mit breiter Mehrheit angenommen worden. Mittlerweile aber hat die Realität diese parlamentarische Initiative eingeholt. Statt Komplettabzug aller atomaren US-Sprengsätze aus unserem Land soll nun möglicherweise sogar nachgerüstet werden …

Wie das ZDF-Magazin „Frontal 21“ am heutigen Dienstag (22. September; 21 Uhr) berichten wird, sollen „in diesen Tagen“ auf dem Bundeswehr-Fliegerhorst Büchel in Rheinland-Pfalz die Vorbereitungen für die Stationierung neuer amerikanischer Atomwaffen beginnen. Der Sender beruft sich dabei auf US-Haushaltspläne, die ihm vorliegen.

Rüstungsexperten wie Hans M. Kristensen bestätigen, dass die neuen taktischen Nuklearwaffen vom Typ B61-12 wesentlich zielgenauer sind als die Atombomben, die bislang in Büchel lagern. Bereits im November 2012 hatte sich der Direktor der Initiative „Nuclear Information Project“ der Vereinigung amerikanischer Wissenschaftler (Federation of American Scientists, FAS) mit einem Fachbeitrag an die Öffentlichkeit gewandt und darin die präzisionsgelenkte B61-12-Bombe näher beschrieben.

Grenzen zwischen taktischen und strategischen Atomwaffen verwischen

Im Verteidigungsfall sollen auch deutsche Tornadopiloten im Rahmen der NATO-Strategie der „Nuklearen Teilhabe“ Angriffe mit den US-Sprengsätzen fliegen. „Mit den neuen Bomben verwischen die Grenzen zwischen taktischen und strategischen Atomwaffen“, warnt FAS-Fachmann Kristensen.

Das Konzept „Nukleare Teilhabe“ ist Teil der NATO-Abschreckungspolitik. Mitgliedstaaten des Bündnisses ohne eigene Nuklearwaffen werden dabei in die Einsatzplanung und in den Einsatz der atomaren Waffen selbst mit einbezogen. Zur „Nuklearen Teilhabe“ gehört, dass beteiligte Staaten wie Deutschland in den entsprechenden Gremien mitberaten und mitentscheiden. Außerdem schaffen sie die technischen Voraussetzungen für den Nukleareinsatz, in dem sie die Waffen auf ihrem Territorium lagern lassen und geeignete Flugzeuge bereithalten. In Büchel beim Taktischen Luftwaffengeschwader 33 ist dies der Jagdbomber Tornado IDS (Interdiction Strike).

Die im Rahmen der „Nuklearen Teilhabe“ in den jeweiligen Staaten ohne eigene Atomwaffen gelagerten atomaren Systeme bleiben im Frieden und auch im Verteidigungsfall (bis zur Zündung) stets unter US-Hoheit. Über die nötigen Codes verfügt nur die amerikanische Führung. Die Zugangscodes unterliegen strengster Geheimhaltung.

Verletzung des Vertrages über die Nichtverbreitung von Atomwaffen

Kritiker des Konzepts „Nukleare Teilhabe“ sind trotz der strengen Hoheits- und Code-Regelung der Auffassung, dass die Weitergabe und Stationierung von amerikanischen Atomwaffen in anderen NATO-Staaten im Rahmen der Teilhabe einer Verletzung des Atomwaffensperrvertrages gleichkommt. Mit der vorgesehenen Weitergabe der Systeme an die Luftwaffen der „Teilhabe“-Staaten im Verteidigungsfall würde gegen Artikel I und II des Vertrags verstoßen. Sie untersagen die Weitergabe oder Annahme der unmittelbaren oder mittelbaren Verfügungsgewalt.

Gegenüber „Frontal 21“ erklärte die Leiterin der Abteilung für Information und Presse des Außenministeriums der Russischen Föderation, Maria Sacharowa: „Uns beunruhigt, dass Staaten, die eigentlich keine Atomwaffen besitzen, den Einsatz dieser Waffen üben, und zwar im Rahmen der NATO-Praxis der Nuklearen Teilhabe.“ Dies sei eine Verletzung der Artikel 1 und 2 des Vertrages über die Nichtverbreitung von Atomwaffen“, beklagte auch die russische Außenamtssprecherin.

SPD-Politiker bezweifelt Zusammenhang zwischen Investitionen und Nachrüstung

In seiner Pressemitteilung „Stationierung neuer US-Atomwaffen in Deutschland beginnt“ im Vorfeld des Magazinbeitrages von „Frontal 21“ zitierte das ZDF am 21. September auch den SPD-Bundestagsabgeordneten Thomas Hitschler (Wahlkreis Südpfalz). Dieser habe bestätigt, so der Sender, dass „die Bundesregierung in den kommenden Jahren rund 120 Millionen Euro in den Bundeswehrstandort Büchel investieren will. Mit diesem Geld soll die Landebahn des Flugplatzes mit einem modernen Instrumentenanflugsystem ausgestattet werden“.

Der Politiker, Mitglied im Verteidigungsausschuss des Bundestages, distanziert sich inzwischen mit einer eigenen Presseerklärung von dieser Behauptung. Hitschler: „Die US-Haushaltspläne sind mir nicht bekannt. Ein direkter Zusammenhang zwischen den Sanierungsmaßnahmen am Bundeswehrstandort Büchel und der Stationierung neuer US-Atomwaffen scheint mir aber eher unwahrscheinlich. Die Infrastrukturmaßnahmen in Büchel sind langfristig angelegt. In den letzten fünf Jahren wurden bereits 19 Millionen Euro in dringend notwendige Baumaßnahmen investiert. Die anstehenden Investitionen in Höhe von 112 Millionen Euro betreffen diverse Neubauten und Maßnahmen. Die Start- und Landebahn ist dabei nur ein Teil. Sie befindet sich durch die letzte Winterperiode in einem schlechten Zustand. Deshalb wurden bereits im April Sofortmaßnahmen eingeleitet, um den sicheren Flugbetrieb bis zur Grundinstandsetzung in voraussichtlich drei Jahren sicherzustellen.“

Nach ZDF-Informationen sollen weitere europäische Standorte amerikanischer Atomwaffen wie die Luftwaffenbasen in Incirlik (Türkei) und Aviano (Italien) modernisiert werden. Auch dort wollen die US-Streitkräfte mit neuen Nuklearbomben vom Typ B61-12 nachrüsten, berichtet „Frontal 21“ und bezieht sich dabei auf Hans Kristensen vom „Nuclear Information Project“.

In seinem 2012 veröffentlichten Beitrag über die neuen B61-12-Bomben hatte der Experte eine interessante Zahl genannt. Für die erste Phase des Modernisierungsprojektes, die technische Umsetzung und die Vorbereitung der Produktion, würde der Hersteller Boeing 178,6 Millionen US-Dollar erhalten. Der Rüstungsvertrag beinhalte zudem die Option für eine zweite Phase mit Serienproduktion, so Kristensen.

Große persönliche Freude über Annahme des interfraktionellen Antrags

Als der Bundestag vor rund fünf im Rahmen seiner damaligen Abrüstungsdebatte mit übergroßer Mehrheit der Abgeordneten den gemeinsamen Antrag 17/1159 (der unter anderem – wie bereits erwähnt – den Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland forderte) annahm, gaben sich die Unterstützer fast schon euphorisch. Nachzuempfinden im stenografischen Bericht dieser 35. Sitzung vom 26. März 2010.

Die FDP-Politikerin Elke Hoff beispielsweise sagte im Namen ihrer Fraktion: „Auch ich möchte an dieser Stelle meine große persönliche Freude darüber zum Ausdruck bringen, dass es den Frauen und Männern in den verschiedenen Fraktionen gelungen ist, einen gemeinsamen Antrag für den Deutschen Bundestag auf den Weg zu bringen. Wir setzen damit ein starkes Signal […]. Deutschland hat […] als Land, das während des Kalten Krieges ein potenzielles Feld für einen Atomkrieg war, eine besondere Verantwortung. Deshalb nutzen wir diese Chance gemeinsam mit der Bundesregierung. Mit dem vorliegenden interfraktionellen Antrag bekennt sich der Deutsche Bundestag zu dieser gemeinsamen Verantwortung. Für unsere Abrüstungsziele müssen wir aber auch endlich die überkommenen militärischen Kalkulationen des Kalten Krieges über Bord werfen. Wir werden die Konflikte des 21. Jahrhunderts nicht mehr mit den Strategien des 20. Jahrhunderts bewältigen können.“ Und die FDP-Sicherheitsexpertin erinnert an diesem Freitag im Parlament daran: „Es ist deshalb richtig, dass die christlich-liberale Koalition in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart hat, sich im Rahmen der Ausarbeitung des neuen strategischen Konzepts und in enger Zusammenarbeit und Absprache mit unseren NATO-Verbündeten für einen Abzug der letzten US-Atomwaffen aus Deutschland einzusetzen.“

Heute warnt der frühere Parlamentarische Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Willy Wimmer, vor neuen „Angriffsoptionen gegenüber der Russischen Föderation“ durch die neuen Atomwaffen in Deutschland und Europa. Das sei eine bewusste Provokation „unserer russischen Nachbarn“, zitiert das ZDF den CDU-Politiker in seinem Pressetext.


Zum Bildmaterial unseres Beitrages:
1. Luftbildaufnahme vom Fliegerhorst Büchel/Cochem, seit Januar 1957 Heimat des deutschen Geschwaders (heute Taktisches Luftwaffengeschwader 33, davor Jagdbombergeschwader 33).
(Foto: amk)

2. Frontansicht von vier B61-Atombomben, vermutlich Trainingseinheiten. Das Bild entstand am 1. Dezember 1986 auf der Barksdale Air Force Base nahe Shreveport, US-Bundesstaat Louisiana.
(Foto: Phil Schmitten/U.S. Department of Defense)

3. Technische Darstellung der neuen amerikanischen taktischen Nuklearwaffe B61-12, die wesentlich präziser treffen soll als alle Vorgängerversionen.
(Zeichnung: Federation of American Scientists 2011)


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