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Berlin/Appen. Die Marseille-Kaserne der Deutschen Luftwaffe im schleswig-holsteinischen Appen (Kreis Pinneberg), die auch die Unteroffizierschule der Teilstreitkraft beherbergt, soll umbenannt werden. Der neue Name: „Jürgen-Schumann-Kaserne“. Dies berichtete zunächst exklusiv am 25. März das RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND), die Zentralredaktion der Madsack-Mediengruppe. Momentan trägt die Kaserne den Namen von Hans-Joachim Marseille, einem hochdekorierten Offizier und Piloten der Wehrmacht. Der Inspekteur der Luftwaffe, Generalleutnant Ingo Gerhartz, hat der Truppe die Namensänderung offiziell in einem Tagesbefehl am 26. März mitgeteilt. Jürgen Schumann war Kapitän der Lufthansa-Maschine „Landshut“, die am 13. Oktober 1977 von einem palästinensischen Terrorkommando entführt worden war und schließlich – nach einem dramatischen Irrflug über Rom, Larnaka auf Zypern, Aden im damaligen Südjemen und Dubai – auf dem Flughafen der somalische Hauptstadt Mogadischu gestrandet war. Die Terroristen hatte zu diesem Zeitpunkt bereits Schumann an Bord der „Landshut“ erschossen – bis zuletzt hatte der frühere Bundeswehroffizier versucht, seine Passagiere und die Crew zu schützen.

Hans-Joachim Marseille, der derzeitige Namensgeber der Appener Kaserne, war der „Vorzeige-Pilot“ der Wehrmacht schlechthin. Als Fliegerass mit den meisten Abschüssen auf dem nordafrikanischen Kriegsschauplatz war der Jagdflieger durch die nationalsozialistische Propaganda unter dem Namen „Stern von Afrika“ bekannt geworden. Am 30. September 1942 war Marseille in der Nähe der ägyptischen Ortschaft Sidi Abdel Rahman mit seiner Messerschmitt Bf 109 G-2 infolge eines Motorschadens abgestürzt und umgekommen. Bis dahin hatte der Pilot bei 388 Feindflügen insgesamt 158 Luftsiege erzielt.

Die Bundeswehr hatte die Kaserne in Appen, die sich auf Teilen des Geländes des ehemaligen Fliegerhorsts Uetersen befindet, am 24. Oktober 1975 nach Hauptmann Marseille benannt.

„Ein Unrechtsregime, wie das Dritte Reich, kann Tradition nicht begründen“

Rückblick auf den 16. Mai 2017, Parlamentarischer Abend des Reservistenverbandes. An diesem Dienstag äußerte sich in Berlin die damalige Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen vor dem Hintergrund der in jenen Tagen von ihr angestoßenen Grundsatzdebatte über das Traditionsverständnis der Streitkräfte.

Die Bundeswehr stehe nicht in der Tradition der Armee des NS-Regimes, sie müsse sich daher die Frage stellen, warum sich Soldaten immer noch „monothematisch auf die Wehrmacht“ berufen würden, kritisierte die Ministerin. „Ein Unrechtsregime, wie das Dritte Reich, kann Tradition nicht begründen“, zitierte sie anschließend aus dem zu jenem Zeitpunkt gültigen Traditionserlass der Bundeswehr, der 1982 vom damaligen Verteidigungsminister Hans Apel herausgegeben worden ist. Allerdings gebe es im Hinblick auf diesen Erlass offenbar „große Handlungsunsicherheit“. Dies habe ebenso mit einer „gewissen Unschärfe“ dieses mehr als drei Jahrzehnte alten Erlasses zu tun, als auch mit „Inkonsequenz“ im Umgang mit dem Traditionsverständnis der Streitkräfte. So stünden am Tor der Kasernen nach wie vor Namen wie Hans-Joachim Marseille oder Helmut Lent, gab von der Leyen bei ihrer Rede zu bedenken. „Beide Namensgeber sind nicht mehr sinnstiftend für die heutige Bundeswehr. Sie gehören zu einer Zeit, die für uns nicht vorbildgebend sein kann.“

Mehr als dreieinhalb Jahre später, im Dezember 2020, bestätigte ein Sprecher der Luftwaffe gegenüber der Tageszeitung DIE WELT, dass sich die Beschäftigten der Appener Kaserne mehrheitlich für den neuen Namen „Jürgen-Schumann-Kaserne“ ausgesprochen hätten.

Den Fokus stärker auf die eigene Geschichte ab 1956 legen

Am 28. März 2018 hatte von der Leyen auch einen neuen Traditionserlass unterzeichnet. Er trägt den Titel: „Die Tradition der Bundeswehr – Richtlinien zum Traditionsverständnis und zur Traditionspflege“. Bei dem Erlass handelt es sich um ein Dachdokument (über den Themenkomplex „Streitkräfte und Tradition“ haben wir in der Vergangenheit bereits mehrfach berichtet – beispielsweise hier, hier und hier).

Gut zwei Jahre später, am 8. Juni 2020, erließ Inspekteur Gerhartz die Bereichsvorschrift „Traditionspflege in der Luftwaffe“. In einer Antwort der Bundesregierung am 8. September 2020 auf eine Kleine Anfrage der Linken zum Fragenkomplex „Umsetzungsstand des neuen Traditionserlasses in der Luftwaffe“ wird zudem dokumentiert, dass „bereits im Jahr 2017 auf Anordnung des [Luftwaffeninspekteurs] eine Überprüfung der Namensgebung von Liegenschaften und Infrastrukturelementen in der Luftwaffe“ stattgefunden hatte. Es sei dabei festgestellt worden, dass „die Benennung der ,Marseille‘-Kaserne am Standort Appen nicht mit den Vorgaben der Richtlinien zur Traditionspflege in Übereinstimmung“ stehe. Derzeit erarbeitet die Luftwaffe eine Ausbildungshilfe „Tradition“ für Vorgesetzte – sie soll bis Ende 2021 fertiggestellt sein und veröffentlicht werden.

In seinem aktuellen Tagesbefehl vom 26. März dieses Jahres erklärt der Inspekteur: „Vergangenes Jahr haben wir uns mit der Traditionspflege in der Luftwaffe das Ziel gesetzt, die eigene Geschichte ab 1956 stärker als den zentralen Bezugspunkt unserer Tradition herauszustellen.“ Weiter betont Gerhartz die Bedeutung eines generationenübergreifenden Dialogs, der Tradition pflegen und weiterentwickeln könne. Sein Aufruf an alle Luftwaffenangehörigen: „Lassen Sie uns gemeinsam unsere Traditionspflege gestalten, denn die Zukunft der Luftwaffe ist untrennbar mit unserer Geschichte verbunden.“

Offizier der Deutschen Luftwaffe und Starfighter-Pilot

Die Unteroffizierschule in Appen hat zusammen mit den Angehörigen des Standortes Namensvorschläge für eine Kasernenumbenennung gesammelt und nach einer Befragung aller Standortangehörigen Jürgen Schumann als neuen Namensgeber ausgewählt.

Der Tagesbefehl des Inspekteurs ruft uns den Kapitän der „Landshut“ in klare Erinnerung: „Jürgen Schumann war Starfighter-Pilot, Hauptmann der Luftwaffe und begann beim Fluganwärterregiment in Appen seine fliegerische Grundlagenausbildung. Nach seiner Dienstzeit in der Luftwaffe flog er als Pilot bei der Lufthansa. Als Kapitän der ,Landshut‘ wurde er am 16. Oktober 1977 von deren Entführern erschossen. Er hat sein Leben vor das Leben seiner Passagiere gestellt, als er versuchte, mit den Geiselnehmern zu verhandeln und den Behörden Informationen über die Anzahl der Geiselnehmer zu geben. Sein Mut und sein Verantwortungsbewusstsein sind beispielgebend.“

Den anvertrauten Menschen in Todesangst durch eigene Haltung beigestanden

Über den im jemenitischen Aden ermordeten Lufthansa-Mitarbeiter hielt einmal Lieselotte Berger, die damalige Parlamentarische Staatssekretärin von Bundeskanzler Helmut Kohl, eine bewegende Gedenkrede. Sie sprach am 6. Juni 1988 in Bremen anlässlich der Namensgebung für einen Neubau der Lufthansa-Verkehrsfliegerschule, der heute den Namen „Flugkapitän Jürgen Schumann“ trägt.

Berger würdigte vor 33 Jahren die Persönlichkeit Schumanns mit den Worten: „Am Sonntag, dem 16. Oktober 1977, um 15:55 Uhr wurde Flugkapitän Jürgen Schumann an Bord der entführten ,Landshut‘ in Aden von Terroristen ermordet. Damals beherrschte uns lähmendes Entsetzen, manchen von uns Zorn angesichts der Hilflosigkeit gegenüber diesem menschenverachtenden Terrorismus. Mit den Jahren schien es, als würde das kurze Gedächtnis der Menschen die Erinnerung zurückdrängen, als würde dieses schreckliche Ereignis in den Hintergrund treten und in unserer schnelllebigen Zeit in Vergessenheit geraten. Genau das Gegenteil ist eingetreten. Jürgen Schumann, sein persönlicher Mut und sein von Verantwortung getragenes Verhalten werden als beispielhaft anerkannt und sind unvergessen.“

Als am 13. Oktober 1977 die „Landshut“ mit 86 Passagieren und fünf Besatzungsmitgliedern entführt worden sei, sei Schumann mehr als der Flugkapitän einer LH-Boeing 737, der die Verantwortung für den Flug getragen habe, gewesen. Ihm sei die Verantwortung für das Leben der ihm anvertrauten Menschen und für ihren Schutz vor gewissenlosen und gnadenlosen Mördern zugefallen, so Berger. Schumann sei zudem für die Passagiere und für die Crew zur entscheidenden Leitperson geworden und habe den Menschen in Todesangst durch seine Haltung beigestanden. Bewusst habe er die Aggressionen der vier Terroristen auf sich gelenkt und nichts unterlassen, die ihm anvertrauten Passagiere zu schützen und ihre Lage zu erleichtern.

„Er ist ein Held unserer Zeit, ein Vorbild für uns alle“

Die CDU-Politikerin (sie verstarb ein Jahr später, am 26. September 1989, an den Folgen einer Hüftoperation) sagte an diesem Montag bei der Lufthansa in Bremen weiter: „Was Flugkapitän Jürgen Schumann in diesen Stunden und Tagen unter der schweren Bürde seiner Verantwortung an Selbstlosigkeit und eigener Opferbereitschaft für die Entführten abverlangt wurde, hat nur er selbst erfahren. Wer wie er sich dessen bewusst war und sich dennoch selbstlos der Verantwortung für sein Handeln in Haltung und Tun stellte, schließlich sein eigenes Leben einsetzte, der verdient es und dem sind wir es schuldig, dass sein Name und sein Opfer nicht der Vergessenheit anheimfallen.“

Die Staatssekretärin erinnerte daran, dass der Pilot „unter tödlicher Bedrohung“ seine Maschine in einem Flug von 10.000 Kilometer über drei Kontinente geführt sowie über Funk und auf andere Weise Informationen aus der „Landshut“ nach draußen gegeben. Schumann habe damit entscheidend dazu beigetragen, dass die Geiseln 18. Oktober 1977 nach mehr als 100 Stunden auf dem Flughafen im somalischen Mogadischu befreit werden konnten. „Unter tödlicher Bedrohung hat Jürgen Schumann Mut und Umsicht bewiesen. Er ist ein Held unserer Zeit, ein Vorbild für uns alle.“ Und: „In seinem Handeln wird das Leitmotiv unserer demokratischen, freiheitlichen und auf die Menschenrechte verpflichteten Ordnung erkennbar. Es gibt zu wenig Menschen bei uns und anderswo, die sich die Zeit nehmen, über Augenblicke nachzudenken, die über den Tag hinaus Botschaften vermitteln, die gültig bleiben: das Einstehen für den Mitmenschen, für den Nachbarn, für den Anderen und für den ihm Anvertrauten. Der Name Jürgen Schumann vermittelt diese Botschaft.“

Einer von wenigen Deutschen, der als „Gerechter unter den Völkern“ geehrt wird

Nach Informationen des RND ist „die Luftwaffe bestrebt, die Kaserne noch in der zweiten Jahreshälfte umzubenennen“. Geplant ist ein militärischer Appell, vorausgesetzt, die Corona-Situation lässt dies zu. Die Auswahl eines Traditionsnamens für Liegenschaften und Infrastrukturelemente obliegt den Angehörigen der betroffenen Dienststellen. Das Verteidigungsministerium unterbreitet Dienststellen, die eine Benennung beabsichtigen, auf Anfrage lediglich Vorschläge mit möglichen Namensgebern als Anregung.

Der frühere Namensgeber der Kaserne in Appen, Hans-Joachim Marseille, soll dem Tagesbefehl des Luftwaffeninspekteurs zufolge „weiterhin aktiv für eine differenzierte Auseinandersetzung im Rahmen der historisch-politischen Bildung unserer jungen Unteroffizieranwärter genutzt werden“.

Laut Tagesbefehl wurden im Bereich der Luftwaffe zudem weitere Namen vergeben, um etwa an Helden im Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu erinnern oder eigenen Soldaten nach Gründung der Bundeswehr im Jahr 1956 zu gedenken. So wird das zentrale Lehrsaalgebäude in Appen nach Karl Laabs neu benannt. Laabs rettete während des Zweiten Weltkriegs viele polnische Juden. In der internationale Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem in Israel wird der mutige Feldwebel als einer von wenigen Deutschen als „Gerechter unter den Völkern“ geehrt. Dazu mehr im zweiten Teil unseres Beitrages …


Randnotiz                                  

Am 13. Oktober 1977 entführte ein palästinensisches Terrorkommando die Lufthansa-Maschine „Landshut“ – der Irrflug ging über Rom, Larnaka, Dubai und Aden nach Mogadischu. Die Entführer forderten die Freilassung von elf in Deutschland inhaftierten RAF-Terroristen. In Aden erschossen sie am 16. Oktober 1977 Flugkapitän Jürgen Schumann. Einem Kommando der GSG 9 gelang am 18. Oktober 1977 die erfolgreiche Befreiung aller Geiseln. Der von der RAF parallel zur „Landshut“-Kaperung entführte Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer jedoch wurde ermordet.

Ein drei Minuten langes Video aus der ZDF-Reihe „Momente der Geschichte“ (Erstausstrahlung war am 6. Oktober 2011) erinnert an die Entführung der Boeing, die Ermordung Schumanns und die Geiselbefreiung in Mogadischu durch die deutschen Spezialkräfte. Das Video ist noch bis zum 19. September 2021 verfügbar unter:
https://www.zdf.de/dokumentation/momente-der-geschichte/die-entfuehrung-der-landshut-102.html
Alle Angaben ohne Gewähr.


Zu unserem Bildmaterial:
1. Haupteingang der Marseille-Kaserne in Appen, aufgenommen am 4. August 2012.
(Foto: Frank Schwichtenberg/Wikipedia/Wikimedia Commons/unter Lizenz CC BY 3.0 –
vollständiger Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/)

2. Jürgen Schumann während seiner Zeit als Offizier bei der Deutschen Luftwaffe, rechts ein Gedenkstein der Lufthansa mit folgender Inschrift: Flugkapitän Jürgen Schumann, 1940–1977, Bei der Ausübung seines Berufes in Verantwortung für Passagiere und Besatzung während der Entführung seiner Maschine an Bord der Landshut am 16. Oktober 1977 von Terroristen in Aden ermordet. Zum ehrenden Gedenken. Deutsche Lufthansa 16. Oktober 1978.
(Bilder: nr; Bildmontage mediakompakt)

Unser Großbild auf der START-Seite zeigt eine Szene aus dem Film „Mogadischu“, eines 2008 produzierten deutschen Fernsehthrillers, dessen Handlung die Entführung des Flugzeugs „Landshut“ im Oktober 1977 rekonstruiert. Zu sehen ist die nächtliche Annäherung des GSG 9-Kommandos an die Lufthansa-Maschine zur Befreiung der Geiseln. Die Erstausstrahlung fand am 30. November 2008 in Deutschland (Das Erste) und Österreich (ORF 2) statt.
(Bild: Das Erste)

Kleines Beitragsbild: Steinblock mit dem derzeitigen Namen der Luftwaffenkaserne in Appen.
(Foto: nr)


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