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Berlin/Kahramanmaras (Türkei). Die Türkei ist derzeit erster Frontstaat des NATO-Bündnisses, eingeklemmt zwischen zwei Kriegen – dem Ukrainekonflikt und den Schlachten in Syrien und Irak. Diese treffliche Analyse stammt von Michael Thumann, dem außenpolitischen Korrespondenten der Wochenzeitung Die Zeit. Er befasste sich in seinem am 27. Juni erschienenen Beitrag „NATO-Beistand“ mit aufkommenden Gerüchten, das Bündnis könne die in der Türkei stationierten Patriot-Raketen noch in diesem Jahr abziehen und damit den Schutzschirm „Active Fence“ schließen. Über die geopolitische Lage und Bedeutung der Türkei äußerte sich jetzt auch der Oberkommandierende der NATO. US-General Philip Mark Breedlove sagte am 31. Juli bei einem Besuch der amerikanischen Patriot-Stellungen im südostanatolischen Gaziantep: „Die Türkei ist ein äußerst wichtiger strategischer Eckpfeiler unseres Verteidigungsbündnisses. Denken Sie daran, mit was sich dieses Land gerade konfrontiert sieht – im Süden mit dem instabilen Syrien und dem instabilen Irak, im Norden mit der instabilen Schwarzmeerregion um die Halbinsel Krim und die Ukraine.“ Diese Schlüsselnation Türkei zu schützen, sei derzeit eine der herausragendsten Aufgaben der Allianz, erklärte Breedlove.

Die Bundeswehr leistet nach einem Beschluss des NATO-Rates vom 4. Dezember 2012 und einer Mandatserteilung durch den Deutschen Bundestag am 14. Dezember 2012 seit Januar 2013 ihren Beitrag zur Verstärkung der integrierten Luftverteidigung der NATO in der Türkei. Die deutschen Soldaten schützen den Luftraum im Bereich der Grenze zu Syrien gemeinsam mit niederländischen und US-amerikanischen Einheiten. Die Niederländer sind mit ihren Patriot-Systemen in Adana, die US-Kräfte wie bereits erwähnt in Gaziantep.

Auch weiterhin im Schatten des syrischen Bürgerkrieges

In einem YouTube-Video der Bundeswehr heißt es über den NATO-Einsatz „Active Fence Turkey“ und das deutsche Kontingent in Kahramanmaras: „In Syrien herrscht Bürgerkrieg. Das Assad-Regime verfügt über ballistische Trägersysteme mit einer Reichweite von bis zu 700 Kilometern. Damit kann fast jede türkische Stadt zum Ziel werden, auch Kahramanmaras. Die Türkei besitzt keine Abwehr gegenüber solchen Raketen und hat deshalb die NATO gebeten, mit Flugabwehrraketensystemen des Typs ‚Patriot‘ zu unterstützen.“ Ein deutscher Feuerleitoffizier geht vor der Kamera ins Detail: „Sollte in Syrien eine Rakete in Richtung Türkei gestartet werden, so kann diese durch verschiedene Sensoren wie Satelliten oder Radarsysteme frühzeitig aufgefasst werden, wodurch wir vorgewarnt werden. Wenn unser Radarsystem eine Rakete auffassen sollte, führen wir diese zusammen mit unserem Führungsgefechtsstand und leisten gegebenenfalls eine Bekämpfung ein. Das sieht so aus, dass unser Waffensystem den optimalen Zeitpunkt abpasst und den bestmöglichen Lenkflugkörper auswählt, um die Rakete zu bekämpfen. Die Entscheidung der Bekämpfung liegt dabei aber immer in unserer Hand.“

Der Bundestag stimmte am 29. Januar dieses Jahres dem weiteren Verbleib der deutschen Patriot-Einsatzstaffel „Active Fence Turkey“ in Kahramanmaras mit großer Mehrheit zu. Das Mandat erstreckt sich nun bis zum 31. Januar 2015. Es erlaubt die Entsendung von insgesamt 400 Bundeswehrangehörigen nach Anatolien. Derzeit (Stand 4. August 2014) sind 263 Bundeswehrsoldaten im Türkeieinsatz. Kontingentführer ist seit dem 10. Juli Oberst Thorsten Ilg, er folgte Oberst i.G. Stefan Drexler.

Nachrichtenmagazin Spiegel kolportierte baldiges Ende von „Active Fence“

Es war vornehmlich das Nachrichtenmagazin Der Spiegel, das über ein vorzeitiges Ende der Patriot-Mission der US-Amerikaner, Deutschen und Niederländer in der Türkei berichtete. In einem Onlinebeitrag vom 22. Juni heißt es: „Bisher wurde die Idee des Abbruchs des gemeinsamen Einsatzes der drei NATO-Nationen nur sondiert, eine Entscheidung könnte aber bereits beim Gipfel des Bündnisses im September in Wales fallen.“

Intern werde der Abzug damit begründet, so zitiert die Redaktion ihre Quellen, dass der Schutzschirm durch den fast vollständigen Abtransport der syrischen Chemiewaffen überflüssig geworden sei. Der eigentliche Grund sei jedoch die mangelnde Durchhaltefähigkeit der niederländischen und deutschen Soldatenkontingente. Spiegel Online erklärt dazu: „In beiden Ländern gibt es nur sehr wenige Spezialisten, die Patriot-Batterien bedienen können. Auf lange Sicht ergeben sich durch die Rotation der Soldaten gravierende Engpässe.“

Auf eine Anfrage beim Einsatzführungskommando der Bundeswehr in Potsdam erklärte Major Robert Habermann gegenüber dem bundeswehr-journal mit Blick auf die Medienspekulationen: „Der Oberbefehlshaber der NATO-Einsätze, US-General Breedlove, hat erst Ende Mai ein Absinken des syrischen Bedrohungspotenzials konstatiert, da mittlerweile die deklarierten Chemiewaffenbestände Syriens außer Landes gebracht und vernichtet worden sind. Es besteht deswegen lediglich nur noch eine geringe, wenn auch noch existente Bedrohung – quasi ein Restrisiko.“ Allerdings, und damit berührte Habermann den Kern der Mission: „Gerade der Einsatz in der Türkei hat eine hohe bündnispolitische Bedeutung. Eine Fortführung oder gar Beendigung ist nur im Einvernehmen mit dem türkischen NATO-Partner möglich. Zumal die Patriot-Steller Deutschland, Niederlande und USA durch ihre jeweiligen bilateralen Vereinbarungen mit der Türkei gebunden sind.“

Zum Punkt „mangelnde Durchhaltefähigkeit“ sagte der Kommandosprecher für die Bundeswehreinsätze auf dem Balkan und in der Türkei: „Wir gehen weiterhin grundsätzlich davon aus, dass dieser Türkeieinsatz durch unsere Patriot-Kräfte leistbar ist und bleiben wird, wenngleich doch eine gewisse individuelle Einsatzbelastung der Soldaten mitberücksichtigt werden muss. Personal und Material sind aber so aufgestellt, dass der Einsatz weitergeführt werden kann.“

Bundeswehr ist und bleibt beim Türkeieinsatz „durchhaltefähig“

Wie wichtig der politischen Führung das Thema „Active Fence Turkey“ ist, wurde auch während der Haushaltsdebatte im Bundestag am 25. Juni deutlich. An diesem Mittwoch nahm Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen die Gelegenheit wahr, während ihres Redebeitrags zum Tagesordnungspunkt „Einzelplan 14“ auch auf den Türkeieinsatz einzugehen. „Es ist nicht so, wie zum Teil kolportiert wurde, dass dieser Einsatz infrage steht, weil Deutschland nicht durchhaltefähig ist. Das ist nicht der Fall, Deutschland ist bei ,Active Fence‘ durchhaltefähig“, versicherte von der Leyen. Bei der NATO gebe es bislang keine Festlegung zur Zukunft des Einsatzes. Deshalb bleibe es auch bei der Verantwortung der Bundeswehr für die Mission.

Die Ministerin hatte am 25. März das deutsche Kontingent in Kahramanmaras besucht und sich vor Ort einen Überblick nahe der Grenze zu Syrien verschafft. Dabei hatte sie den Patriot-Einsatz „ein leuchtendes Beispiel für Bündnissolidarität“ genannt.

Deutschland einmal mehr ein verlässlicher Bündnispartner

Einen weiteren hochrangigen Besucher aus Deutschland hatte Kahramanmaras am 27. April erlebt. An diesem Sonntag war Bundespräsident Joachim Gauck beim Kontingent der Bundeswehr eingetroffen, begleitet unter anderem von Ismet Yilmaz, Minister der Nationalen Verteidigung der Republik Türkei.

Er sei überzeugt davon, so Gauck bei seiner damaligen Ansprache in der Gazi-Kaserne, dass dieser Einsatz ein konkreter und wichtiger Beitrag dazu sei, das Territorium der Türkei zu sichern und damit einen Bündnispartner zu schützen. Der Bundespräsident zu den Bundeswehrangehörigen wörtlich: „Mit Ihrem Dienst haben Sie dazu beigetragen, dass der Syrienkonflikt bislang nicht auf die Türkei übergegriffen hat. Ihr Einsatz wird auch die Bande zwischen der Bundesrepublik und ihren Verbündeten stärken. Denn er ist Ausdruck einer Solidarität, die uns ein hohes Gut ist – und bleiben wird. Nicht zuletzt weil es Sie gibt, die Soldatinnen und Soldaten im Einsatz, gilt unser Land als ein verlässlicher Bündnispartner.“

Bis Januar 2015 rund 36,6 Millionen Euro aus dem Verteidigungsetat

Eine Art Zwischenbilanz der NATO-Mission „Avtive Fence“ aus deutscher Sicht stellt ein Schriftstück der Bundesregierung vom 8. April dar. Es ist die Regierungsantwort auf eine Anfrage der Linken-Abgeordneten Jan Korte, Katrin Kunert, Kathrin Vogler und ihrer Fraktion zum Türkeieinsatz.

So belaufen sich die Kosten (einsatzbedingte Zusatzausgaben) für die Beteiligung der Bundeswehr an „Active Fence Turkey“ im Zeitraum 15. Dezember 2012 bis 31. Januar 2014 auf 17,08 Millionen Euro. Für den nachfolgenden Mandatierungszeitraum – 1. Februar 2014 bis 31. Januar 2015 – sind weitere 19,49 Millionen Euro eingeplant.

Für „Active Fence“ hat die NATO kein gesondertes Budget eingerichtet, sondern trägt die Kosten für ihre Unterstützung (vornehmlich Führungs- und Kommunikationsleistungen) im Rahmen des regulären Betriebs der NATO-Kommandostruktur, ihrer Einrichtungen und Programme. Die Kosten für diesen Einsatz werden daher aus dem NATO-Militärhaushaltsanteil zu „NATO Command Structure, Entities and Programmes“ getragen, wo sie dem „ACCS Support Budget“ zugeordnet sind. Bislang betrugen diese Kosten insgesamt 2,755 Millionen Euro.

19 Sonderfahrzeuge der Bundeswehr für die ABC-Abwehr

Seit Mandatsbeginn wurden insgesamt 104 Patriot-Lenkflugkörper in die Türkei verlegt. Hinzu kamen neun Lenkflugkörper aus deutschen Beständen, die den Niederlanden leihweise bis Januar 2015 überlassen wurden. Laut Bundesregierung wirkt das Waffensystem Patriot gegen das herkömmliche Zielspektrum aus der Luft (Flugzeuge, Drehflügler, unbemannte Luftfahrzeuge sowie Marschflugkörper in den Höhenbereichen tief bis sehr hoch – etwa 100 Meter bis 24.000 Meter). Darüber hinaus können mit Patriot ballistische Flugkörper kurzer bis mittlerer Reichweite – unter 1000 Kilometer – abgefangen werden.

Bis heute wurden auch 19 Sonderfahrzeuge der Bundeswehr nach Kahramanmaras gebracht: zwei kampfwertgesteigerte Transportpanzer Fuchs für die ABC-Aufklärung (Spürpanzer), acht Trägerfahrzeuge mit Dekontaminationsrüstsatz (TEP 90: Truppen-Entstrahlungs-Entseuchungs-Entwesungs-Entgiftungs-Platz/HEP 70: Haupt-Entstrahlungs- …) sowie sechs Mungo-Einsatzfahrzeuge der Spezialisierten Kräfte und drei Quad für die Probenahme.

„Die türkische Regierung gefährdet ihr eigenes Land“

Kehren wir abschließend noch einmal kurz zurück zu Michael Thumann, der in seinem Beitrag für Die Zeit dafür plädiert: „Die Patriots sollten in der Türkei bleiben.“ Worin liegt seiner Meinung nach der Sinn dieser Raketenstaffeln? Der Korrespondent schreibt: „Sie stehen für die Solidarität im NATO-Bündnis und bedeuten jedem potenziellen Angreifer der Türkei: Er kann es mit der NATO zu tun bekommen. Die Patriots signalisieren auch, dass die NATO-Länder und die Türkei den Zerfall der Staaten Syrien und Irak als gemeinsame Bedrohung sehen.“

Thumann kritisiert abschließend in seinem Beitrag, dass die Türkei nicht ganz unschuldig ist, am Aufstieg der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS). Ankara habe dies geduldet. Denn über türkische Grenzübergänge hätten die Dschihadisten ungehindert nach Syrien reisen können. Einige seien in türkischen Krankenhäusern behandelt worden und danach wieder unbehelligt in den Krieg gezogen. „Die türkische Regierung hat so ihr eigenes Land gefährdet“, meint Thumann.

Auch in der Antwort der Bundesregierung zum Anfragegegenstand „Active Fence Turkey“ spielt das Thema des IS-Terrors in den südlichen Nachbarländern eine Rolle. Wir lesen in dem Regierungspapier vom 8. April: „Der Bundesregierung liegen Erkenntnisse der Bundessicherheitsbehörden vor, wonach die Türkei das maßgebliche Transitland für Dschihadisten darstellt, die sich nach Syrien begeben wollen. Dabei werden sowohl Land- als auch Luftwege genutzt […] Soweit hier bekannt, stammen diese Dschihadisten überwiegend aus dem europäischen und afrikanischen Raum sowie aus dem Nordkaukasus, aber auch aus den USA, Australien, Kanada, Saudi-Arabien, Afghanistan und Pakistan.“


Zu unseren drei Aufnahmen:
1. Die Gazi-Kaserne in Kahramanmaras, Stationierungsort des deutschen Einsatzkontingents „Active Fence Turkey“. Zu sehen sind die Startfahrzeuge der Patriot-Flugabwehrraketen, die Launcher, bestückt mit Patriot PAC3 und PAC2 in ihren Einsatzstellungen. Im Hintergrund die Ausläufer des Taurusgebirges mit der anatolischen Stadt, die rund 400.000 Einwohner hat.
(Foto: Carsten Vennemann/Bundeswehr)

2. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen bei ihrem Besuch am 25. März 2014 in Kahramanmaras.
(Foto: Carsten Vennemann/Bundeswehr)

3. US-General Philip Mark Breedlove, Oberbefehlshaber der NATO-Einsätze (Supreme Allied Commander Europe, SACEUR), bei seinem Truppenbesuch am 31. Juli 2014 im türkischen Gaziantep.
(Foto: Nicole Sikorski/U.S. Air Force)


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