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Schrobenhausen/Pratica di Mare (Italien). Deutschland wird in absehbarer Zukunft ein neues bodengebundenes Luftverteidigungssystem für seine Streitkräfte beschaffen müssen. Der Spiegel hat hierzu bereits den Zweikampf zweier Systeme ausgemacht. Markus Becker, Ressortleiter „Wissenschaft“ in der Onlineredaktion des Nachrichtenmagazins, hatte sich bei der Internationalen Luft- und Raumfahrtausstellung ILA 2014 in Berlin intensiv mit der Thematik befasst und die beiden miteinander konkurrierenden möglichen Lösungen – MEADS und Patriot – näher untersucht. Bei „MEADS vs. Patriot“, so titelt Becker am 30. Mai, geht es zum einen um das von Lockheed Martin und MBDA entwickelte „Medium Extended Air Defense System“ (kurz MEADS), das Ausgangsbasis für eine Weiterentwicklung der nationalen Luftverteidigung sein könnte. Und zum anderen um das Patriotsystem von Raytheon, das von der deutschen Luftwaffe ab 1989 eingeführt wurde und nun in modernisierter Form ins Rennen gehen soll. Inzwischen, so scheint es, hat MEADS weiter an Boden gewonnen. Auf dem Luftwaffenstützpunkt Pratica di Mare bei Rom konnte dieses System im Juli umfassende Systemdemonstrationen erfolgreich abschließen.

Das taktische Luftverteidigungssystem MEADS sollte ursprünglich die Flugabwehrsysteme Roland, Hawk und teilweise Patriot der Bundeswehr ablösen. Roland und Hawk sind bereits seit 2005 außer Dienst gestellt. Das „Air Defense Guided Missile System“ Patriot wird von unserer Luftwaffe nach verschiedenen Upgrades immer noch genutzt, zurzeit auch im Auslandseinsatz „Active Fence Turkey“.

MEADS war zunächst ein transatlantisches Rüstungsprojekt unter Beteiligung von Deutschland, Italien und den USA (siehe auch hier). Die vertragliche Konstellation sah vor, dass die USA 55 Prozent der Entwicklung des MEADS-Programms finanzieren sollten, Deutschland 28 Prozent und Italien 17 Prozent (im September 2004 wurden die Anteile noch einmal neu gewichtet und beliefen sich danach auf 58 Prozent für die USA und nur noch 25 Prozent für Deutschland). MEADS sollte bei der Bundeswehr ab 2018 eingeführt werden.

Überraschender Ausstieg der USA aus dem trinationalen Programm

Im Februar 2011 beschloss die US-Regierung, nach der Entwicklungsphase nicht in die trinationale Beschaffung einzusteigen. Gut ein Jahr zuvor war in Washington bereits ein internes Memo der U.S. Army, deren Führung sich vehement gegen MEADS aussprach, öffentlich geworden. Nach heftigen Protesten aus Berlin und Rom entschied die Regierung Obama schließlich, die MEADS-Systementwicklung doch noch abzuschließen. Repräsentantenhaus und Senat einigten sich am 21. März 2013 auf einen Übergangshaushalt bis Ende September jenen Jahres, der 380 Millionen US-Dollar für MEADS beinhaltete. Präsident Barack Obama unterzeichnete das Haushaltsgesetz am 26. März 2013.

Mit dem Beitrag Washingtons kann nun der angestrebte hohe technologische Reifegrad des Systems zum Abschluss der sogenannten „Proof of Concept-Phase“ (im Laufe des Jahres 2014) sichergestellt werden. Dieser Entwicklungsstand soll es Deutschland und Italien dann ermöglichen, die MEADS-Technologien im Rahmen der Ausgestaltung ihrer künftigen Fähigkeiten im Bereich „Luftverteidigung und Raketenabwehr“ zu nutzen. Auch die U.S. Army prüft inzwischen, wie MEADS-Technologien für die Modernisierung der US-Raketenabwehr genutzt werden könnten.

Nach Angaben der Industrie wird Deutschland bis zum Abschluss der „Proof of Concept-Phase“ mit rund 850 Millionen Euro (etwa 1,1 Milliarden US-Dollar) 25 Prozent der gesamten MEADS-Entwicklung bezahlt haben.

Weltpremiere im November 2013 auf der Missile Range in White Sands

Bei der MEADS-Entwicklung arbeiten die Rüstungsunternehmen MBDA Deutschland, MBDA Italien sowie der US-Konzern Lockheed Martin in dem Joint Venture MEADS International zusammen (MEADS International in Orlando/Florida fungiert als Hauptauftragnehmer für das Raketenabwehrsystem). MBDA Deutschland ist bei MEADS vor allem zuständig für die Elemente der Gefechtsstandsoftware BMC4I, des Startgeräts und des Multifunction Fire Control Radar (MFCR).

Ein Highlight für alle Beteiligten war der 6. November 2013. An diesem Mittwoch entdeckte auf der Missile Range in White Sands (US-Bundesstaat New Mexico) das Raketenabwehrsystem MEADS zwei aus entgegengesetzten Richtungen anfliegende Ziele und verfolgte und zerstörte sie. Dies war zuvor noch keinem anderen am Markt verfügbaren System geglückt. Ähnlich erfolgreich verlief jetzt die zweiwöchige Testphase in Pratica die Mare am Mittelmeer. Die MEADS-Leistungsnachweise wurden gespannt von Delegationen aus mehreren Ländern verfolgt.

Volker Weidemann, Executive Vice President von MEADS International, erklärte auf dem italienischen Luftwaffenstützpunkt nach Abschluss der Systemdemonstrationen: „Wir haben die komplette Bandbreite modernster Netzwerkfähigkeiten demonstriert. Das ist ein hervorragendes Ergebnis. Diese bahnbrechenden Fähigkeiten können nun länderspezifisch angepasst und genutzt werden.“

Systemdemonstrationen unter repräsentativen Einsatzbedingungen

Bei den Testläufen, die von deutschen und italienischen Soldaten durchgeführt wurden, handelte es sich vor allem um Demonstrationen in einem operationellen Umfeld. Dabei wurden unter realitätsnahen, repräsentativen Einsatzbedingungen Systemelemente ohne Unterbrechung des Betriebes hinzugefügt und entfernt. MEADS wurde außerdem mit anderen Systemen in eine größere Systemarchitektur überführt und dort problemlos weiterbetrieben.

Mit der Plug-and-Fight-Funktionalität von MEADS wurde während der Testphase in Pratica di Mare unter anderem ein externes mobiles italienisches Luftverteidigungsradar schnell eingebunden und gesteuert (Anm.: „Plug-and-Fight“ ist das militärische Äquivalent von „Plug-and-Play“; es ermöglicht die automatische Einbindung von unterschiedlichen Systemelementen in ein übergeordnetes System). Als vollständiger Bestandteil des MEADS-Netzwerks verfolgte dieses Radar dann Flugobjekte und lieferte ein gemeinsames integriertes Luftlagebild um den Luftwaffenstützpunkt. Die MEADS-Bediener konnten dabei während des Einsatzbetriebes Startgeräte und Sensoren rasch erkennen, einbinden, kontrollieren, entfernen, neu zuweisen und neu positionieren.

In einem anderen Szenario erfasste MEADS gleichzeitig einen simulierten Marschflugkörper und andere Bedrohungen. Dies gelang mithilfe eines externen Sensors und von Track-Daten, die über das Link-16-Datenaustauschnetz geliefert wurden. Nachgewiesen werden konnte so, dass Bekämpfungsvorgänge mit MEADS auch von externen Systemen eingeleitet werden können (Engage-on-Remote). Diese Fähigkeit hilft der Truppe, auch verdeckte Bedrohungen über externe Sensoren rechtzeitig zu erfassen und kurz darauf mit MEADS zu bekämpfen.

Im Testverbund mit nationalen Systemen in Europa und Übersee

Während der gesamten Demonstration nutzte das System die verknüpfte und verteilte MEADS-Netzwerkarchitektur. Es wählte das zur Bekämpfung ideale Startgerät aus und steuerte die Kampfeinsätze über die jeweils zugeordneten Gefechtsstände. Durch die Verteilung der Arbeitslast auf verschiedene Systemelemente blieb bei den Tests die Verteidigungsbereitschaft selbst dann erhalten, als ein Systemelement „ausfiel“.

Auch die Interoperabilität von MEADS mit deutschen und italienischen Luftverteidigungssystemen wurde in Pratica di Mare durch den Austausch standardisierter NATO-Nachrichten eindrucksvoll demonstriert. Wichtige italienische Luftverteidigungselemente waren dabei in eine Testumgebung an einem italienischen Standort mit integriert worden. Die Flugabwehrleitstelle und Patriotsysteme im Ausbildungszentrum der deutschen Luftwaffe im texanischen Fort Bliss waren ebenfalls in die MEADS-Systemdemonstration eingebunden. Erfolgreich konnte so auch die koordinierte und gemeinsame Bekämpfung von Zielen mit anderen Systemen vorgeführt werden.

Schnelle Verlegbarkeit, 360-Grad-Abdeckung und ein großer Schutzbereich

Dave Berganini, Präsident von MEADS International, zog am Ende der Testserie folgendes Fazit: „Kein anderes bodengestütztes Luft- und Raketenabwehrsystem kann systeminterne und externe Sensoren und Startgeräte so flexibel einbinden, wie MEADS dank seiner Plug-and-Fight-Fähigkeit.“ Es sei zudem äußerst bemerkenswert, dass Angehörige der deutschen und italienischen Streitkräfte die hochmodernen Fähigkeiten des Systems und seine taktische Gefechtsstandsoftware bereits nach kurzer Schulung hätten nutzen können.

Im Rahmen des MEADS-Programms sei ein ungemein leistungsfähiges Luftverteidigungs- und Raketenabwehrsystem entstanden, erklärte Berganini weiter. Dieses System könne national zur Landes- und Bündnisverteidigung und international zum Schutz der Truppen im Einsatz eingesetzt werden und taktisch ballistische Raketen, Marschflugkörper, Massenvernichtungswaffen, Kampfflugzeuge oder unbemannte Luftfahrzeuge abwehren. Dabei überzeuge MEADS durch seine ganz besonderen Fähigkeiten: Schnelle Verlegbarkeit, eine 360-Grad-Abdeckung, ein großer Schutzbereich sowie die offene Systemarchitektur samt Plug-and-Fight-Fähigkeit.

Deutsche Luftverteidigung durch MEADS-Ergebnisse „zukunftsfähig machen“?

Wer den von Markus Becker auf Spiegel Online skizzierten „Kampf der Raketen“ – MEADS oder Patriot – am Ende gewinnen wird, ist derzeit noch völlig offen. Wie Becker in seinem Beitrag schreibt, will das Verteidigungsministerium „nun schnell zu einer Entscheidung kommen“. Er zitiert dazu einen Ministeriumssprecher. Dieser habe mitgeteilt, dass Generalinspekteur Volker Wieker „nach derzeitiger Planung noch in diesem Jahr die Entscheidung fällen wird, wie das künftige Luftverteidigungssystem gestaltet werden soll“. Danach würde im Laufe der anschließenden Auftragsvergabe entschieden, welches Unternehmen den Zuschlag erhalten soll.

Die Sicherheits- und Verteidigungspolitiker der SPD tendieren offenkundig zu MEADS. In einem Positionspapier „Sozialdemokratische Vorstellungen zum Nachsteuerungsbedarf der Bundeswehrreform“ ist zu lesen: „Deutschland verfügt traditionell über leistungsfähige bodengebundene Flugabwehrsysteme. Hier sehen wir einen besonderen Schwerpunkt, den auch Deutschland für andere Partner bereitstellen kann, wie der jüngste Einsatz unseres Kontingents in der Türkei eindrucksvoll unter Beweis stellt. Die Stärke des Flugabwehrraketendienstes der Luftwaffe ergibt sich zum einen aus dem Einsatz hochmotivierten Personals. Aber zum anderen auch durch die Leistungen von mittelständischen Zulieferern, die sich in Teilaspekten eine beeindruckende Technologie- und Marktführerschaft erarbeitet haben. Erst mit diesem Wissen ist der Bau von Hochleistungssystemen möglich. Bei der Forschung und Entwicklung für ein neues System MEADS sind gute Ergebnisse erzielt worden, die wir nutzen wollen für die Weiterentwicklung der bodengebundenen Luftverteidigung.“

Weiter heißt es in dieser Empfehlung der Arbeitsgruppe „Sicherheits- und Verteidigungspolitik“, an ihrer Spitze der Verteidigungsexperte der SPD-Bundestagsfraktion Rainer Arnold: „Die Luftverteidigung als besondere deutsche Schwerpunktfähigkeit ist zu sichern und unter Rückgriff auf die Entwicklungsergebnisse MEADS zukunftsfähig zu machen durch die Beschaffung eines neuen Waffensystems. Dieses kann auch für andere Bündnispartner bei Bedarf bereitgestellt werden und muss daher verlegefähig sein.“

Parlamentarier fordern von Verteidigungsministerium „schlüssiges Konzept“

Der Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages hat sich in seiner Sitzung am 7. Mai ebenfalls mit dem Thema „MEADS“ befasst und später seine Entschließung dazu dem Haushaltsausschuss zugeleitet. Auf der Tagesordnung stand an diesem Mittwoch der Entwurf des Haushaltsgesetzes 2014 mit seinen für das Verteidigungsressort relevanten Einzelplänen.

In einem Antrag bitten bei dieser Sitzung „die Fraktionen der CDU/CSU und SPD im Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages das Bundesministerium der Verteidigung [darum], eine Konzeption der künftigen bodengebundenen Luftabwehr vorzulegen, damit sachgerechte und zeitnahe Entscheidungen zur Realisierung eines künftigen [Luftverteidigungs]-Systems unter Verwendung der MEADS-Entwicklungsergebnisse getroffen werden können.“

In der Antragsbegründung erklären die Politiker der Regierungskoalition: „Das Vorhaben MEADS wird 2014/2015 planmäßig beendet werden. Die Entwicklungsergebnisse werden den Partnerländern zur weiteren Verwertung zur Verfügung stehen. Allerdings gibt es noch keine Perspektive, welche Alternativen technisch möglich und auch finanzierbar sind. Ein schlüssiges Konzept ist die Voraussetzung für die Entscheidungen, die in diesem Bereich der Verteidigung zu treffen sind.“ Zweitens: „Entscheidungen über die Verwertung der Entwicklungsergebnisse von MEADS, der möglichen Integration dieser Ergebnisse in ein künftiges Luftverteidigungssystem sollten zeitnah getroffen werden. Planungssicherheit sollte gerade auf dem Gebiet der Luftverteidigung, deren Systeme und Projekte langfristig angelegt sind, Vorrang vor anderen Erwägungen haben.“

Für ein künftiges nationales bodengebundenes Luftverteidigungssystem sollte von vornherein eine kostengünstige Lösung angestrebt werden, schreiben die Antragsteller von CDU/CSU und SPD schließlich unter ihrem dritten Punkt. Eine vollständige Neuentwicklung dürfe deshalb nicht infrage kommen. Zu prüfen sei, welche kostengünstigen Möglichkeiten zur Weiterentwicklung des in der Luftwaffe vorhandenen [Luftverteidigungssystems] und anderer europäischer Luftverteidigungssysteme unter Einbeziehung der MEADS-Entwicklungsergebnisse bestehen und unter Vermeidung von Risiken realisiert werden könnten.

Stellen externe Berater die entscheidende Weiche?

Beim Duell der zwei konkurrierenden Lösungen MEADS und Patriot darf noch über den Ausgang spekuliert werden. Die Waage könnte sich bald aber schon einer Seite zuneigen. Markus Grübel, Parlamentarischer Staatssekretär bei der Bundesministerin der Verteidigung, äußerte sich am 11. Juli auf eine Anfrage des Abgeordneten Tobias Lindner (Bündnis 90/Die Grünen) ebenfalls zum Luftverteidigungssystem MEADS. Er bestätigte, dass zu jenen Rüstungsprojekten, über die demnächst externe Berater ein Gutachten abgeben sollen, auch das Projekt „Taktisches Luftverteidigungssystem MEADS“ gehören wird.

Die Untersuchung des Konsortiums – bestehend aus KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, P3 Ingenieurgesellschaft mbH und Taylor Wessing Deutschland – ziele auch in diesem Fall darauf ab, ein „transparentes, risikoorientiertes und professionelles Projektmanagement einzurichten, auf dem eine sach- und ebenengerechte Information der Leitung des BMVg und in der Folge der zuständigen Ausschüsse des Deutschen Bundestages aufbauen kann“, teilte Grübel mit.

Besonders die Verantwortlichen von Lockheed Martin, MBDA und Raytheon dürften gespannt sein auf das Ergebnis dieses Gutachtens.


Das Bildangebot zu unserem Beitrag „Hat das Luftverteidigungssystem MEADS die Nase vorn?“:
1. MEADS-Konfiguration auf dem Gelände von MBDA Deutschland in Schrobenhausen. Die Aufnahme entstand während der multinationalen Übung „Joint Project Optic Windmill 13“ (JPOW 13) im Frühjahr vergangenen Jahres. Geübt wurden dabei Verfahrensabläufe bei der Abwehr taktisch-ballistischer Flugkörper, unbemannter Flugkörper und Marschflugkörper.
(Foto: MEADS International)

2. Der Plug-and-Fight-Gefechtsstand von MEADS auf einem deutschen Prime Mover von MAN.
(Foto: MBDA Deutschland)

Unser Großbild auf der START-Seite zeigt den erfolgreichen Testlauf mit MEADS im November 2013 auf der Missile Range in White Sands im US-Bundesstaat New Mexico.
(Foto: MEADS International)

 


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