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Berlin. Und wieder ist ein außergewöhnlicher Kopf der sicherheitspolitischen Community von uns gegangen. In der Nacht vom 1. zum 2. Oktober starb in Berlin im Alter von 64 Jahren der Friedensforscher und Fachjournalist Otfried Nassauer. Nassauer war Mitgründer und Direktor des BITS, des Berliner Informationszentrums für Transatlantische Sicherheit. Er war der Friedensbewegung eng verbunden. Er war „ein wandelndes Lexikon für Militärtechnik, Streitkräfte und Rüstungsexporte“, wie Professor Dr. Michael Brzoska am heutigen Montag (5. Oktober) in einem Nachruf im Namen des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) schreibt. Und er war natürlich mit seinem unglaublichen Hintergrund- und Detailwissen auch Verfasser zahlreicher Studien und Gutachten – in der Vergangenheit immer häufiger zum Themenkomplex „Rüstungsexporte“ – sowie Autor vieler Gastbeiträge für Printmedien und den Hörfunk. Otfried Nassauer hat in den vergangenen Jahren auch Zeit für unsere Anliegen, für das bundeswehr-journal, gehabt. Ob fachliche Hilfestellung und Formulierungshilfe oder großzügige Nachdruckerlaubnis für einen seiner Texte – mehrfach waren wir dem Experten für seine kollegiale Unterstützung zu großem Dank verpflichtet.

Der 1956 in Siegen geborene Nassauer hat – so der IFSH-Nachruf von Sicherheits- und Konfliktforscher Brzoska – „über vier Jahrzehnte die Diskussionen über die aktuelle deutsche und internationale Militär- und Sicherheitspolitik geprägt“. Und: „Otfried Nassauer brannte für das, was er tat. Ihn interessierten Fragen rund um das Militär, um Krieg und Frieden. In der Zeit des Kalten Krieges setzte er sich vor allem mit Atomwaffen auseinander. Später kam ein breites Spektrum an Themen rund um die Bundeswehr hinzu. Zuletzt beschäftigen ihn vor allem die deutschen Rüstungsexporte mit all ihren Ungereimtheiten und Dunkelzonen.“

Anfangs deutete kaum etwas auf die spätere berufliche Passion des Westfalen hin, der nach dem Abitur zunächst in Hamburg Theologie studierte. Aber bereits in den 1980er-Jahren zeigte sich der weitere Werdegang überdeutlich: Nassauer engagierte sich als Parteiloser in der Fachgruppe „Frieden und Internationales“ der Grünen und beriet deren Bundestagsfraktion.

Nach dem Fall der Mauer organisierte er frühzeitig eine Begegnung zwischen NVA-Offizieren der Militärakademie in Dresden und der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg (diese Ursprünge einer „Armee der Einheit“ hat auch der Autor dieses Beitrags hautnah miterlebt, als er – zu jener Zeit Redakteur beim Deutschen Bundeswehr-Verband – gemeinsam mit dem damaligen Pressereferenten des Verbandes, Oberstleutnant Horst Rohde, wenige Tage nach Maueröffnung in Ostberlin NVA-Angehörigen traf).

Einer breiten deutschen Öffentlichkeit wenig bekannt

Vielleicht war es die ungeheure Zäsur jener Schicksalsjahre 1989/90/91 – das „SED-Versehen“ der Maueröffnung am 9. November 1989, die Herstellung der Einheit Deutschlands am 3. Oktober 1990, die Transformation der deutschen Streitkräfte im Zuge der Wiedervereinigung, die Auflösung des Warschauer Paktes zum 31. März 1991 sowie das Ende der alten Sowjetunion am 31. Dezember 1991 – , die Otfried Nassauer 1991 zur Gründung seines Berliner Informationszentrums für Transatlantische Sicherheit animierte. Welche Initialzündung es letztlich auch gewesen sein mag – es war eine gelungene Gründung.

Schon in der Anfangsphase erwarben sich Netzwerker Nassauer und sein Berliner Zentrum in der Szene den Ruf, bei noch so schwierigen Detailfragen oder komplexen Zusammenhängen aus der Welt des Militärs weiterhelfen zu können. Das BITS – so sprach es sich herum– wusste meist die Antwort auf noch so spezielle Fragen zur Militärpolitik, Rüstungskontrolle oder zu deutschen Waffenexporten. Spätestens Anfang der 2000er-Jahre war die private, unabhängige Einrichtung zur unschätzbar wertvollen Informationsquelle für Nichtregierungsorganisationen, kirchliche Stellen, Politiker aller Parteien sowie Medienvertreter geworden. Leider blieb das BITS der Öffentlichkeit zumeist verborgen.

Die Süddeutsche Zeitung weist in ihrem Nachruf am heutigen Montag auf dieses Manko hin und schreibt: „Einer breiten Öffentlichkeit wenig bekannt, war Nassauer ein unverzichtbarer Ratgeber und Experte für Fragen der Rüstungs- und Nuklearpolitik und der Bewaffnung der Bundeswehr. Mit seinem unbestechlichen Gedächtnis und einem überbordenden Archiv unterstützte er zahlreiche Medien bei der Recherche und in der Einordnung komplexer Zusammenhänge.“

Offizielle Darstellungen und Positionen kritisch hinterfragen

Was nun war Nassauers Antrieb, die immer komplexer werdende Materie „Militärwesen“ zu durchdringen und anderen transparent zu machen? Professor Michael Brzoska erhellt in seinem heutigen Nachruf die Hauptmotive: „Otfried Nassauer war ein wandelndes Lexikon für Militärtechnik, Streitkräfte und Rüstungsexporte. Seine Neugier trieb ihn an, stets hatte er neue Ideen für weitere Recherchen, entdeckte neue Dokumentenbestände und erweiterte seine Expertise. Dieses Wissen wurde ständig und gerne von vielen angezapft, aber er teilte es auch gerne – oft ohne dafür angemessen honoriert und bezahlt zu werden. Engagement für die Dinge, die ihm wichtig waren, ging Otfried Nassauer über persönliche Anerkennung und materielle Vergütung. Er war vor allem an Aufklärung interessiert, daran, andere in Nichtregierungsorganisationen, Wissenschaft und Politik zu befähigen, offizielle Darstellungen und Positionen ebenso kritisch zu hinterfragen, wie er es selber tat.“

Wie weit gezogen die Tätigkeitsfelder Nassauers beim BITS und wie tief angelegt seine Fachkenntnisse waren, lässt bereits eine Aufgabenübersicht des Zentrums erahnen. Demnach betreute der Leiter dort folgende Themenbereiche: Internationale sicherheitspolitische Organisationen/Militärstrategien und Doktrinen/Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik Deutschlands/Russland Beziehungen zur NATO und zur EU sowie die transatlantischen Beziehungen/Rüstungskontrolle und Abrüstungsprozesse/militärische Zukunftskonzepte und Technologien/Rüstungshandel und Waffensysteme, Massenvernichtungswaffen, Kleinwaffen, Landminen. Bereiche, in denen Nassauer überall „die technischen Details kannte und trotzdem in großen Bögen dachte“ (so die Kollegen des ARD-Politmagazins „MONITOR“ in ihrem Nachruf)

Mehr als 150 redaktionelle Beiträge für „Streitkräfte und Strategien“

Ulrike Winkelmann, Chefredakteurin der Tageszeitung (taz), würdigte den Verstorbenen am gestrigen Sonntag (4. Oktober) in ihrem Artikel „Beharrlich für den Frieden“: „Otfried Nassauer war ein Unikum, ein Einzelwesen. Einer der wenigen, die fanden, dass man sich mit dem Militär schon auch befassen muss, wenn man das Militär effektiv kritisieren will – so wie eben auch [Atomkraftgegner] viel über Atomkraft wissen sollten, wenn sie ernstgenommen werden wollen. Nur bei Krieg und Frieden meinen speziell die deutschen Linken und Linksliberalen ja seit jeher, es reiche für die politische Auseinandersetzung vollkommen, ,für den Frieden‘ zu sein, und dass man den Krieg womöglich dadurch aus der Welt bekomme, dass man sich mit seinen Mitteln am besten gar nicht beschäftige.“ So allerdings gehe es nicht, meint Winkelmann und verweist auf Nassauer: „Otfried kannte jede verdammte Schraube an den Kampfdrohnen, die die Bundeswehr beschaffen wollte, an den Ubooten, die nach Israel geliefert wurden, an den Leopard-Panzern, die Saudi-Arabien von Krauss-Maffei Wegmann kaufen wollte.“

Ähnlich beeindruckt zeigt sich auch Andreas Flocken, seit 2001 verantwortlicher Redakteur der NDR-Sendereihe „Streitkräfte und Strategien“ (siehe hier). Er beschreibt den BITS-Direktor in seinem heutigen Porträt so: „Wenn es um eine Einschätzung ging, was beispielsweise von der neuen US-Nuklearstrategie zu halten ist, dann war man bei Otfried Nassauer an der richtigen Adresse. Er hatte immer ein offenes Ohr für Anfragen, war bestens informiert und hatte die neusten Dokumente schon längst gelesen. Ihm sind Veränderungen und Neuerungen im sicherheitspolitischen Bereich sofort aufgefallen. Er wusste sofort, welche Auswirkungen die eine oder andere Formulierung in einem Dokument haben könnte.“

Nassauer habe mit seinen mehr als 150 Beiträgen für „Streitkräfte und Strategien“ die Sendung des Norddeutschen Rundfunks nachhaltig beeinflusst und geprägt, urteilt Flocken. „In seinen Manuskripten war jede Formulierung durchdacht und hatte ihren Sinn.“

Eine große Persönlichkeit hat unsere Community verlassen …


Unser Bild, entstanden am 7. Februar 2019, zeigt Otfried Nassauer als Gast der Sendung „QUADRIGA, der internationale Talk aus Berlin“ der Deutschen Welle. Das Thema der Diskussionsrunde mit Nassauer, Anna Rose (russischer Hörfunksender „Echo Moskaus“) und Michael Fischer (Deutsche Presse-Agentur) lautete damals vor dem Hintergrund des Ausstiegs Russlands und der USA aus dem INF-Vertrag: „Atomares Wettrüsten – Europa zwischen den Fronten?“ „QUADRIGA“ ist inzwischen von der Sendung „AUF DEN PUNKT“ abgelöst worden.
(Bild: Deutsche Welle; Bildgestaltung mediakompakt)


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