Berlin. Derzeit sind rund 2370 deutsche Soldatinnen und Soldaten in Auslandseinsätzen. So wenige, wie seit vielen Jahren nicht mehr. Und dennoch ist die Zahl der Rückkehrer mit Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) gestiegen. Für den Zeitraum 1. Januar bis 13. Oktober 2014 meldete die Bundeswehr insgesamt 1602 Behandlungsfälle von PTBS und psychisch Einsatzerkrankten, davon 284 Neuerkrankungen. Im gesamten Zeitraum des Vorjahres 2013 waren es 1423 sogenannte Behandlungskontakte, die der Sanitätsdienst der Streitkräfte verzeichnet hatte, davon 1274 Wiedervorstellungen und 149 Neuerkrankungen. Wie nun kommt es, dass trotz des Truppenabzuges aus Afghanistan die statistische Kurve der PTBS-Patienten nach oben zeigt?
Nach Angaben der Bundeswehr war die Zahl der einsatzbedingten PTBS-Neuerkrankungen im Jahr 2013 erstmals rückläufig gewesen. Gründe hierfür sind die veränderten Einsatzbedingungen und die reduzierte Zahl der Soldaten im Einsatz. Vor allem in Afghanistan war es in jenen Monaten im Einsatz zu weniger traumarelevanten Ereignissen, die als Auslöser für eine PTBS ursächlich sind, gekommen.
Die derzeit steigende Anzahl von Behandlungsfällen hat vor allem mit der Zahl der Wiedervorstellungen zu tun. Dazu erklärt der Sanitätsdienst der Bundeswehr: Die steigende Zahl „basiert auf komplexeren Behandlungsverläufen, einer lang andauernden Intervalltherapie, aber auch der zunehmenden Offenheit im Umgang mit dem Thema.“
Um die Betroffenen zu erreichen, hat die Bundeswehr in den vergangenen Jahren zahlreiche Brücken gebaut. So gibt es beispielsweise mittlerweile eine kostenlose 24-Stunden-Hotline, anonyme Kontaktangebote im Internet, den Aufklärungsfilm „Wenn die Seele schreit“ sowie unzählige Vorträge und Weiterbildungsveranstaltungen vor Ort durch die Fachärzte sowie den Sozialdienst.
Auch die Veröffentlichung der sogenannten „Dunkelzifferstudie 2013“ von Professor Dr. Hans-Ulrich Wittchen (Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Technischen Universität Dresden) könnte nach Ansicht der Fachleute zu einer vermehrten Inanspruchnahme der Bundeswehr-Behandlungsangebote geführt haben. „Dies wäre durchaus ein Zeichen für erfolgreiche Entstigmatisierungsbemühungen durch vermehrte Aufklärung und Prävention“, so der Sanitätsdienst. Nicht zuletzt hätten auch die unermüdliche Arbeit der vielen Selbsthilfeorganisationen sowie die öffentliche Diskussion zur Akzeptanz psychischer Erkrankungen in der Truppe dazu beigetragen, dass sich immer mehr psychisch Einsatzerkrankte und PTBS-Erkrankte behandeln ließen. Noch 2013 hatte die Wittchen-Studie davor gewarnt, dass „betroffene Soldaten offensichtlich massive Barrieren wahrnehmen, die sie davon abhalten, sich gegenüber den zuständigen Diensten mit ihrem Leiden zu offenbaren“.
In den vergangenen 13 Jahren waren rund 135.000 Bundeswehrsoldaten für vier bis sechs Monate im Afghanistaneinsatz gewesen, viele sogar mehrfach.
Besorgniserregend ist und bleibt die Zahl der Selbsttötungen im Zusammenhang mit Auslandseinsätzen. Dies ist ein Thema, das der Öffentlichkeit bislang eher verborgen geblieben ist. Ulrike Scheffer, die für die Berliner Abonnementzeitung Der Tagesspiegel im Hauptstadtbüro als außenpolitische Korrespondentin arbeitet, hat sich näher mit diesem Drama befasst.
In ihrem am 13. Dezember vergangenen Jahres erschienenen Tagesspiegel-Beitrag „Der Kampf nach dem Kampf“ schreibt sie: „Immer mehr deutsche Soldaten, die in Afghanistan im Einsatz waren, nehmen sich das Leben. Die Bundeswehr schweigt und erfasst längst nicht alle Fälle – das gefährdet auch die Familien der Rückkehrer.“ Die Bundeswehr führe zwar eine Liste, in der Suizide ihrer Soldaten erfasst seien. Sie dokumentiere jedoch nicht, ob traumatische Erlebnisse in einem Auslandseinsatz oder andere Gründe der Auslöser für die Selbsttötung waren. Die Politikredakteurin kritisiert weiter: „Die Statistik erfasst außerdem nur Selbstmorde aktiver Soldaten – etwa 20 sind es jedes Jahr – Zeitsoldaten, die die Bundeswehr bereits verlassen haben, tauchen darin nicht auf.“
Gemeinsam mit der Fotografin Sabine Würich ist Scheffer übrigens Herausgeberin eines knapp 200 Seiten starken Buches mit dem Titel „Operation Heimkehr – Bundeswehrsoldaten über ihr Leben nach dem Auslandseinsatz“. Die beiden Frauen zeigen in mehr als 70 Porträts die Menschen hinter den deutschen Militärmissionen und hörten den Rückkehrer zu, die von den Schwierigkeiten, im deutschen Alltag wieder Fuß zu fassen, berichteten.
Einer, der sich mit dem Thema „Einsatztrauma“ auskennt, ist Oberstarzt Dr. Peter Zimmermann, Leitender Arzt im Psychotraumazentrum der Bundeswehr in Berlin. Er schätzt die Dunkelziffer tatsächlich traumatisierter Soldaten hoch ein. „Etwa 5000 bis 10.000 erleiden einsatzbedingte psychische Erkrankungen – etwa 3000 bis 5000 davon PTBS.“ Und nicht nur die seelisch versehrten Soldaten leiden unter der Erkrankung, auch ihre Familien tun es, besonders die Kinder.
Zimmermann hat an einem Projekt mitgewirkt, das betroffenen Soldatenfamilien bildreich helfen will. Das Kinderbuch „Schattige Plätzchen – mein Papa hat PTBS!“ von Autorin Kathrin Schocke und Illustratorin Lilli L ’Arronge ist aus einer gemeinsamen Idee der Evangelischen Militärseelsorge und des Berliner Psychotraumazentrums heraus entstanden und erfüllte offensichtlich die Erwartungen der Leser. Die erste Auflage in Höhe von 1000 Exemplaren war innerhalb kürzester Zeit vergriffen. Jetzt sollen 3000 Exemplare nachgedruckt werden.
Zum Bildangebot:
1. Das Hintergrundfoto unserer Infografik zeigt einen Scharfschützen der Bundeswehr in Afghanistan. Die Aufnahme wurde am 25. September 2010 gemacht.
(Foto: Walter Wayman/Bundeswehr)
2. Ausschnitt der Titelseite des Kinderbuches „Schattige Plätzchen – mein Papa hat PTBS“ von Kathrin Schocke und Lilli L ’Arronge. Auch die Neuauflage soll wieder kostenlos über die Bundeswehrkrankenhäuser und die Militärpfarrämter abgegeben werden.
(Foto: Militärseelsorge)
Ein sehr interessanter Artikel, schade, dass man so etwas nicht im Intranet der Bw zu lesen bekommt. Ich habe eine weitere Hypothese zu den gestiegenen PTBS-Erkrankungen im Zusammenhang mit Afghanistan und vermute hier so etwas wie eine kognitive Dissonanz zwischen der erlebten Sinnhaftigkeit des Einsatzes und den eigenen Überzeugungen. Während anfangs noch Optimismus herrschte, dass die Bundeswehr dort etwas zum Guten bewegen kann und von der Bevölkerung größtenteils begrüßt wurde, hat sich diese Stimmung irgendwann geändert. Ich selbst war 2009 dort und schon damals habe ich auch an mir selbst bemerkt, dass die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit einen immer mehr dazu verleitet hat, sich in einen organisationalen Zynismus zu flüchten, um diesen Widerspruch emotional erträglicher zu gestalten. Nie vergessen werde ich die gespenstische Stimmung im Kontingent nach den Angriffen auf die Tanklaster bei Kunduz und der darauf folgenden Medienkampagne gegen Oberst Klein in der Heimat. Im Stich gelassen fühlen ist noch eine milde Umschreibung für die Gefühswelt vieler Kontingenangehörigen in diesen Tagen. Die jetzige Situation – einen Abzug mit verbleibender Ausbildungskomponente als Erfolg zu verkaufen – dürfte nicht minder unzufriedenstellend sein.