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Berlin/Brüssel. „Wer und was bedroht die Sicherheit der Europäer?“, fragte im November vergangenen Jahres die langjährige Handelsblatt-Redakteurin Donata Riedel. Die Meinungen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union darüber würden weit auseinandergehen, so die Journalistin. Sie erklärte: „Für die Osteuropäer ist es Russland, für Frankreich sind es islamistische Extremisten rund ums Mittelmeer, für die Skandinavier könnten Feinde über die Arktis kommen, und Deutschland fürchtet Migration, Cyberangriffe – und alle anderen genannten Bedrohungen ebenfalls.“ Seit dem 20. November 2020 gibt es in der EU endlich eine einheitliche Bedrohungsanalyse. An diesem Freitag berieten die Verteidigungsminister der Europäischen Union in einer Videokonferenz unter Vorsitz ihrer Kollegin Annegret Kramp-Karrenbauer über die Analyseinhalte. Mit der „Geheimdienstlichen EU-Bedrohungsanalyse“ befasst sich auch eine Antwort der Bundesregierung vom 15. April dieses Jahres auf eine Kleine Anfrage der Linken.

Ministerin Kramp-Karrenbauer bezeichnete die erste Bedrohungsanalyse der Europäer als „sehr großen Erfolg und wichtige Grundlage für die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union“. Die Bedrohungsanalyse wirft einen 360-Grad-Blick in die Welt und behandelt einen breiten Fächer an Bedrohungen und Herausforderungen für die EU in den kommenden fünf bis zehn Jahren. Auch hybride Bedrohungen, Künstliche Intelligenz und neue, disruptive Technologien sind Bestandteil der Analyse. Das Dokument ist „EU Secret“/„EU-Geheim“ eingestuft. Die Erstellung erfolgte in enger Zusammenarbeit der Nachrichtendienste der EU-Mitgliedsstaaten.

Der Abschluss der Bedrohungsanalyse markiert zugleich den Start zur Erstellung des zentralen Grundlagendokuments „Strategischer Kompass“.

Dazu das Bundesministerium der Verteidigung: „Auf Grundlage der Bedrohungsanalyse werden sich die EU-Mitgliedsstaaten intensiv darüber austauschen, wo sie Ziele und Prioritäten sehen und wie sie sich dafür am besten aufstellen sollten. Der ,Strategische Kompass‘ ist eine deutsche Initiative und ein Schlüsselprojekt der Trio-Ratspräsidentschaft zusammen mit Portugal und Slowenien. [Das Projekt] soll 2022 in der Ratspräsidentschaft Frankreichs finalisiert werden. Erstmals gibt der [,Strategische Kompass‘] der Europäischen Union bei Sicherheit und Verteidigung eine gemeinsame Richtung.“

Einflussnahme von außen mit dem Ziel der Destabilisierung

Die Bundesregierung sieht besondere neue Bedrohungen für die EU in gezielter Einflussnahme von außen mit dem Absicht einer Destabilisierung. „Insbesondere hybride Bedrohungen – auch durch Desinformation und Cyber-Angriffe – haben […] das Potenzial, den Zusammenhalt mitgliedstaatlicher Gesellschaften, demokratische Abläufe in der EU und ihren Mitgliedstaaten, wie auch die Einigkeit der Mitgliedstaaten bei der gemeinsamen Entscheidungsfindung nachhaltig zu gefährden“, heißt es in der Regierungsantwort vom 15. April 2021 auf die Kleine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Christine Buchholz, Sevim Dağdelen, Tobias Pflüger sowie der Fraktion Die Linke.

Aus Sicht der Bundesregierung besteht Handlungsbedarf seitens der EU und ihrer Mitgliedstaaten, „um ihre Resilienz gegen solche Einflussnahme weiter zu stärken und diesen neuen Bedrohungen künftig effizienter zu begegnen“.

Mit welchen Instrumenten, Fähigkeiten und Mitteln die Werte und Interessen der EU und ihrer Mitgliedstaaten am wirksamsten geschützt und durchgesetzt werden könnten, sei im Lichte der relevanten Sicherheitslage im Rahmen des integrierten Ansatzes des auswärtigen Handelns der EU in jedem Einzelfall zu entscheiden, so die Regierung weiter. Wörtlich heißt es: „Innerhalb der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) können die im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) bestehenden Handlungsmöglichkeiten des zivilen wie militärischen Krisenmanagements außerhalb des Hoheitsgebietes der EU ebenso in Betracht kommen wie der wechselseitige Beistand gemäß Art. 42 Abs. 7 des Vertrags über die Europäische Union (EUV). GSVP-Einsätze erfolgen auf Grundlage von Mandaten, die im Rat der EU von den Mitgliedstaaten einstimmig angenommen werden und unterschiedliche Aufträge und Aufgaben beinhalten.“

Dienste der Mitgliedstaaten trugen Informationen zum Gesamtbild bei

Bei der Bedrohungsanalyse der Europäischen Union handelt es sich um eine vom Europäischen Auswärtigen Dienst/European External Action Service (EAD/EEAS) in Brüssel federführend erarbeitete Zusammenstellung von nachrichtendienstlichen Zulieferungen mitgliedstaatlicher Dienste. Die Bundesregierung kann darüber nicht nach eigenem Ermessen verfügen.

Auf deutscher Seite haben die zuständigen nationalen Nachrichtendienste – Bundesnachrichtendienst und Bundesamt für Verfassungsschutz – sowie das Verteidigungsministerium (als Vertreter Deutschlands im EUMS INT/SIAC) in einem abgestimmten Beitrag dem an sie gerichteten Ersuchen seitens SIAC entsprochen.

(Anm.: Die EU unterhält mit dem „Intelligence Analysis Centre“ – kurz EU INTCEN – ein Lagezentrum, in dem sich neben einem festen Stab auch Vertreter nationaler Geheimdienste organisieren. Das militärische Pendant dieses Zentrums für Informationsgewinnung und -analyse ist das Intelligence Directorate des EU Military Staff, abgekürzt EUMS INT. Die militärische Geheimdienststruktur EUMS INT und das INTCEN-Zentrum sind Teil der Krisenmanagementstrukturen des EAD in Brüssel. EUMS INT und INTCEN sind dem Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik – seit 1. Dezember 2019 ist dies der Spanier Josep Borrell – unterstellt und bilden zusammen das „Einheitliche Analyseverfahren“/die „Single Intelligence Analysis Capacity“, kurz SIAC).

Der EAD hat die Bedrohungsanalyse in der Sitzung des Politischen und Sicherheitspolitischen Komitees (PSK) der EU am 16. November 2020 vorgestellt und erläutert.

Pilotprojekt „Kompetenzzentrum Krisenfrüherkennung“ in München

Wie wir in unserem Beitrag „Truppe setzt auf Zukunftstechnologie …“ vom 3. Januar 2021 berichteten, hat das Verteidigungsministerium gemeinsam mit der Universität der Bundeswehr München das Pilotprojekt „Kompetenzzentrum Krisenfrüherkennung“ gestartet.

Im Rahmen des Projekts, angelegt vorerst als Pilotphase bis Ende 2023, soll die IT-unterstützte Krisenfrüherkennung mit wissenschaftlichen Methoden weiterentwickelt werden. Hierzu wird Grundlagenforschung im Bereich der Krisenfrüherkennung betrieben, deren Erkenntnisse in moderner Informationstechnologie Anwendung finden. Aus der Analyse der Daten sollen KI- Modelle mögliche Krisen erkennen und sie graphisch darstellen. Dafür werden die maschinell analysierten Daten auch mit weiteren Informationen kombiniert – lernfähige Software kann Datenberge auswerten und in ihnen Tendenzen erkennen, die menschliche Analysten nicht sehen. Das Projekt soll dabei helfen, Krisen frühzeitig zu erkennen, um entsprechend präventiv darauf reagieren zu können.

Die Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage der Linken zum Komplex „EU-Bedrohungsanalyse und ,Strategischer Kompass‘“ befasst sich ebenfalls mit der Krisenfrüherkennung. So erfahren wir zunächst, dass weder die Bundeswehr-Universität München noch das „Kompetenzzentrum Krisenfrüherkennung“ an der Bedrohungsanalyse und der Dialogphase des „Strategischen Kompasses“ beteiligt waren oder sind.

Für das „Kompetenzzentrum Krisenfrüherkennung“ ist laut Bundesregierung bis zum Jahr 2023 ein Finanzbedarf in Höhe von rund 5,1 Millionen Euro eingeplant. Hiervon entfallen auf das Bundesministerium der Verteidigung rund 4,2 Millionen, auf das Auswärtige Amt rund 0,9 Millionen Euro. Das Zentrum soll als ein akademisches Forum fungieren, in dem wissenschaftliche Forschung im Bereich der quantitativen Krisen- und Konfliktforschung und diesbezüglicher Schlüsseltechnologien interdisziplinär und ressortübergreifend betrieben wird. Dabei sollen auch anwendungsorientierte Lösungsansätze für die beiden IT-basierten Assistenzsysteme „Preview“ (Auswärtiges Amt) und „IT-Unterstützung Krisenfrüherkennung“ (Verteidigungsministerium) untersucht werden.

Krisenhafte Entwicklungen weltweit frühzeitig ausmachen

Mit dem Datentool „Preview“ analysiert das Auswärtige Amt öffentlich verfügbare Daten – etwa zur politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lage sowie zu Konflikten und Gewalt – auf Anzeichen für krisenhafte Entwicklungen. Dafür nutzt „Preview“ verschiedene computergestützte Werkzeuge. Beispielsweise machen Visualisierungen wie Informationsgrafiken und Infomaps (mit zusätzlichen Daten angereicherte Landkarten) Konfliktlagen auf einen Blick sichtbar und verständlich. Trendanalysen zeigen den möglichen Verlauf politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen und Konflikte auf. Auch Methoden des maschinellen Lernens werden genutzt, um in großen Datenmengen Konflikt- und Krisenmuster zu erkennen. Ergebnisse dieser Verfahren können das Auswärtige Amt dabei unterstützen, Handlungsoptionen und Strategien für das deutsche Krisenmanagement zu entwickeln.

Mit dem softwarebasierten Vorhaben „IT-Unterstützung Krisenfrüherkennung“ (IT-U KFE) soll das Verteidigungsministerium ab 2021 befähigt werden, krisenhafte Entwicklungen weltweit in militärisch relevanten Zusammenhängen frühzeitig zu erkennen. Das soll den erforderlichen zeitlichen Vorlauf für die weitere Erarbeitung von Handlungsempfehlungen an die Entscheidungsträger schaffen. Die IT-U KFE soll dabei in Teilprozessen der Krisenfrüherkennung, insbesondere bei Datenauswertung und Prognose, entlasten und unterstützen, sodass mehr Arbeitszeit für die Analyse verbleibt. Mit einem Demonstrator wird bereits seit Dezember 2017 die IT-unterstützte KFE getestet. Das softwarebasierte Vorhaben gliedert sich in folgende Umsetzungsschritte:
Entwicklung eines Managements, um Informationen weitgehend automatisch zu sammeln, zu ordnen, zu speichern, darzustellen, zu klassifizieren und zu korrelieren unter Rückgriff auf unterschiedliche Quellen und Datenbanken.
Prädiktive Hinweise für definierte Krisenarten sechs bis 18 Monate im Voraus bis auf substaatliche Ebene auf Grundlage von wissenschaftlich fundierten Prognosemodellen.
Interoperabilität mit anderen vergleichbaren Systemen der Bundesregierung.

Die Bundesregierung weist in ihrer Antwort an die Linken auch darauf hin, dass das „Kompetenzzentrum Krisenfrüherkennung“ keine eigenen betriebsbereiten Instrumente beziehungsweise Assistenzsysteme entwickelt.

Das Zentrum, das grundsätzlich allen Regierungsressorts für eine Beteiligung offensteht, wird Synergie-Potenziale zwischen Verteidigungsministerium und Auswärtigem Amt und für die technologische Weiterentwicklung der Assistenzsysteme „Preview“ und „IT-Unterstützung KFE“ erschließen. Zwischenergebnisse liegen nach Auskunft der Regierung allerdings noch nicht vor.


Randnotiz                                  

Der Europäische Auswärtige Dienst (EAD)/European External Action Service (EEAS) wurde 2010 nach dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon geschaffen. Als eigenständige Einrichtung untersteht er dem Hohen Vertreter beziehungsweise der Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik und unterstützt die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Da er im Aufbau und in der Themenfülle seinen nationalstaatlichen Geschwistern ähnelt, wird der Dienst im Sprachgebrauch auch „Europäisches Außenministerium“ genannt.

Der EAD verfügt er über ein weltweites Netzwerk an Delegationen. Er ist darauf angewiesen, effizient mit den Mitgliedstaaten und der Europäischen Kommission zusammenzuarbeiten und eine gemeinsame Position zu entwickeln. Dies geschieht insbesondere durch die inhaltliche Vorbereitung der finanziellen Instrumente der Kommission und der außenpolitischen Arbeitsgruppen des Rates der EU sowie durch Koordination mit nationalen EU-Botschaften vor Ort.

Dem Ziel einer kohärenteren europäischen Außenpolitik stehen nach wie vor bürokratische Spannungen mit der Europäischen Kommission und abweichende nationale Positionen der Mitgliedstaaten im Wege.

(Anm.: Der Text ist dem Beitrag „Europäischer Auswärtiger Dienst“ von Niklas Helwig aus der Publikation „Europa von A bis Z – Taschenbuch der europäischen Integration“ entnommen, „Europa von A bis Z“ ist in 15. Auflage erschienen, Herausgeber Werner Weidenfeld zusammen mit Wolfgang Wessels und Funda Tekin, Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, März 2021.)


Zu unserem Bildmaterial:
1. Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer am 20. November 2020 bei der Videokonferenz der EU-Verteidigungsminister. Ein Schwerpunktthema: die Bedrohungsanalyse sowie das darauf folgende zentrale Grundsatzdokument „Strategischer Kompass“.
(Foto: Bundeswehr)

2. Der Sitz des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) in Brüssel.
(Foto: EEAS/unter Lizenz CC BY-NC-ND 2.0 –
vollständiger Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/)

Kleines Beitragsbild: Symbolfoto „EU-Kräfte im Auslandseinsatz“ – die Aufnahme, von der wir den Bildausschnitt mit dem EU-Armelaufnäher angefertigt haben, stammt vom 8. Februar. Sie wurde gemacht nach der Landung eines rund 70 Personen starken Kontingents für die europäische Mission EUTM Mali auf dem Flugplatz Bamako.
(Foto: Sébastien Rieussec/EEAS/EU/unter Lizenz CC BY-NC-ND 2.0 –
vollständiger Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/)


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