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Berlin. Der Mai 2012 ist den deutschen Sicherheitsbehörden in ganz besonders schlechter Erinnerung geblieben. Damals begann, was unbedingt vermieden werden sollte: die direkte Konfrontation zwischen Islamismus und Rechtsextremismus in Deutschland. Diese neue Situation ist auch ein Schwerpunktthema im „Verfassungsschutzbericht 2012“. Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich und Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen stellten den Bericht am 11. Juni in Berlin vor.

Der Salafismus ist nach Einschätzung des Verfassungsschutzes sowohl in Deutschland wie auch auf internationaler Ebene die zurzeit dynamischste islamistische Bewegung. Derzeit werden den salafistischen Bestrebungen in der Bundesrepublik rund 4500 Mitglieder beziehungsweise Anhänger zugerechnet, etwa 700 mehr als noch im Jahr 2011. Im neuen Verfassungsschutzbericht heißt es: „Die gewalttätigen Ausschreitungen Anfang Mai 2012 in Nordrhein-Westfalen gegen das Zurschaustellen der Mohammed-Karikaturen während der Wahlkampftour der ,Bürgerbewegung pro NRW‘ haben gezeigt, welches Gewaltpotenzial hier vorhanden ist, das sich anlassabhängig entladen kann.“

Ein „immer größeres Problem“ mit „erheblichem Gefahrenpotenzial“

Rückblende: Am 1. Mai 2012 greifen in Solingen Dutzende Salafisten vor dem Rathaus die Polizei an; die Auseinandersetzungen werden ausgelöst durch islamfeindliche Provokationen der rechtsextremen Partei „Pro NRW“. Am 5. Mai liefern sich – wiederum bei einer „Pro-NRW“-Aktion – Salafisten in Bonn eine Straßenschlacht mit den Polizeikräften. Nur drei Tage später, am 8. Mai 2012, verhindern rund 1000 Polizeibeamte in Köln erneute Zusammenstöße zwischen Rechtsextremen und Salafisten. Am 21. Mai 2012 übernimm nach einem Mordaufruf eines Islamisten im Internet gegen deutsche Rechtsextremisten der Generalbundesanwalt die Ermittlungen.

Bei der Präsentation des „Verfassungsschutzberichts 2012“ bezeichneten Minister Friedrich und Verfassungsschutzpräsident Maaßen den Salafismus in Deutschland als „immer größeres Problem“, von dem „ein erhebliches Gefahrenpotenzial“ ausgehe. Unser Land stehe nach wie vor „im Visier des islamistischen Terrors“, erklärte Maaßen. Zwar sei der Salafismus nicht per se mit dem internationalen islamistischen Terrorismus gleichzusetzen, aber er sei vor allem in Deutschland eine Durchgangsstation auf dem Weg zum Terrorismus. Laut Verfassungsschutzbericht ist in der Bundesrepublik das islamistische Personenpotenzial auf 42.550 Personen angewachsen (2011: 38.080). Der Anstieg beruht insbesondere auf der erstmaligen Einrechnung der den salafistischen Bestrebungen zugeordneten Mitglieder/Anhänger (4500) in das Gesamtpotenzial.

Vom Netzwerk gewaltbereiter Islamisten bis zum Einzeltäter

Die islamistische Szene in Deutschland beschreibt der Bericht wie folgt: „Sie besteht aus verschiedenen Strukturen, die stark miteinander vernetzt sind. Hieraus resultieren Gefahren für die innere Sicherheit, die jederzeit in Form von Anschlägen unterschiedlicher Dimension und Intensität real werden können. Das Spektrum islamistisch-terroristischer Strukturen reicht von Netzwerken gewaltbereiter Islamisten, die in enger Beziehung zu ,jihadistischen‘ Organisationen im Ausland stehen, über weitgehend autonom operierende Kleinstgruppen bis hin zu Einzeltätern, die sich – zum Teil in rasanter Geschwindigkeit über das Internet – selbst radikalisieren und Anschläge selbstständig planen.“

Diese Einzeltäter, so die Experten weiter, stellten eine ganz besondere Herausforderung für die Sicherheitsbehörden dar, weil hier Anschlagspläne oder Vorbereitungshandlungen, auch wegen der zurückgezogenen Lebensweise dieser Personen, im Vorfeld nur schwer zu erkennen seien.

Zahl der politisch motivierten Straftaten weiterhin hoch

Einen wichtigen Erkenntnisanteil auch zum aktuellen Verfassungsschutzbericht steuerte wieder das Bundeskriminalamt (BKA) bei. Für das Berichtsjahr 2012 registrierte das BKA insgesamt 27.440 politisch motivierte Straftaten (2011: 30.216). Bei 77,5 Prozent dieser politisch motivierten Straftaten lag ein extremistischer Hintergrund vor (2011: 71,5 Prozent).

Im Phänomenbereich „Politisch motivierte Kriminalität – rechts“ wurden im vergangenen Jahr 17.134 (2011: 16.142) Straftaten mit extremistischem Hintergrund erfasst, darunter 802 Gewalttaten (2011: 755). Bei den rechtsextremistisch motivierten Straftaten war ein Anstieg um 6,1 Prozent und bei den Gewalttaten ein Anstieg um 6,2 Prozent zu verzeichnen. Der Anteil der Gewalttaten an der Gesamtzahl der rechts-extremistisch motivierten Straftaten beträgt 4,7 Prozent (2011: 4,7 Prozent).

Dem Phänomenbereich „Politisch motivierte Kriminalität – links“ wurden 6191 (2011: 8687) Straftaten zugeordnet, hiervon 1291 Gewalttaten (2011: 1809). 3229 Straftaten (2011: 4502) haben einen linksextremistischen Hintergrund, darunter 876 Gewalttaten (2011: 1157). Die Zahl der linksextremistisch motivierten Straftaten ging um 28,3 Prozent zurück. Auch die Zahl der linksextremistisch motivierten Gewalttaten, die im Jahr 2011 seit Einführung des geltenden Definitionssystems „Politisch motivierte Kriminalität“ im Jahr 2001 einen Höchststand erreicht hatte, war 2012 wieder rückläufig: Hier war 2012 ein Rückgang um 24,3 Prozent zu verzeichnen.

Eine latente Gefahr durch die rechte Szene

Auch nach der Aufdeckung der rechtsextremen Zwickauer Terrorzelle NSU („Nationalsozialistischer Untergrund“) sehen Verfassungsschützer weiter eine potenzielle Gefahr durch Rechtsterroristen. Angesichts der hohen Gewaltbereitschaft in der Szene sei die Existenz weiterer rechtsterroristischer Strukturen zumindest möglich, heißt es.

Der „Verfassungsschutzbericht 2012“ kommt beim Blick „nach Rechts“ zu folgenden Ergebnissen: „Das rechtsextremistische Personenpotenzial in Deutschland ist im Jahr 2012 auf 22.150 Personen gesunken (2011: 22.400; 2010: 25.000). Verantwortlich hierfür sind insbesondere die Mitgliederverluste im Parteienspektrum. Das Personenpotenzial der gewaltbereiten Rechtsextremisten ist leicht zurückgegangen und beträgt nunmehr 9600 Personen (2011: 9800; 2010: 9500). Die Anzahl der Neonazis stagniert bei 6000 (2011: 6.000; 2010: 5600).“

Bei den rechtsextremistischen Demonstrationen ist dem Bericht zufolge nach einem Höchststand im Vorjahr nun ein erheblicher Rückgang zu verzeichnen (2012: 211, 2011: 260). Dies betreffe insbesondere die Anzahl von Veranstaltungen des neonazistischen Spektrums (2012: 95; 2011: 167), so der Verfassungsschutz.

Sinkende Hemmschwelle bei Linksextremisten

Große Sorgen bereitet den Behörden weiterhin der Linksextremismus. Wenn auch das Personenpotenzial des Linksextremismus im Jahr 2012 auf 29.400 Personen zurückgegangen ist (2011: 31.800), hat sich doch das Personenpotenzial der gewaltbereiten Linksextremisten gegenüber dem Vorjahr nicht verändert (2012 und 2011: 7100 Personen, darunter 6400 Autonome).

Im neuen Verfassungsschutzbericht wird gewarnt: „Das Gewaltpotenzial im Linksextremismus ist spürbar angestiegen. Zudem belegen zahlreiche Ausschreitungen im Zusammenhang mit Demonstrationen die sinkende Hemmschwelle von Linksextremisten. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass Körperverletzungen bewusst in Kauf genommen werden. Die Zahl der versuchten Tötungsdelikte hat sich 2012 fast verdreifacht (2012: 8, 2011: 3). Angriffe auf Beamte, die Demonstrationen oder sonstige Veranstaltungen sichern, sowie auf Polizeistreifen und -reviere werden weitgehend akzeptiert, sofern Menschenleben dadurch nicht unmittelbar gefährdet werden. Allerdings nehmen Kleingruppen bei ihren Anschlägen zumindest schwere Verletzungen billigend in Kauf.“

Obgleich es im vergangenen Jahr keine herausgehobenen Ereignisse oder Veranstaltungen gab, die einen besonderen Anlass für „antimilitaristische“ Reaktionen geboten hätten, entsprach das Aktionsniveau gewaltbereiter Linksextremisten in diesem Bereich dem Niveau des Vorjahres, erklären die Verfassungsschützer besorgt. „Ziele militanter Aktionen waren neben der Bundeswehr auch privatwirtschaftliche Unternehmen, die Rüstungsgüter herstellen oder mit der Bundeswehr zusammenarbeiten.“

Verbotsverfügung, Verurteilung und Festnahmen

Die eingangs geschilderten Mai-Ereignisse von Solingen, Bonn und Köln haben in der Folge übrigens eine Fortsetzung gefunden. So verzeichnet die „Extremismus-Chronik“ noch folgende Ereignisse und Zwischenfälle: Am 14. Juni 2012 verbietet der Bundesinnenminister die salafistische Vereinigung „Millatu Ibrahim“, die gleichnamige Moschee in Solingen wird durchsucht und versiegelt. Am 19. Oktober 2012 wird ein salafistischer Messerstecher, der im Mai zwei Polizisten schwer verletzt hatte, vom Landgericht Bonn unter anderem wegen gefährlicher Körperverletzung für schuldig gesprochen, der Mann soll sechs Jahre ins Gefängnis. Am 10. Dezember 2012 wird im Bonner Hauptbahnhof ein Sprengsatz gefunden – die Bundesanwaltschaft geht von einem versuchten Terroranschlag mit islamistischem Hintergrund aus. Am 13. März 2013 nimmt die Polizei vier Verdächtige fest, die einen Anschlag auf den Chef von „Pro NRW“ geplant haben sollen; die Ermittler prüfen eine Verbindung der Verdächtigen zum versuchten Anschlag in Bonn.

Der Verfassungsschutzbericht – doch nur „ein Wust an Zahlen“?

Der Präsentation des neuen Verfassungsschutzberichtes durch den Innenminister und den Verfassungsschutzpräsidenten am 11. Juni in der Bundespressekonferenz in Berlin folgte ein laues Medienecho. Die Berichterstattung war Routine – Kommentierungen eher eine Seltenheit.

Volker Schaffranke vom Westdeutschen Rundfunk suchte dazu für die WDR 5-Sendung „Echo des Tages“ nach Erklärungen. Am 11. Juni äußerte er sich zum aktuellen Bericht: „400 Seiten – ein Wust an Zahlen und Grafiken, die belegen sollen: erstens wie gefährlich der Rechtsextremismus in Deutschland ist und zweitens, dass wir nach wie vor im Fadenkreuz des islamistischen Terrors stehen. Das ist der alljährliche Verfassungsschutzbericht! Damit schafft er es am Tag der Präsentation in die Nachrichten. Danach nimmt kaum einer Notiz davon. Wer nie an seinem Wohnort eine aggressive Demonstration der rechten Partei ,Pro NRW‘ erlebt hat, die von gewalttätigen islamistischen Salafisten aufgeheizt wurde; wer das Glück hatte, dass rechte Pöbeleien bisher an ihm vorbeigingen, der nimmt diese Zahlen meist nur zur Kenntnis. Und leider tut das auch die Politik. Nach den schrecklichen zehn Morden der NSU-Terroristen begnügt sich Innenminister Hans-Peter Friedrich mit reinen Beschreibungen. Was fehlt, sind Schlussfolgerungen!“

Die Schlussfolgerungen? Für Schaffranke ist eine neue Behörde, ein Bundesamt für Verfassungsschutz, eine der möglichen entscheidenden Antworten. Ein Bundesamt, „um uns vor Extremisten wirklich zu schützen“. „Was wir brauchen, sind Verfassungsschützer, die ihrem Namen gerecht werden. Noch warten wir auf eine ehrliche, selbstkritische Analyse. Mit einer Problembeschreibung allein ist es nicht getan. Darum war das heute leider wieder nur ein Wust an Zahlen“, kommentierte er die Präsentation der obersten Verfassungsschützer.

Hinweis: Das Video des Senders Phoenix (Phoenix vor Ort) zeigt Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich und den Präsidenten des Bundesverfassungsschutzes, Hans-Georg Maßen, die den „Verfassungsschutzbericht 2012“ vorstellen. Eine offizielle Zusammenfassung des Berichts bieten wir Ihnen als PDF in unserer BIBLIOTHEK (Bereich „Schwarz auf weiß“) zum Download an; wir sind jedoch für die Inhalte dieses Dokuments nicht verantwortlich.


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Zu den Bildern:
Der „Verfassungsschutzbericht 2012“ warnt vor einer weiteren dramatischen Zuspitzung der Konfrontation zwischen radikal-islamistischen Salafisten und rechtsextremen Kräften wie den „Pro-NRW“-Aktivisten.
(Fotos: Archiv mk)


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