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New York (USA)/Berlin. Es sind beunruhigende Zahlen, die in den vergangenen Tagen publik wurden. In der Samstagsausgabe (1. November) der Tageszeitung Die Welt warnte der Präsident des Bundeskriminalamtes, Jörg Ziercke, vor der wachsenden Terrorgefahr in Deutschland durch fanatisierte „islamistische Einzeltäter oder Kleinstgruppen“. Tags zuvor, am Freitag, war der Bericht eines Expertengremiums der Vereinten Nationen bekannt geworden, der sich auch mit der Anzahl ausländischer Kämpfer in Syrien und im Irak befasst. Dieser Dschihad-Tourismus habe mittlerweile Dimensionen von „beispiellosem Ausmaß“ angenommen, schreiben die Experten der Organisation. In Syrien und im Irak sollen inzwischen rund 15.000 Männer und Frauen aus mehr als 80 verschiedenen Ländern – darunter auch Deutschland – an der Seite von al-Qaida-Gruppierungen wie der Terrormiliz „Islamischer Staat“ kämpfen. Viele der Dschihadisten aus aller Welt, unter ihnen erschreckend viele Jugendliche, werden wohl irgendwann als lebende Zeitbombe in ihre Heimat zurückkehren.

Nach Ansicht des Bundeskriminalamtes (BKA) gehören derzeit in Deutschland etwa 1000 Menschen der nationalen Terrorszene an. Es gibt Fachleute, die diese Größenordnung des „islamistisch-terroristischen Personenpotenzials“ sogar noch als zu gering geschätzt erachten. BKA-Präsident Ziercke wies in dem Welt-Interview ausdrücklich auf die 230 Personen aus diesem Umfeld hin, die nach Erkenntnis seiner Behörde „Straftaten von erheblichem Ausmaß“ begehen könnten. Die größte Gefahr in Deutschland gehe von „fanatisierten Einzeltätern oder Kleinstgruppen“ aus, erklärte Ziercke, der Mitte November in Ruhestand tritt (designierter Nachfolger ist der Bremer Innenstaatsrat Holger Münch). Ziercke hält es zwar für nicht ausgeschlossen, dass es weitere Anschlagsversuche in unserem Land geben wird. Panik sei jedoch angesichts der gut vorbereiteten deutschen Sicherheitsbehörden „nicht angebracht“.

Einen erschreckend hohen Grad an Abstumpfung erreicht

Das BKA rechnet zusätzlich zu den 230 „Gefährdern“ weitere 300 Menschen hinzu, die „etwa bei der Vorbereitung eines Anschlages logistisch helfen könnten“, so Ziercke gegenüber der Welt. In Deutschland seien bislang neun Anschläge verhindert worden. Bei den fehlgeschlagenen Kofferbomber-Anschlägen auf zwei Regionalzüge 2006 und dem versuchten Anschlag im Bonner Hauptbahnhof 2012 habe man allerdings „Glück gehabt“. Ein Anschlag, die Ermordung zweier US-Soldaten am Frankfurter Flughafen durch einen Islamisten 2011, habe nicht verhindert werden können.

Über die grausamen Bilder, die uns tagtäglich aus dem Machtbereich der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) erreichen, sagte der BKA-Chef: „Wir beobachten einen hohen Grad an Abstumpfung. Es ist dramatisch, dass selbst Personen, die bei uns sozialisiert und mit unseren Werten aufgewachsen sind, derart verrohen.“

Auch das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) führt alarmierende Statistiken. Der Präsident des deutschen Inlandsnachrichtendienstes, Hans-Georg Maaßen, wies am 25. Oktober in einem Interview mit dem RBB-Inforadio auf das „rasante und besorgniserregende“ Wachstum der radikalislamischen Salafistenbewegung in unserem Land hin. Bislang registrierte der Verfassungsschutz rund 6300 Anhänger, Ende des Jahres könnten es bereits 7000 Salafisten in Deutschland sein. Vor wenigen Jahren waren es gerade einmal 2300.

Mehr als 450 Männer und Frauen aus Deutschland zogen in den Krieg

Von der extremistischen Ideologie fühlen sich in Deutschland nach Erkenntnissen des Amtes vor allem jüngere Leute angezogen. Salafisten vermittelten besonders Jugendlichen mit den vier „M“ – männlich, muslimisch, Migrationshintergrund sowie Misserfolge (in der Pubertät, in der Schule oder in der sozialen Gruppe) – das Gefühl, zu einer Avantgarde zu gehören, erklärte Maaßen im RBB-Interview.

Aus dem Kreis der Salafisten sind nach Auskunft des Verfassungsschutzpräsidenten inzwischen mehr als 450 Menschen aus Deutschland in den Krieg nach Syrien gezogen, die meisten davon Jugendliche. Sieben bis zehn von ihnen hätten Selbstmordanschläge begangen. Bislang seien 150 Rückkehrer registriert worden, deren Gefährlichkeit aber nicht in jedem Fall einzuschätzen sei. „Nicht jeder Verdacht reicht aus, um das volle Instrumentarium ausfahren zu können, um diese Personen unter Kontrolle halten zu können“, sagte Maaßen am 25. Oktober im RBB-Inforadio.

Wie die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung aus Sicherheitskreisen erfahren haben will, liegt die tatsächliche Zahl der aus Deutschland nach Syrien und in den Irak ausgereisten Islamisten sogar bei etwa 1800. Eine Analyse der vorhandenen Daten und die Kenntnis der salafistischen Netzwerke führten zu diesem Schluss, hieß es dazu. Auch Recherchen der Tageszeitung Die Welt sprechen für diese angenommene Größenordnung.

Vereinte Nationen warnen ausdrücklich vor militanten Rückkehrern

In ihrem am 31. Oktober öffentlich gewordenen Expertenbericht warnen die Vereinten Nationen (VN) „vor einem nie da gewesenen“ Zustrom ausländischer Kämpfer und Unterstützer zur Terrormiliz „Islamischer Staat“ oder zu ähnlichen Gruppierungen. Etwa 15.000 Männer und Frauen seien bereits nach Syrien und in den Irak gereist, um sich den Dschihadisten anzuschließen.

Über den Expertenbericht („16. Report of the Analytical Support and Sanctions Monitoring Team“ vom 29. Oktober 2014) berichtete zuerst der britische Guardian. Das 30 Seiten umfassende Dokument des VN-Sicherheitsrates liegt dem bundeswehr-journal komplett vor.

Der Report spricht von einem „beispiellosen Ausmaß“ des Zustroms ausländischer Dschihadisten in die Konfliktgebiete Syriens und des Iraks. Die ausländischen Kämpfer sollen aus mehr als 80 Ländern stammen – darunter eine ganze Anzahl aus Ländern, die zuvor noch niemals mit al-Qaida-Bedrohungen zu tun gehabt hätten. Der Report enthält zwar keine Auflistung, woher die Dschihadisten im Einzelnen kommen. Er nennt aber bislang so unbedarfte Länder wie die Malediven, die zuvor nicht mit dem IS in Verbindung gebracht worden sind. Erwähnt werden auch IS-Videos, in denen nun Kämpfer auch aus Chile oder Norwegen zu Wort kommen.

Alles in allem soll die Zusammenarbeit der ausländischen Kämpfer Nationen übergreifend sein. Man habe Beweise für Netzwerke innerhalb der al-Qaida-Bewegung, bei denen Kämpfer aus Tschetschenien, Russland, Frankreich, Großbritannien, Nordirland und anderen europäischen Ländern eng miteinander kooperierten.

Das Gremium der Vereinten Nationen, das seinen Bericht für den Sicherheitsrat erstellt hat, warnt mit großem Nachdruck vor den Gefahren, die von sogenannten Rückkehrern ausgehen. Das Risiko von Terroranschlägen werde sich in den Herkunftsländern wesentlich erhöhen, wenn die ausländischen Kämpfer heimkehrten. Besonders gefährlich sei dabei das Spektrum „militärisch ausgebildeter, verbitterter oder traumatisierter Veteranen, die der Konfliktzone den Rücken“ kehrten, so die Experten.

Soziale Medien ein Schlüssel zum Rekrutierungserfolg des IS

Insgesamt habe man in den ersten neun Monaten des Jahres 2014 ein Anwachsen der Bedrohung durch die al-Qaida-Bewegung verzeichnen müssen, schreiben die VN-Experten in ihrer Bilanz. Die Terrormiliz „Islamischer Staat“, die auch weiterhin der Ideologie von al-Qaida eng verbunden bleibe und als al-Qaida-Splittergruppierung betrachtet werden müsse, kontrolliere inzwischen ein großes Gebiet mit einer Bevölkerungszahl von etwa sechs Millionen Menschen.

Unter der Überschrift „Eine Kernbotschaft und verschiedene Kommunikationsmöglichkeiten“ befasst sich der VN-Bericht auch mit der Bedeutung des Internets und der sozialen Medien für al-Qaida.

Grundsätzlich basiere die extremistische, brutale Ideologie der al-Qaida-Bewegung auf Propaganda. Während der al-Qaida-Kern um Osama Bin Ladens Nachfolger Aiman al-Sawahiri hier eher zurückhaltend agiere, hätten Splittergruppierungen wie der IS sehr rasch die Macht der neuen Medienplattformen erkannt. Die Fachleute der Vereinten Nationen bringen es mit einem Beispiel auf den Punkt: „Der al-Qaida-Kern produziert weiterhin seine endlos langen und schwülstigen Botschaften von al-Sawahiri – dessen letzte Videobotschaft war 55 Minuten lang. IS-Terroristen kommen bei Twitter mit 140 Zeichen oder weniger aus.“

Es scheint, so die Expertenmeinung, als schrecke die dogmatische Kommunikation al-Qaidas mögliche Rekruten ab. Der IS hingegen spreche mit effizienteren Methoden und den von ihm genutzten sozialen Netzwerken wie Twitter, Facebook, VK, Friendica, Quitter oder Diaspora ausländische Kämpfer an und könne sich so ein „kosmopolitisches“ Image geben.

Luftangriffe der US-geführten Koalition schrecken Ausländer nicht ab

Zum Schluss noch ein Blick in die Washington Post. In einem Onlinebeitrag vom 30. Oktober berichtet die Zeitung unter Berufung auf US-Geheimdienste, dass jeden Monat mehr als tausend ausländische Kämpfer nach Syrien reisen würden. Auch die Luftangriffe der US-geführten Koalition auf den IS habe daran nichts ändern können.

Bislang haben die Alliierten mehr als 600 Luftschläge gegen den IS in Syrien und im Irak geführt. Alleine in Syrien sollen dabei Schätzungen zufolge etwa 460 IS-Kämpfer ums Leben gekommen sein.

Der Trend der wachsenden Zahl der IS-Unterstützer habe sich in den vergangenen Monaten immer klarer abgezeichnet (März 2014: geschätzt 7000, Juli 2014: geschätzt 12.000), heißt es in dem Zeitungsartikel weiter. Man könne heute davon ausgehen, dass rund 16.000 ausländische Kämpfer alleine in Syrien agierten. Die größte Zahl dieser Dschihadisten stamme aus anderen Ländern der Nahostregion und aus Nordafrika. Aus Tunesien kämen weit mehr Kämpfer als aus irgendeinem anderen Land. Rund 2000 IS-Sympathisanten seien aus europäischen Ländern eingereist. Die meisten Militanten hätten Syrien auf dem Landweg über die Türkei erreicht, so Pentagon-Korrespondentin Missy Ryan in ihrem Beitrag für die Washington Post.


Video-Hinweis: Das im Februar 2014 erstmals veröffentlichte Video „Gotteskrieger Robert und David: Zwei Konvertiten auf dem Weg in den Märtyrertod“ von SPIEGEL TV zeichnet den verhängnisvollen Weg zweier deutscher Konvertiten nach. Was geht in jungen Männern vor, die ihr Leben in Deutschland gegen den bewaffneten Kampf in Syrien eintauschen? Warum sind sie bereit, im Krieg zu sterben? Wie wurden sie innerhalb kürzester Zeit zu radikalen Islamisten?

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Audio-Hinweis: Nachfolgender Link führt Sie zur Audiodatei „Syrien und der unterschätzte Salafismus“. Sie hören hier das Interview des RBB-Inforadios mit Hans-Georg Maaßen, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Das Gespräch zum Thema „Deutschlands Gotteskrieger und ihr Nährboden“ führte Moderator Ingo Kahle am 25. Oktober 2014.

RBB-Interview „Syrien und der unterschätzte Salafismus“


Zu unserem Bildmaterial:
1. bis 4. Szenen aus verschiedenen IS-Propagandavideos, die Kämpfer der Terrorbande in Syrien und im Irak zeigen.
(Videostandbilder: Quelle Long War Journal)

5. Jörg Ziercke, Präsident des Bundeskriminalamtes.
(Foto: Deutschlandradio)

6. Hans-Georg Maaßen, Leiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz.
(Videostandbild: Quelle RBB)


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