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Berlin. Der neue Vorsitzende des Deutschen Bundeswehr-Verbandes (DBwV), André Wüstner, hält die engere Zusammenarbeit der europäischen Armeen für unverzichtbar. „Europa kann sich auf Dauer keine Bonsai-Armeen leisten, sondern muss verteidigungspolitisch zusammenwachsen“, sagte Wüstner in einem Interview mit der Wochenzeitung Das Parlament. Die Ausgabe mit dem Wüstner-Interview erschien am 2. Dezember (die Redaktion erteilte für diesen Beitrag die Nachdruckerlaubnis).

Weiter sagte Wüstner, es sei nachvollziehbar, das Verfahren der deutschen Parlamentsbeteiligung für bestimmte Situationen zu überprüfen. „Das betrifft zum Beispiel den Einsatz von Soldaten in multinationalen Stäben.“ Grundsätzlich gelte aber die im Parlamentsbeteiligungsgesetz geregelte Befassung des Bundestages. Diese sei „eine Stärke Deutschlands und keine Schwäche“, so der 39-jährige Oberstleutnant.

Wüstner unterstrich zudem, dass es der Bundeswehr international hoch angerechnet werde, dass sie aktuell mehr als 5000 Soldatinnen und Soldaten bei Auslandseinsätzen stelle – bei gleichzeitiger Neuausrichtung der Truppe. „Dies ist ein enormer Kraftakt“, erklärte der neue DBwV-Bundesvorsitzende, der bereits in Auslandseinsätzen in Afghanistan und im Kosovo gedient hat. Dass der Bundestag vor Kurzem erst die Einsätze UNAMID und UNMISS in Darfur und im Südsudan nach nur einer Beratung im Plenum und ohne Ausschussberatung verlängert hat, sei der politischen Situation geschuldet und verständlich. Grundsätzlich fordere der Bundeswehr-Verband aber „immer die ausgiebige Debatte zu jedem Mandat“, sagte Wüstner.

Das Interview aus der Wochenzeitung Das Parlament mit dem am 20. November dieses Jahres neu gewählten Vorsitzenden der Interessenvertretung der Soldaten im Wortlaut:



Die sogenannte „Dunkelziffer“-Studie im Auftrag des Deutschen Bundestages zeigt, dass Auslandseinsätze das Risiko für psychische Erkrankungen erhöhen. Die Forscher schätzen, dass jeder zweite Soldat mit solchen Problemen zurückkehrt. Schickt die Bundeswehr ihre Soldaten und Soldatinnen hinreichend vorbereitet in die Einsätze?
Wüstner: Der Bundeswehr-Verband weist seit Jahren auf diese Problematik hin und hat auch schon verschiedene Forderungen durchsetzen können. Nichtsdestotrotz sind die Zahlen alarmierend und man muss sie sehr ernst nehmen. Den internationalen Vergleich braucht die Bundeswehr mit ihren präventiven Maßnahmen allerdings nicht scheuen. In den vergangenen vier Jahren wurde viel im Bereich der Fürsorge vorangebracht. Wesentlicher Schlüssel bleibt der Einsatzrhythmus mit ausreichenden Zwischenräumen zur Regeneration.

Jeder fünfte Soldat hat laut Studie solche Probleme, bevor er in Einsätze geschickt wird. Muss eine intensivere psychische Vorbereitung stattfinden?
Wüstner: Es gibt eine Vielzahl von Vorabunterrichtungen zum Stress- und Belastungsmanagement oder zum Thema „Führen im Gefecht“. Die Aufnahme- und Vorbereitungsverfahren haben heute sehr viele psychologische Komponenten. Es ist allerdings für Vorgesetzte schwierig, vorab zu beurteilen, ob jemand psychisch vorbelastet ist. Eines muss sich aber in allen Köpfen festsetzen: Eine seelische Schädigung darf kein Anlass zu Scham sein, sie einzugestehen, ist kein Zeichen von Schwäche!

Der Bundestag hat die Mandate UNMISS und UNAMID nach einmaliger Beratung verlängert. Abweichend vom üblichen Prozedere wurde die Anträge nicht in den Fachausschüssen debattiert – weil es diese noch nicht gibt. Hätten Sie sich gewünscht, dass es die übliche, ausgiebigere Beratung gegeben hätte?
Wüstner: Als Verband fordern wir immer die ausgiebige Debatte zu jedem Mandat. Damit wird der Impuls gesetzt, dass man sich mit den Einsätzen befasst, nicht nur im Bundestag, sondern auch in den Medien, in der Gesellschaft. Dass wir jetzt vorübergehend einen Hauptausschuss haben, ist der politischen Situation geschuldet. Das ist verständlich und auch verkraftbar. Dennoch ist es gut, dass im aktuellen Koalitionsvertrag der Satz verankert ist, dass wir auch zukünftig an der Parlamentsarmee festhalten.

Dort steht aber auch, dass eine Kommission prüfen soll, wie sich die Parlamentsrechte bei fortschreitender Bündnisintegration überhaupt sichern lassen …
Wüstner: Das Parlamentsbeteiligungsgesetz ist – so wie es auch im Koalitionsvertrag zu lesen ist – eine Stärke Deutschlands und keine Schwäche. Es ist aber nachvollziehbar, Verfahren für bestimmte Situationen zu überprüfen, wenn wir mehr Lastenteilung in Europa oder auf Ebene der NATO fordern. Das betrifft zum Beispiel den Einsatz von Soldaten in multinationalen Stäben.

Der Dezembergipfel der Europäischen Union widmet sich der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik und damit dem Ziel, die Fähigkeiten europäischer Armeen aufeinander abzustimmen. Wie realistisch ist es überhaupt anzunehmen, dass – sagen wir Großbritannien – auf eine entscheidende militärische Fähigkeit verzichtet, weil –zum Beispiel Deutschland – sich auf diese Fähigkeit spezialisiert?
Wüstner: Das ist schwieriger als viele glauben. Vor dem Hintergrund sinkender Verteidigungshaushalte ist eine europäische Abstimmung wichtiger denn je. Europa kann sich auf Dauer keine Bonsai-Armeen leisten, sondern muss verteidigungspolitisch zusammenwachsen. Verteidigungsminister Thomas de Maizière hat im Rahmen der NATO den Vorschlag eines „Framework Nations Concept“ gemacht, das eine engere militärische Zusammenarbeit und die gemeinsame Entwicklung von Fähigkeiten vorsieht. Ob andere Nationen dem zustimmen oder nicht, ist eine Frage von Verlässlichkeit auch unserer Politik.

Ist die Truppe auf Auslandseinsätze gut eingestellt – oder notgedrungen vor allem mit der Bundeswehrreform beschäftigt?
Wüstner: Minister de Maizière hat mit Blick auf die Neuausrichtung der Bundeswehr von einer Operation am offenen Herzen gesprochen, während der Patient auf der Straße spazieren geht. So muss man das auch sehen. Wir haben aktuell mehr als 5000 Soldatinnen und Soldaten in den Einsätzen und führen zugleich diese komplexe Neuausrichtung durch. Das ist ein enormer Kraftakt. Trotzdem gelingt es, bei den Auslandseinsätzen die Leistung zu erbringen, die wir erbringen müssen. Das wird der Bundeswehr international hoch angerechnet.

Eine Studie Ihres Verbandes und der Uni Chemnitz ergab im Sommer, dass die Frustration insbesondere beim Führungspersonal sehr groß ist. Hat sich die Situation seither verbessert?
Wüstner: Die Reform hat zu Beginn den Schwerpunkt auf Prozesse und Strukturen gelegt und sich leider zu wenig mit dem Personal auseinandergesetzt. Das Personal ist aber der wesentliche Faktor für Einsatzbereitschaft und Leistungsfähigkeit einer Armee. Mittlerweile rückt der Mensch mehr in den Vordergrund und das ist auch im Koalitionsvertrag ablesbar. Das ist ein erstes Signal, und es ist von besonderer Bedeutung!

Der Wehrbeauftragte hat jüngst von einer wachsenden Zahl der Beschwerden berichtet. Deckt sich das mit Ihrer Einschätzung?
Wüstner: Das ist so, die Zahl der Eingaben hat zugenommen. Das war zu erwarten, denn wenn man eine Neuausrichtung mit derartiger Geschwindigkeit durchführt, sind nicht alle Schritte zu vermitteln und es werden Fehler gemacht. Jetzt kommt es darauf an, Fehler zu erkennen und nachzusteuern.

Die Koalitionäre wollen eine „Attraktivitätsoffensive“ starten und unter anderem auch mehr Frauen für die Bundeswehr gewinnen. Ist die Bundeswehr kein attraktiver Arbeitgeber?
Wüstner: Sie ist heute ein attraktiver Arbeitgeber. Aber sie muss es auch im Jahre 2020 noch sein. Die Wirtschaft hat vielerlei Möglichkeiten, qualifizierten Nachwuchs zu gewinnen und deswegen muss man schon heute überlegen, wie man den Dienst in den Streitkräften auch zukünftig attraktiv gestaltet – und dabei sowohl der demografischen Entwicklung und dem sich abzeichnenden Fachkräftemangel Rechnung trägt. Der Verteidigungsminister ist uns noch ein zeitgemäßes Konzept zur Nachwuchsgewinnung für die Freiwilligenarmee schuldig.

Kommt der Abzug aus Afghanistan zum richtigen Zeitpunkt?
Wüstner: Die politische Entscheidung für den Abzug ist gefallen und der Fahrplan steht fest. Wir haben nächstes Jahr eine enorme Häutung vor uns. Da geht es um eine massive Reduzierung. Die Frage, ob der Zeitpunkt dafür der richtige ist, wird sich nächstes Jahr im Zuge der Wahlen in Afghanistan und in der weiteren Entwicklung des Landes zeigen. Fakt ist: Egal, wie es in Afghanistan nach 2014 weiter geht – die Politik muss klar machen, dass auch bei einem Scheitern des Engagements der „Schwarze Peter“ keinesfalls bei den Streitkräften liegt.

Sie sind der erste Vorsitzende des Deutschen Bundeswehr-Verbandes mit Einsatzerfahrung. Wie verändert die „Generation Einsatz“ die Bundeswehr?
Wüstner: Noch vor Jahren war die Bundeswehr im Schwerpunkt im Übungsbetrieb. Seit den 1990er-Jahren sind wir in realen Gefahrensituationen. Wir erleben Dinge, die einst nur im Unterricht beschrieben wurden, beispielsweise Tod und Verwundung. Wir richten uns sehr gut auf diese Umstände aus. Die Bundeswehr hat sich enorm weiterentwickelt, sie ist professioneller geworden. Ich würde mir wünschen, dass Soldatinnen und Soldaten in allen Teilen der Gesellschaft mehr Respekt und Anerkennung finden, als das bisweilen der Fall ist.


Unsere beiden Aufnahmen zeigen Oberstleutnant André Wüstner im Porträt und während eines Afghanistan-Besuches. Im Bild (von links): SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier, Generalmajor Erich Pfeffer, der damalige Befehlshaber des Regionalkommandos Nord, und Wüstner am Ehrenhain für die gefallenen Soldaten in Mazar-e Sharif.
(Fotos: Deutscher Bundeswehr-Verband)


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