menu +

Nachrichten



Berlin. Die Allgemeine Wehrpflicht ist in Deutschland seit fast zwei Jahren Geschichte. Am 24. März 2011 hatte der Bundestag diese Wehrform mit großer Mehrheit (zum 1. Juli) ausgesetzt. Der Wehrdienst war nach dem Ende des Ost-West-Konflikts mehrfach verkürzt worden, am Ende dauerte er nur noch sechs Monate, Wehrgerechtigkeit war da nicht mehr möglich. Dem Zwang folgte das Prinzip der Freiwilligkeit: am 4. Juli 2011 begrüßte Verteidigungsminister Thomas de Maizière in der Julius-Leber-Kaserne in Berlin persönlich die ersten Freiwillig Wehrdienst Leistenden. Mit Handschlag…

An diesem Montag im Sommer 2011 traten bundesweit 3375 Männer und 44 Frauen ihren Dienst in den Streitkräften an. Einen „Schnupper-Wehrdienst“ mit Verpflichtungszeiten zwischen sieben und 23 Monaten und einer sechsmonatigen Probezeit. Bereits kurze Zeit später, im Oktober, gaben 780 dieser ersten Freiwilligen ihre Uniform wieder ab. Der Bund war nicht „ihr Ding“. De Maizière kommentierte damals den Personalschwund gelassen: „Es ist richtig und fair, dass derjenige, der freiwillig kommt, natürlich auch freiwillig wieder gehen kann.“ Man werde allerdings die Gründe für das Ausscheiden analysieren und „wo immer möglich, versuchen, gegenzusteuern“.

Moderate Dienstzeiten und tiefer Schlaf

Inzwischen scheinen Minister und Führung Antworten gefunden zu haben. Denn als jetzt die Bundeswehr in einer zunächst unaufgeregt klingenden Pressemitteilung (und fast ganz am Ende ihres Nachrichtentextes) einräumte, dass die Abbrecherquote bei den Freiwilligen in den ersten sechs Monaten der Dienstzeit im Durchschnitt 30,4 Prozent betrage, meinte de Maizière in einem Zeitungsinterview: „Einige Rekruten überrascht es offenbar, dass sie morgens mit geputzten Stiefeln zum Dienst erscheinen sollen, in einer Stube mit mehreren Soldaten schlafen oder dass sie nur in der Raucherpause rauchen dürfen.“ Sind viele Teilnehmer am „Bundeswehr-Schnupperkurs“ die Sache zu blauäugig angegangen? Sind viele zu empfindsam?

Die Süddeutsche Zeitung berichtete vor kurzem über eine interne Dienstanweisung „Sofortmaßnahmen zur Verbesserung der Grundausbildung im Heer“, die uns – eingedenk unserer eigenen Rekrutenzeit – noch jetzt neidisch werden lässt. Die Freiwillig Wehrdienst Leistenden sollen in der Nacht nicht gestört werden, ihre „nächtliche Ruhezeit beträgt grundsätzlich acht Stunden“. Auch sollen die Neuen „behutsam an die Belastungen des militärischen Alltags herangeführt werden“. Dazu seien „moderate“ Dienstzeiten und „das Unterlassen überzogener Härten“ nötig.

Fast scheint es eine denkwürdige Dramaturgie des Schicksals zu sein, dass in diesen Tagen auch ein kleines Bundeswehr-Kapitel des Verfassers endete. Seine „geliebte“ Oberschwaben-Kaserne am Luftwaffenstandort Mengen/Hohentengen hat ausgedient und wird geschlossen. Hier war er einmal einer unter insgesamt rund 100.000 Rekruten, die in den letzten fünf Jahrzehnten mit klopfendem Herzen zur Grundausbildung angereist waren und Soldatenalltag „pur“ erlebten: Gleichschritt, Laufschritt, Waffendrill, Alarm in der Nacht, Märsche, Übungen, rauhe Befehlstöne, herzliche Ausbilder, Kameradschaft. Manch einer von uns wäre damals gerne „behutsamer an die Belastungen des militärischen Alltags herangeführt“ worden, hat sich dann aber auch so durchgebissen.

Tausende Plätze weiterhin unbesetzt

Die von der Bundeswehr veröffentlichte Abbrecherquote bedeutet in der Praxis, dass fast jeder dritte Freiwillige innerhalb der sechsmonatigen Probezeit aus der Truppe ausscheidet. Tausende Plätze seien deswegen bei der Bundeswehr unbesetzt, rechneten das Nachrichtenmagazin Der Spiegel und andere Medien nach Bekanntwerden der Statistik hoch. Der überwiegende Teil der Abbrecher habe von sich aus den Dienst quittiert, einige seien auch entlassen worden, so die Bundeswehr weiter. Noch vor einem Jahr habe die Abbrecherquote noch bei 27 Prozent gelegen.

Mit dem Aussetzen der Allgemeinen Wehrpflicht im März 2011 hatte Verteidigungsminister Thomas de Maizière als Ziel 5000 bis 15.000 Freiwillige ausgegeben. Vom 1. Januar 2012 bis zum 1. Januar 2013 waren rund 11.000 Männer und Frauen auf freiwilliger Basis zu einem Dienst von sieben bis zu 23 Monaten einberufen worden (im Durchschnitt 13 Monate). Insgesamt umfasst die Bundeswehr mit Stand Dezember 180.668 Berufs- und Zeitsoldaten sowie 11.150 Freiwillig Wehrdienst Leistende.

Eine unglückliche Werbekampagne?

Der verteidigungspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Rainer Arnold, kritisiert die hohe Abbrecherquote bei den Bundeswehr-Freiwilligen scharf. Er forderte in einem Interview mit dem Kölner Stadt-Anzeiger Minister de Maizière zum Handeln auf. „Man kann bei einer Abbrecherquote von 30,4 Prozent nicht mehr behaupten, das sei normal und die jungen Leute hätten falsche Vorstellungen – so wie es der Minister tut“, sagte Arnold. Vielmehr müssten die Bundeswehr und de Maizière sicherstellen, dass die Interessenten mit den richtigen Vorstellungen angeworben würden und ein klares Bild von der Bundeswehr bekämen. „Das hin und wieder schräge und unglückliche Werbekonzept lädt möglicherweise gerade die Falschen ein“, meint der Verteidigungsexperte der Sozialdemokraten. „Der Minister sollte dafür sorgen, dass der Soldatenberuf als das dargestellt wird, was er ist: nämlich kein Abenteuer.“

Die Truppe wirbt mit dem Slogan „Wir. Dienen. Deutschland.“ Für die Nachwuchsgewinnung standen ihr 2012 rund 29 Millionen Euro zur Verfügung. 2011 waren es 16 Millionen Euro gewesen.

Arnold beklagte zudem die Art der Ausbildung. „Man muss den Dienst so organisieren, dass die jungen Leute gefordert sind und am Freitag nach Hause fahren in dem Bewusstsein, sie haben was geleistet und gelernt“, verlangte er. Es gebe noch zu viel Leerlauf.

Bundeswehr und Lebenswirklichkeit

Die Oppositionsfraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen halten den Dienst in der Bundeswehr insgesamt für nicht attraktiv genug. Dies machten sie auch noch einmal am 16. Januar deutlich. An diesem Mittwoch fand im Deutschen Bundestag die abschließende Beratung des Jahresberichts 2011 des Wehrbeauftragten statt.

Der SPD-Abgeordnete Wolfgang Hellmich beispielsweise forderte vor dem Hintergrund der Abbrecherquote von mehr als 30 Prozent, dass das Konzept des freiwilligen Wehrdienstes auf den Prüfstand komme. Die Bundeswehr müsse sich fragen, ob sie die Lebenswirklichkeit junger Menschen genügend berücksichtige. Alles in allem, so Hellmich, sei die Stimmung in der Truppe wegen der Streitkräftereform nicht gut. „Die Attraktivität der Bundeswehr als Arbeitgeber muss enorm verbessert werden, will sie angesichts der Konkurrenz um Nachwuchs und qualifizierte Kräfte in den nächsten Jahren bestehen.“

Freie Wirtschaft mit ähnlichen Erfahrungen

Vertreter der Bundesregierung und der Unionsfraktion wiesen im Laufe der Debatte die Kritik an der mangelnden Attraktivität der Truppe zurück. Die Meldungen über die Abbrecherquote von 30,4 Prozent bei den Freiwillig Wehrdienst Leistenden sei „aufgebauscht“ worden, sagte die CDU-Abgeordnete Anita Schäfer. Diese Quote entspreche durchaus auch den Erfahrungen der freien Wirtschaft. Die Bundeswehr habe derzeit keine Probleme, ihren Bedarf an Freiwilligen, Zeit- und Berufssoldaten zu decken. Zugleich wolle man „mit einer Vielzahl von Maßnahmen die Attraktivität des Dienstes bei der Bundeswehr weiter steigern“, versprach Schäfer für die Unionsfraktion. Insbesondere das Thema „Vereinbarkeit von Familie und Dienst“ – Stichpunkte „Pendler“ und „Kinderbetreuung“ – erfordere weiterhin die Aufmerksamkeit der Politik.

Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister der Verteidigung Thomas Kossendey argumentierte, die Gründe für den vorzeitigen Abbruch eines freiwilligen Wehrdienstes seien nicht nur in der Bundeswehr zu finden. Dies habe in vielen Fällen mit „falschen Erwartungshaltungen“ vor Dienstantritt zu tun. Mit der hohen Abbrecherquote bei den Freiwillig Wehrdienst Leistenden können man natürlich nicht zufrieden sein, räumte der CDU-Politiker ein. „Die Gründe dafür liegen jedoch durchaus auch im privaten Bereich derer, die sich bei uns beworben haben und die angenommen worden sind. Es liegt auch daran – das haben wir durch Befragungen festgestellt –, dass man vielfach Bewerbungen geschrieben hatte und man sich nach Antritt des Dienstes bei der Bundeswehr auf einmal für etwas anderes entschieden hat.“

Kritische Diskussionen mit Wehrdienstberatern

Der FDP-Abgeordnete Christoph Schnurr missbilligt die hohe Abbrecherquote. Er sagte bei der Beratung im Bundestag: „Wir finden hier eine Quote vor, an die sich ein Spitzenarbeitgeber nicht gewöhnen darf. Diese 30 Prozent sind meiner Ansicht nach per se noch keine Tragödie. In Berlin liegt beispielsweise die Quote der Abbrecher bei Lehrberufen auch bei circa 30 Prozent. Dennoch sollten wir die Beweggründe dieser jungen Menschen aufmerksam betrachten, warum sie ihren Dienst bei der Bundeswehr
frühzeitig quittieren, um dann auch entsprechende Maßnahmen ergreifen zu können.“

Schnurr sprach sich auch für mehr Informationsveranstaltungen über den freiwilligen Wehrdienst durch Wehrdienstberater in den Schulen aus. „Setzen wir uns gemeinsam dafür ein, dass wir Wehrdienstberatern endlich wieder Zugang zu öffentlichen Schulen gewähren, damit sie auch hier wieder nicht nur für die Bundeswehr werben können, sondern mit den jungen Menschen auch kritisch diskutieren können, wie beispielsweise die Jugendoffiziere.“

Fehlt ein Konzept zur Nachwuchsgewinnung?

Stimmen zum Thema „Freiwilliger Wehrdienst“ konnten auch noch einmal einen Tag später eingefangen werden. In erster Lesung beriet am 17. Januar das Parlament über einen Entwurf der Koalitionsfraktionen CDU/CSU und FDP zur Änderung des Soldatengesetzes. Damit sollen die Regelungen zum freiwilligen Wehrdienst in der Bundeswehr in das Soldatengesetz integriert und eine einheitliche Rechtsgrundlage für den Dienst in den Streitkräften in Friedenszeiten geschaffen werden. Das Gesetz wird außerdem die Verwendung der Freiwilligen in Auslandseinsätzen regeln.

SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben an der weitgehend formalen Gesetzesänderung zwar prinzipiell nichts auszusetzen. Sie nahmen jedoch auch diese Lesung zum Anlass, die Abbrecherquote von 30,4 Prozent erneut zu thematisieren.

Offensichtlich nicht genügend vorbereitet

Im Vergleich zu den sozialen Freiwilligendiensten sei dies eine „erschreckende Bilanz“, gab SPD-Abgeordneter Lars Klingbeil zu Protokoll. Er erklärte: „Die Frage, die wir uns bei einer solch hohen Zahl stellen müssen, ist doch: Welche Vorstellungen haben die jungen Leute vom Dienst bei der Bundeswehr, welche Erwartungen haben sie, und wie werden sie im Vorfeld informiert? Bei dieser hohen Quote müssen wir davon ausgehen, dass sie auf die Anforderungen nicht genügend vorbereitet werden. Und dies wiederum kann nur damit zusammenhängen, dass es kein ausreichendes Konzept zur Nachwuchsgewinnung gibt. Nach über zwei Jahren Reform und anderthalb Jahren Freiwilligen Wehrdienst ist dies nicht mehr zu rechtfertigen.“

Die Erwartungen junger Männer und Frauen an die Bundeswehr würden offensichtlich nicht erfüllt, pflichtete Agnes Brugger von Bündnis 90/Die Grünen bei. Sie forderte: „Wir müssen darüber diskutieren, ob der Freiwillige Wehrdienst heute tatsächlich richtig aufgestellt ist. Die jüngsten Zahlen zeigen: Es entscheiden sich zunächst genug junge Menschen für den Freiwilligen Wehrdienst, aber rund 30 Prozent von ihnen brechen dann innerhalb der ersten sechs Monate ab. Die Bundesregierung versucht grundsätzlich, die Bedeutung dieser Zahlen zu relativieren. Eine Abbrecherquote von 30 Prozent lässt sich aber weder ignorieren noch mit externen Ursachen wie der Zusage für Studienplätze erklären.“ Letztendlich sei es auch egal, ob 30, 25 oder 27 Prozent aus Gründen, die im Dienst selbst liegen, abbrechen. Fest stehe, so die Bundestagsabgeordnete der Grünen, dass eine nicht unerhebliche Zahl junger Menschen bei der Bundeswehr Bedingungen vorfinde, die sie zum Abbrechen bewege. Die Zahl dieser Menschen sei im Verlauf der letzten Monate angestiegen. Brugger: „Die jungen Männer und Frauen haben bestimmte Erwartungen an die Bundeswehr als Arbeitgeberin, und ganz offensichtlich werden zu viele dieser Erwartungen enttäuscht. Davor kann man doch nicht die Augen verschließen, sondern man muss nach den Gründen fragen.“

Freiwilliger Wehrdienst – ein Fehlgriff?

Grundsätzliche Einwände formulierte Paul Schäfer (Die Linke): „Man sollte wirklich nicht so tun, als ob der Freiwillige Wehrdienst in irgendeiner Form mit den sonstigen Formen des staatsbürgerlichen Engagements und der Gemeinnützigkeit zu tun habe. Er ist kein Ehrenamt, sondern ein teurer Schnupperkurs beim Militär … Zieht man nach anderthalb Jahren Bilanz, müsste der Freiwillige Wehrdienst eigentlich als Fehlgriff bewerten und ad acta gelegt werden: Als Instrument der Nachwuchswerbung ist er untauglich.“

Ganz anders sah auch bei diesem parlamentarischen Termin die Unionsfraktion die Entwicklung des freiwilligen Bundeswehr-Wehrdienstes. Der CDU-Abgeordnete Robert Hochbaum ließ protokollieren: „Der uns vom Verteidigungsministerium im Oktober vergangenen Jahres vorgelegte Erfahrungsbericht über ein Jahr Freiwilligen-Wehrdienst zeigt, dass wir 2011 die richtige Entscheidung getroffen haben und uns seitdem auf einem guten Weg befinden. Die Freiwillig Wehrdienst Leistenden sind hochmotiviert, weisen ein gutes Bildungsniveau auf und zeigen eine große Einsatzbereitschaft … Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion stimmen mit dem im Bericht getroffenen Fazit, dass der ,Freiwillige Wehrdienst in seiner jetzigen Form erhalten bleiben‘ soll, vollends überein.“

Hochbaum, Schäfer, Brugger und Klingbeil sind Mitglieder des Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestages.

Hinweis: In unserer BIBLIOTHEK finden Sie ein Special aus unserem bundeswehr-journal (Ausgabe 2+3/2011) zum Thema „Allgemeine Wehrpflicht“.


Zu unserer Bildauswahl:
1. Beginn der Bundeswehr-Werbekampagne „Wir. Dienen. Deutschland“.
(Foto: Andrea Bienert/Bundeswehr)

2. Die ersten Freiwillig Wehrdienst Leistenden rücken ein – die Aufnahme entstand am 4. Juli 2011 in der Julius-Leber-Kaserne in Berlin.
(Foto: Sebastian Wilke/Bundeswehr)

3. Unsere Hintergrundbild vom Januar 2011 zeigt eine Stube der 13. Kompanie des Luftwaffenausbildungsregiments in Strausberg. Matthias Ebert (Vordergrund) und seine Kameraden gehörten zu den letzten Wehrpflichtigen, die damals eingezogen wurden.
(Foto: Andrea Bienert/Bundeswehr, Infografik © mediakompakt)


Kommentieren

Bitte beantworten Sie die Frage. Dies ist ein Schutz der Seite vor ungewollten Spam-Beiträgen. Vielen Dank *

OBEN