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Berlin. Der 6. Oktober 2014 könnte in die Annalen der Bundeswehr eingehen als der Tag, an dem im Wehrressort eine neue Zeitrechnung begann. Oder zumindest der Versuch eines Neuanfangs gewagt wurde. Vielleicht wird dieser 6. Oktober auch einmal deswegen in Erinnerung bleiben, weil an diesem Montag eine mutige Frau für unsere Streitkräfte einen neuen Kurs zu rettenden Ufern anlegte. Ursula von der Leyen hat kurz nach ihrer Amtsübernahme erkannt, dass in ihrem Ministerium bei der Rüstungsbeschaffung bedrohliche Unwuchten wirken. Missstände! Sie wagte, was ihre christdemokratischen Vorgänger – Franz Josef Jung, Karl-Theodor zu Guttenberg und Thomas de Maizière – in dieser Konsequenz bleiben ließen. Sie misstraute Sachstandsberichten und Mängeldarstellungen aus dem eigenen Haus, baute auf externen Sachverstand und unvoreingenommene Perspektiven und bestellte eine knapp 1,4 Millionen teure Expertise zur Rüstungsbeschaffung der Bundeswehr. Das Gutachten wurde an diesem 6. Oktober 2014 öffentlich. Es ist eine gut 1500 Seiten starke „schonungslose Analyse“, so die Verteidigungsministerin zwei Tage später im Deutschen Bundestag. Diese Analyse ist gleichsam ein „Point of no Return“ und zwingt die Ministerin zum Handeln, ja verdammt sie fast schon zum Erfolg.

„Ohne eine grundlegende Reform des Beschaffungskreislaufs ist auch in Zukunft die sachgerechte Ausrüstung nicht gewährleistet.“ Zu diesem harten Urteil kommt der Generalinspekteur der Bundeswehr, Volker Wieker. In einem vertraulichen Papier beklagt er weiter, dass sämtliche große Rüstungsprojekte unserer Streitkräfte von drei Merkmalen gekennzeichnet seien: „Sie fallen aus dem Kostenrahmen, sie fallen aus dem Zeitrahmen“ – und sie böten außerdem – „häufig nicht einmal das geforderte Fähigkeitsspektrum“.

Aus Wiekers 62 Seiten starker Stellungnahme („Bericht des Generalinspekteurs der Bundeswehr zum Prüfauftrag aus der Kabinettsklausur“) zitierte zunächst das Handelsblatt. Am 1. September 2010. Vier Jahre ist es also bereits her, dass der oberste Soldat der Bundeswehr den Bereich der Rüstungsbeschaffung geißelte. Bundeswehr und Auftragnehmer in der Wirtschaft trügen hierfür gleichermaßen Verantwortung, urteilte Wieker damals über das desaströse Beschaffungswesen. Adressat seiner Warnungen war Karl-Theodor zu Guttenberg, zu dieser Zeit Verteidigungsminister. Vier Jahre später nun bestätigen „Externe“ im Kern die schonungslose Analyse des Heeresgenerals.

Ihr Gutachten, den Medien und der Öffentlichkeit am 6. Oktober als Exzerpt zugänglich gemacht, stellt dem Rüstungsbeschaffungswesen des Bundesministeriums der Verteidigung insgesamt ein erschreckend schlechtes Zeugnis aus. Doch mehr dazu gleich.

Zu viele offene Fragen bei der Sitzung des Rüstungsboards

Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen hatte die Überprüfung von zentralen Rüstungsprojekten durch externe Berater angewiesen, nachdem sie bei einer Tagung des Rüstungsboards am 19. Februar dieses Jahres „viele offene Fragen hatte, die nicht im Haus beantwortet werden konnten“ (so von der Leyen). Das Gremium, in dem neben der Ministerin die vier Staatssekretäre sowie betroffene Abteilungsleiter mit Schnittstellen zum Rüstungsbereich vertreten sind – sollte sich an diesem Mittwoch mit der Akten- und Faktenlage der 15 wichtigsten Rüstungsprojekte der Bundeswehr befassen. Medienberichten zufolge hatte die neue Chefin des Verteidigungsressorts bei dieser Arbeitssitzung keinen einzigen der ihr vorgelegten Projektstatusberichte gebilligt. Alle waren ihr „unzureichend“ erschienen.

Kurz darauf entließ von der Leyen als Konsequenz aus den massiven Problemen und Ungereimtheiten bei großen Rüstungsdeals – erinnert sei an die Affäre um die Drohne Euro Hawk – den Staatssekretär im Bundesministerium der Verteidigung, Stéphane Beemelmans (er wurde später mit Wirkung vom 24. Februar 2014 in den einstweiligen Ruhestand versetzt). Beemelmans war zuletzt unter anderem für den Bereich „Administration und Ausrüstung“ zuständig gewesen.

Der damalige Abteilungsleiter „Ausrüstung, Infrastruktur und Nutzung“ im Bundesministerium der Verteidigung, Ministerialdirektor Detlef Selhausen, wurde mit Wirkung vom 20. Februar ebenfalls von seinen Aufgaben entbunden.

Wirtschaftliche, technische und rechtliche Beratung

Die Vergabe der externen Beratungsleistung wurde am 27. Juni nach einer öffentlichen Ausschreibung abgeschlossen. Den Zuschlag für den Auftrag erhielt ein Konsortium aus KPMG, P3 Ingenieurgesellschaft und Taylor Wessing. Das Konsortium bündele die Expertise in den Bereichen wirtschaftlicher, technischer und rechtlicher Beratung, erklärte das Ministerium.

Die KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft (Berlin) betrachtete Rüstungsprojekte aus vornehmlich wirtschaftlicher Perspektive. Die P3 Ingenieurgesellschaft mbH (Aachen) und ihre Unterauftragnehmer brachten für die Bestandsaufnahme und Risikoanalyse die erforderliche technische Perspektive ein. Taylor Wessing Rechtsanwälte PartG mbH (Düsseldorf) und KPMG Rechtsanwaltsgesellschaft mbH waren im Unterauftrag von KPMG für ausgewählte Fragen juristisch beratend tätig.

Der Auftrag der Ministerin war dem Konsortium formal erteilt worden durch das Koblenzer Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr (BAAINBw). Das Beraterteam sollte „Strukturen und Prozesse im Management der Rüstungsprojekte überprüfen, dabei Transparenz für Parlament und Öffentlichkeit herstellen sowie notwendige Verbesserungen anhand einzelner Teilgutachten für jedes der ausgewählten zentralen Rüstungsprojekte“ aufzeigen.

Innerhalb von drei Monaten untersuchten die Experten in zehn interdisziplinären Arbeitsgruppen parallel die Risiken der folgenden neun Projekte und Vorhaben: Schützenpanzer Puma, Transportflugzeug A400M, Eurofighter, NATO Helicopter (NH 90) einschließlich „Global Deal“ (Vereinbarung des Verteidigungsministeriums mit EADS/Airbus Group über eine reduzierte Abnahme von Hubschraubertypen), Unterstützungshubschrauber Tiger, Fregatte Klasse 125 (F125), Taktisches Luftverteidigungssystem (TLVS), Streitkräftegemeinsame verbundfähige Funkausstattung (SVFuA) sowie System der luftgestützten weiträumigen Überwachung und Aufklärung (SLWÜA).

Wie Ministerin von der Leyen am 6. Oktober sagte, stellen diese neun Rüstungsprojekte gut zwei Drittel des gesamten Investitionsvolumens des Wehrressorts – etwa 57 Milliarden Euro – dar.

Die Projektsachstände und Risiken sowie die Handlungsempfehlungen für die einzelnen Projekte wurden durch die Analyse von mehreren Zehntausend Seiten Projektdokumentation und Vertragswerk gewonnen. Darüber hinaus flossen in das KPMG-Gutachten die Erkenntnisse aus mehr als 100 Interviews sowie zahlreichen Workshops und Hintergrundgesprächen ein. Das öffentlich zugängliche Exzerpt enthält die wesentlichen Ergebnisse des Gesamtgutachtens, das der Einstufung als Verschlusssache der Stufe „VS – nur für den Dienstgebrauch“ unterliegt.

Rüstungsmanagement muss dringend und verzugslos optimiert werden

Die Analyse der ausgewählten Rüstungsprojekte und ‐vorhaben zeigt nun, dass eine „Optimierung des Rüstungsmanagements in nationalen und internationalen Großprojekten dringend und ohne Verzug geboten ist“. Dies ist eines der Kernergebnisse, zu dem die Experten kommen. Weiter heißt es in der Zusammenfassung des 50-seitigen Exzerpts: „Dem Bund gelingt es häufig nicht, seine Kosten‐, Termin‐ und Leistungsziele gegenüber dem Auftragnehmer durchzusetzen.“ Oder: „Der Bund kann seine Beschaffungsziele häufig nicht am Markt durchsetzen.“

An anderer Stelle bemängeln die Analysten: „Auf ein Rüstungsprojekt nimmt eine Vielzahl von Akteuren Einfluss, deren Interessen heterogen, teils gegenläufig sind.“ Bitter auch dieses Ergebnis: „Die personelle Ressourcenausstattung der Projektteams von Großprojekten ist weder quantitativ noch qualitativ ausreichend und auch nicht flexibel einsetzbar. Infolgedessen werden wichtige Tätigkeiten im Projekt häufig nur eingeschränkt oder überhaupt nicht ausgeführt.“ Alarmierend gar der folgende Hinweis: „Es gibt nur ein geringes Bewusstsein hinsichtlich der Bedeutung eines systematischen Risikomanagements für die erfolgreiche Projektsteuerung […] Risiken werden häufig erst wahrgenommen, wenn sie zu Problemen geworden sind und bereits zu Terminverschiebungen und Budgetüberschreitungen geführt haben.“

Aus der Liste ganz grundsätzlicher Mängel im Management der Bundeswehr-Rüstungsprojekte ließe sich noch weiter zitieren (Anm.: über den Sachstand und die Risikolage der begutachteten sieben Rüstungsprojekte und zwei Rüstungsvorhaben werden wir in einem gesonderten Beitrag berichten).

Das Gesamtgutachten weist insgesamt auf rund 140 Probleme und Risiken hin und beinhaltet rund 180 konkrete und übergreifende Handlungsempfehlungen. Die Beratergruppe warnt vorsorglich: „Die Umsetzung dieser Handlungsempfehlungen bedeutet ein ambitioniertes Arbeitsprogramm, das mindestens für die kommenden zwei Jahre erhebliche Kräfte binden wird.“ Allerdings werde die Umsetzung auch „Probleme beseitigen und Risiken minimieren“. Die Empfehlungen seien auch geeignet, die systemimmanenten und sich in mehreren Projekten wiederholenden Phänomene – beispielsweise den Stückkostenanstieg durch reduzierte Mengenabnahme, die veränderten Funktionsanforderungen über lange Laufzeiten mit der Folge der Produktion von Unikaten statt Serienmodellen oder die Abhängigkeiten zwischen einzelnen Projekten – strukturiert zu verbessern.

Bund muss sich juristisch auf Augenhöhe mit den Anbietern bewegen

Im Umkehrschluss zu den aufgedeckten und kommunizierten Defiziten empfehlen die KPMG-Gutachter dringend die Beherzigung der vier folgenden Grundsätze. Erstens: Das Management von Rüstungsprojekten verlangt eine Führungskultur, in der Transparenz und Integrität gelebt werden. Zweitens: Die Bundeswehr ist zunehmend auf die datentechnische Vernetzung aller Waffensysteme angewiesen – dies spiegelt sich in einer übergreifend beschriebenen Fähigkeitslage sowie der übergreifenden Steuerung von Rüstungsprojekten wider. Drittens: Entscheidend für den Erfolg von Großprojekten ist eine enge professionelle Zusammenarbeit zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer. Viertens: Verträge müssen zu einem führenden Instrument des Projektmanagements werden und für den Fall auseinanderdriftender Interessen inhaltlich vorbereitet sein. Der Bund muss sich beim Entwurf komplexer (internationaler) Verträge am Niveau privatwirtschaftlicher Vertragsgestaltung orientieren, Anreize setzen, Sanktionen durchsetzen und dadurch – mit eigener oder externer Kompetenz – juristisch auf Augenhöhe mit den Anbietern bewegen.

Diese vier Grundsätze wollen die externen Berater des Verteidigungsministeriums als „Anregung für das Leitbild guten Managements von Großprojekten im Verteidigungssektor“ verstanden wissen. Zugleich verweisen diese angemahnten Grundsätze auch auf die elementaren Defizite in der bisherigen Praxis des Beschaffungsmanagements der Bundeswehr.

Über die Reaktionen auf das Gutachten, erste Maßnahmen der Verteidigungsministerin und die Aktuelle Stunde im Bundestag zu dem Thema „Beschaffungsmanagement“ informiert Sie der Teil 2 unseres Beitrages.


Zu unseren beiden Bildern:
1. Das Gebäude der KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft in der Klingelhöferstraße in Berlin. KPMG ist ein weltweites Netzwerk rechtlich selbstständiger Firmen mit rund 155.000 Mitarbeitern in 155 Ländern. In Deutschland gehört KPMG zu den führenden Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsunternehmen und ist mit etwa 8700 Mitarbeitern an 20 Standorten präsent. Die Wurzeln des Verbundes der Wirtschaftsexperten reichen zurück bis zur Gründung der Deutsch-Amerikanischen Treuhandgesellschaft im Jahr 1890. Der Name „KPMG“ setzt sich aus den Initialen der Gründungsmitglieder zusammen: Klynveld (Piet Klynveld gründete 1917 die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Klynveld Kraayenhof & Co. in Amsterdam, Peat (William Barclay Peat rief 1870 die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft William Barclay Peat & Co. in London ins Leben), Marwick (gemeinsam mit Roger Mitchell gründete James Marwick 1897 die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Marwick, Mitchell & Co. in New York City) und Goerdeler (Reinhard Goerdeler war der erste Präsident der International Federation of Accountants, der internationalen Vereinigung der Wirtschaftsprüfer).
(Foto: KPMG)

2. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen nimmt am 6. Oktober 2014 das von ihr in Auftrag gegebene Gutachten – Titel „Umfassende Bestandsaufnahme und Risikoanalyse zentraler Rüstungsprojekte“ – im Ministerium in Berlin in Empfang.
(Foto: Uwe Grauwinkel/Bundeswehr)


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