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London/Berlin. Der internationale Waffen- und Munitionshandel hat entscheidend zur Ausbreitung der Terrorbewegung „Islamischer Staat“ (IS) beigetragen. Diese Ansicht vertritt die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI). Mit ihrem am 8. Dezember veröffentlichten Report „Taking Stock: The arming of Islamic State“ dokumentiert die Organisation beispielsweise den jahrzehntelangen ungehinderten und unkontrollierten Strom von Waffen in den Irak. Heute verfüge der IS über ein riesiges Arsenal tödlicher Waffen, mit denen er im Irak und in Syrien massive Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehe, beklagt AI.

Amnesty hat für seinen Bericht „Taking Stock: The arming of Islamic State“ („Eine Bestandsaufnahme: die Bewaffnung des Islamischen Staates“) Tausende Videos und Bilder verifiziert und von Experten analysieren lassen. AI belegt so, dass die IS-Kämpfer den Großteil ihres mörderischen Arsenals vom irakischen Militär erbeutet haben.

Lehrbeispiel für die Folgen eines rücksichtslosen Waffenhandels

Diese Beutewaffen stammen den Recherchen von AI zufolge aus mindestens 25 unterschiedlichen Ländern – unter anderem aus China, Russland (beziehungsweise der früheren Sowjetunion), den USA sowie aus Staaten der Europäischen Union. Entdeckt und dokumentiert wurden auch deutsche Sturmgewehre des Typs G36 von Heckler und Koch. Insgesamt haben die Spezialisten von AI mehr als 100 verschiedene Arten von Waffen und Munition, die vom IS im Irak und Syrien eingesetzt wurden und werden, erfasst.

Das große und vielfältige Arsenal der Terrortruppe „Islamischer Staat“ sei geradezu ein Lehrbeispiel für die weitreichenden und grauenhaften Folgen eines rücksichtslosen Waffenhandels, erklärte bei der Vorstellung des Berichts AI-Experte Patrick Wilcken. „Schlechte Regulierungen und eine mangelhafte Übersicht über Waffenlieferungen in den Irak – über Jahrzehnte hinweg – schufen für den IS und andere bewaffnete Gruppen ideale Bedingungen: sie konnten ohne großen Aufwand an Kriegsgerät und Munition gelangen.“

Programm „Train and Equip“ für den Irak im Wert von 1,6 Milliarden US-Dollar

Amnesty International erinnert in seinem Report daran, dass der Erste Golfkrieg (1980 bis 1988) mitentscheidend für die Entwicklung eines globalen Waffenmarktes gewesen sei. Damals hätten mindestens 34 verschiedene Länder Waffen in den Irak geliefert – 28 dieser Länder hätten gleichzeitig auch den Iran bedient.

Nachdem 1990 ein Waffenembargo der Vereinten Nationen (VN) über den Irak verhängt worden war und die Waffenlieferungen eingestellt werden mussten, nahmen sie ab dem Jahr 2003 mit der militärischen Intervention unter US-Führung wieder stark zu. Mehr als 30 Länder – darunter alle ständigen Mitglieder des VN-Sicherheitsrats – lieferten den Recherchen von AI zufolge in den vergangenen zehn Jahren Kriegsgerät an die irakische Armee. Über diesen Zeitraum hinweg landete ein erheblicher Anteil an militärischer Ausrüstung in den Händen von bewaffneten Gruppen, darunter auch der IS und seine Vorläufer.

Zwischen 2011 und 2013 unterzeichneten die USA Waffenlieferverträge im Wert von mehreren Milliarden US-Dollar mit der irakischen Regierung. Im Jahr 2014 waren von der amerikanischen Industrie bereits Kleinwaffen und Munition im Wert von mehr als 500 Millionen US-Dollar in den Irak geliefert worden. Das US-Verteidigungsministerium unterhält derzeit nach Angaben von AI ein Ausrüstungsprogramm („Iraq Train and Equip Fund“, ITEF) im Wert von 1,6 Milliarden U-Dollar mit dem Irak. Im Rahmen von „Train and Equip“ sollen die irakischen Sicherheitskräfte unter anderem 43.200 M4-Sturmgewehre erhalten.

Grauenvolle Verstöße gegen Menschenrechte und humanitäres Völkerrecht

Viele Waffen sowie Militärfahrzeuge aus US-Produktion fielen dem IS im Juni 2014 bei der Eroberung der irakischen Millionenstadt Mossul in die Hände. Auch bei der Erstürmung von Armee- und Polizeistützpunkten in Falludscha, Tikrit und Ramadi erbeutete die Terrormiliz Unmengen an Waffen.

Über die Folgen dieser Raubzüge schreibt Amnesty International in seiner Dokumentation „Taking Stock“: „Mit diesem Waffenarsenal begeht der IS grauenvolle Menschenrechtsverstöße und Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht; IS-Kämpfer verschleppen Zivilpersonen – darunter auch friedliche Aktivisten und Medienschaffende – und sind für Folter und andere Misshandlungen verantwortlich; gefangengenommene Regierungssoldaten und Mitglieder anderer bewaffneter Gruppen werden summarisch hingerichtet.“

In scharfer Form klagt die Oppositionsführerin der Linken im Bundestag, Sahra Wagenknecht, die Bunderegierung an. In einer am 8. Dezember veröffentlichten Pressemitteilung schreibt die Politikerin unter anderem: „Die Bundesregierung ist mitverantwortlich, dass der IS auch mit deutschen Waffen mordet. Statt sich konsequent für eine Friedenslösung in der Krisenregion einzusetzen, wurden diverse Bürgerkriegsparteien mit Kriegsgerät aus westlichen Waffenschmieden hochgerüstet, die massenhaft dem IS in die Hände gefallen sind.“

Der IS müsse besiegt werden, indem „konsequent sein Nachschub an Waffen und Kämpfern sowie die IS-Finanzströme“ unterbunden werden, fordert Wagenknecht. Sie verlangt konkret: „Dazu muss unter anderem Druck auf den größten Terror-Sponsor Saudi-Arabien ausgeübt und die Türkei endlich dazu bewegt werden, die Grenze zu Syrien für jegliche IS-Unterstützung zu schließen. Die Bundesregierung hat zugelassen, dass diese Maßnahmen bis heute nicht umgesetzt wurden.“

Experten halten IS-Angriff mit chemischen oder biologischen Waffen für möglich

Vor einer Terrorbedrohung neuer Dimension warnten kürzlich Experten des Wissenschaftlichen Dienstes des Europäischen Parlaments (European Parliamentary Research Service, EPRS). „Die EU und ihre Mitgliedstaaten müssen mit der Möglichkeit eines chemischen oder biologischen Angriffs durch den selbsternannten ,Islamischen Staat‘ rechnen und vorbereitet sein“, so der EPRS in einer Lagebeurteilung für das Parlament.

In dem Papier wird noch einmal an die jüngsten Terrorattacken des IS seit Anfang Oktober dieses Jahres erinnert. Demnach verloren bei Anschlägen in Ankara, Beirut, Paris und Tunis sowie bei dem Bombenanschlag auf eine Passagiermaschine über der Sinai-Halbinsel mehr als 500 Menschen ihr Leben – für all diese Opfer zeichnet der IS die verantwortlich. Schon unmittelbar nach der Anschlagserie in Paris am 13. November hatten die Dschihadisten weitere Attentate in europäischen Städten angekündigt.

Immer noch Defizite beim Informationsaustausch zwischen EU-Staaten

Der Parlamentsdienst kommt insgesamt zu folgender Einschätzung: „Der IS hat angekündigt, dass zukünftige Anschläge noch mehr Menschenleben kosten und wesentlich schockierender ausfallen werden. Sicherheitsexperten warnen deshalb nun davor, dass die Terrorbewegung möglicherweise bei künftigen Angriffen international geächtete Massenvernichtungswaffen einsetzen könnte“. Zwar rechneten die Bürger der Europäischen Union im Moment noch nicht wirklich mit der Anwendung von chemischen, biologischen oder radiologisch-nuklearen Waffen durch extremistische Gruppen, so die Fachleute des EPRS. Sollte es aber zu solch einem Anschlag kommen, dann wären dessen Folgen destabilisierender als alle bisherigen Terrorattacken.

Der Dienst warnt und rät zugleich: „Die europäischen Regierungen und EU-Institutionen müssen mit einem solchen Anschlag, bei dem chemische, biologische oder sogar radiologische und nukleare Materialien zum Einsatz kommen, rechnen. Die Verantwortlichen haben bereits intensive Anstrengungen unternommen, um einen solchen Anschlag auf europäischem Boden zu verhindern und dazu auch sogenannte ,Worst-Case-Szenarien‘ durchgespielt. Leider bestehen immer noch Defizite – so etwa beim Informationsaustausch zwischen den EU-Mitgliedstaaten.“

„Wir wissen, dass es ein Risiko von chemischen und biologischen Waffen gibt“

Für die Einschätzung der Experten des Parlamentsdienstes spricht auch das Ergebnis einer vom irakischen Parlament angeordneten Untersuchung. Hakim al-Zamili, Vorsitzender der „Parlamentskommission für Sicherheit und Verteidigung“, sagte im November gegenüber Medienvertretern: „Der IS arbeitet äußerst ernsthaft daran, chemische Kampfstoffe produzieren zu können. Dies würde nicht nur den Irak, sondern die ganze Welt gefährden.“

Dass der französische Geheimdienst offenbar konkrete Erkenntnise über die Absichten und die Anstrengungen der Terrormiliz „Islamischer Staat“, Massenvernichtungswaffen herzustellen, hat, wurde durch eine Bemerkung Manuel Valls publik. Der französische Premierminister sagte am 19. November – wenige Tage nach dem Terror in der Hauptstadt – vor der Nationalversammlung: „Wir wissen, dass es auch das Risiko von chemischen und biologischen Waffen gibt.“


Zu unserem Bildmaterial:
1. und 2. Nach schweren Kämpfen Ende Oktober dieses Jahres zwischen irakischen Sicherheitskräften und dem IS nahe Samarra erbeuteten die Dschihadisten Munition, Handfeuerwaffen, Panzerabwehrwaffen sowie Fahrzeuge. Einmontiert in unser erstes Bild ist der Titel des aktuellen Reports „Taking Stock: The arming of Islamic State“ von Amnesty International. Die Aufnahmen mit den Nummern 1, 2, 3, 4 sowie unser kleines Beitragsbild entstammen Videomaterial des IS und sind allesamt Videostandbilder.

3. und 4. Aufnahmen des IS, veröffentlicht Anfang November 2015. Sie zeigen die Gefechtsausbildung einer IS-Brigade in der irakischen Provinz Ninive. Ausgerüstet sind diese Dschihadisten mit russischen Sturmgewehren AK-47. Zu sehen sind auch erbeutete US-Militärfahrzeuge.

5. Beschlagnahmte Waffen im Irak im April 2003. Kriegsgerät wie dieses fiel im Laufe der Jahre immer wieder dem IS und anderen Gruppierungen in die Hände.
(Foto: Berik S. Hansen/U.S. Marine Corps)


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