Kabul. Es ist zwar nur eine Karikatur, die das russische Nachrichtenportal Sputnik am 23. Dezember veröffentlichte. Aber sie hat die Faszination einer magischen Glaskugel, die den flüchtigen Blick auf nahendes Unheil erlaubt. Eine hochgerüstete, übermächtige Truppe. Ein scheinbar hoffnungslos unterlegener Gegner. Damals Mudschahidin, heute Taliban – und wieder ein Abgrund. Sputnik kennt natürlich auch die Geschichte der sowjetischen Invasion am Hindukusch, die am 15. Februar 1989 mit dem schmachvollen Truppenabzug aus Afghanistan endete. An jenem Mittwoch überschritt Oberbefehlshaber General Boris Wsjewolodowitsch Gromow als letzter Soldat der Interventionsarmee die Grenze zurück in die Sowjetunion und wurde von seinem jungen Sohn auf heimatlichem Boden mit einer Rose begrüßt. Wie wird einmal die NATO, wie der Westen dieses Afghanistan verlassen? Gedemütigt? Überstürzt? Karikaturist Vitaly Podvitski sieht in seiner Glaskugel erschreckende Parallelen. Was sehen andere?
Das Auswärtige Amt hat unterschiedliche Sichtweisen auf die aktuelle Sicherheitslage und die möglichen Entwicklungen in Afghanistan. So erklärte Maria Böhmer, Staatsministerin im Auswärtigen Amt, am 4. Dezember 2015 in einer Regierungsantwort nichtssagend: „Pauschale Aussagen über die Entwicklung der Lage sind […] nicht möglich. Es gibt Regionen mit aktiven Kampfhandlungen und Gebiete, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die Bundesregierung beobachtet und evaluiert die Sicherheits- und Bedrohungslage entsprechend unter Berücksichtigung regionaler Gegebenheiten.“
Michael Roth, Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt, lieferte dem Bundestag am 14. Dezember eine ähnlich banale Auskunft: „Eine pauschale Bewertung der Sicherheitslage der afghanischen Zivilbevölkerung ist nicht möglich. Die Sicherheitslage bleibt weiterhin landesweit regional unterschiedlich ausgeprägt. Es gibt Regionen mit aktiven Kampfhandlungen und Gebiete, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist und die wirtschaftlich moderat prosperieren.“ Dann zitiert der SPD-Politiker wenigstens noch den afghanischen Flüchtlingsminister Sayed Hussain Alemi Balkhi. Dieser habe „öffentlich“ drei Provinzen namentlich als sicher bezeichnet: Kabul, Bamyan und Panjshayr. Drei Provinzen von insgesamt 34 …
Wesentlich konkreter wird es da schon auf der Arbeitsebene des Auswärtigen Amtes. Wer nach Afghanistan reisen will, sollte sich aufmerksam die derzeit gültigen Sicherheitswarnungen im Onlineportal des Ministeriums ansehen. Dort redet man Tacheles und warnt „dringend“ vor Reisen in dieses Land. Wer dennoch reise, so das Auswärtige Amt, müsse sich „der Gefährdung durch terroristisch oder kriminell motivierte Gewaltakte“ bewusst sein.
Die folgende Lagedarstellung klingt äußerst beunruhigend: „In ganz Afghanistan besteht ein hohes Risiko, Opfer einer Entführung oder eines Gewaltverbrechens zu werden. Auch in der Hauptstadt Kabul können Attentate, Überfälle, Entführungen und andere Gewaltverbrechen nicht ausgeschlossen werden. […] Im übrigen Land bestehen teilweise noch deutlich höhere Sicherheitsrisiken. Die afghanischen Sicherheitskräfte haben inzwischen nahezu landesweit die Sicherheitsverantwortung übernommen, haben die Lage jedoch bisher nicht überall unter Kontrolle bringen können. Zuletzt kam es am 28. September 2015 zur vorübergehenden Einnahme der Stadt Kunduz durch die Taliban. Die in der Stadt befindlichen Ausländer befanden sich dadurch, bis zu ihrem Verlassen der Stadt, in unmittelbarer, erheblicher Gefahr.“
Allen Deutschen vor Ort rät das Auswärtige Amt zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu größtmöglicher Vorsicht. Dies gelte besonders für Überlandfahrten. Sie sollten „auch in vergleichsweise ruhigeren Landesteilen nur im Konvoi, nach Möglichkeit bewacht und mit professioneller Begleitung“ durchgeführt werden. Die dringende Empfehlung endet: „Die Sicherheitslage auf der Strecke muss zeitnah zur Fahrt sorgfältig abgeklärt werden. Es wird davor gewarnt, an ungesicherten Orten zu übernachten.“
Ein profunder Kenner der Sicherheitslage am Hindukusch ist auch Deutschlands derzeit ranghöchster Soldat bei der NATO, General Hans-Lothar Domröse. Der Heeresoffizier, seit dem 14. Dezember 2012 Befehlshaber des Allied Joint Force Command (JFC) im niederländischen Brunssum, war vor Kurzem erst wieder auf Dienstreise am Hindukusch. Sein JFC war und ist unter anderem für multinationale Operationen auf NATO-Ebene wie den früheren ISAF-Einsatz und die Folgemission „Resolut Support“ verantwortlich.
Domröse besuchte im Zeitraum 7. bis 9. Januar nicht nur das Hauptquartier der „Resolute Support Mission“ (RSM) der NATO in der Hauptstadt Kabul. Er verschaffte sich auch persönliche Eindrücke in verschiedenen RSM-Kommandos im Norden und im Süden des Landes und einen Überblick über den Ausbildungsstand der afghanischen Sicherheitskräfte. Dabei wurde er begleitet von Brigadegeneral Hartmut Renk, seit dem 19. Dezember als Nachfolger von Brigadegeneral Andreas Hannemann Kommandeur des „Train, Advise and Assist Command North“ (TAAC North) und Kontingentführer der aktuell rund 800 deutschen Soldaten in Afghanistan.
Domröse äußere sich zum Schluss der dreitägigen Visite vor Pressevertretern über seine Erkenntnisse und Bewertungen. Zwei Bereiche standen dabei im Mittelpunkt seiner Ausführungen: das momentane Leistungsvermögen der Afghan National Security and Defence Forces (ANSDF) sowie Entwicklungen im Lager des Gegners, der Taliban.
Der Vier-Sterne-General, der in den Provinzen Kabul, Balkh, Helmand und Kandahar Truppenteile der afghanischen Sicherheitskräfte besucht hatte, zog folgende Bilanz: „Schon der Aufbau der ANSDF bedeutete für uns eine gewaltige Herausforderung. Das inzwischen erreichte Ausbildungs- und Leistungsniveau dieser Kräfte zu halten, ist noch ein ganzes Stück anspruchsvoller und wird die Bereitschaft der Internationalen Gemeinschaft und deren Ressourcen noch für die nächsten Jahre binden.“
Alles in allem gab sich Domröse im Hinblick auf die Fähigkeiten des afghanischen Militärs optimistisch. Im Laufe der Zeit würden die Truppen Kabuls immer stärker, erklärte er und fügte hinzu: „Ich war und bin schon einigermaßen erstaunt, wie gut sich die Sicherheitskräfte Afghanistans insgesamt trotz der instabilen Sicherheitslage in dem vom Krieg gezeichneten Land entwickelt haben.“
Den zweiten Schwerpunkt seiner Dienstreisebilanz legte General Domröse auf die Bewertung aktueller Entwicklungen innerhalb der Islamistenbewegung. Dazu eine notwendige Rückblende.
Ende Juli 2015 meldeten pakistanische und afghanische Stellen den Tod des legendären Talibanführers Mullah Omar, der einst Osama Bin Laden und seiner Terrorbewegung al-Qaida am Hindukusch Unterschlupf gewährt und dadurch die Afghanistan-Invasion durch die USA und deren Verbündete heraufbeschworen hatte. Der Ende der 1990er-Jahre zum „Herrscher der Gläubigen“ Berufene hatte seine Taliban in den Krieg gegen den Westen geführt und war dann 2001 von der weltpolitischen Bühne verschwunden. Die Vereinigten Staaten hatten auf Mullah Omar ein Kopfgeld von zehn Millionen US-Dollar ausgesetzt. Wie die pakistanischen und afghanischen Regierungsquellen weiter mitteilten, soll der Chef der islamistischen Miliz bereits im Juli 2013 gestorben sein.
Nach Mullah Omars Ableben 2013 war dessen Stellvertreter Mullah Akhtar Mohammad Mansour offiziell zu seinem Nachfolger ernannt worden. Dies hatten die afghanischen Taliban am 31. Juli 2015 auf ihrer Website bekannt gegeben und zugleich den Tod Omars bestätigt. Das Führungsgremium der Taliban und islamische Gelehrte hätten sich für Omars Vertrauten Mullah Mansour entschieden, so die offizielle Bekanntgabe der Nachfolgeschaft. Am 13. August 2015 schwor al-Qaida-Führer Aiman al-Sawahiri über den Kanal „As-Saḥāb Media“ dem neuen Talibanführer die Treue (Titel der Videobotschaft: “Pledging Bay’ah To Mullā Akhtar Muḥmmad Manṣūr”).
Nach seiner „einstimmigen“ Wahl sah sich der neue Führer Mansour mit einer starken Gegnerschaft in den eigenen Reihen konfrontiert. Bedeutende Teile der Taliban erkannten den Wechsel an der Spitze nicht an. Bei den blutigen Machtkämpfen sollen Pressemeldungen zufolge allein in den vergangenen Wochen „mehr als hundert Kämpfer“ getötet worden sein. Schon im November hatte eine Taliban-Splittergruppe Mullah Mohammad Rasul zu ihrem Anführer ernannt. Die Gräben zwischen den rivalisierenden Fraktionen innerhalb der Bewegung – Befürworter einer Einigung mit der afghanischen Regierung, Unterstützer pakistanischer Interessen um Einfluss in Kabul und fanatische Gegner der gegenwärtigen Regierung Ghani – sind tief.
Am 3. Dezember meldete die Deutsche Presse-Agentur, dass Mansour bei einer Schießerei im pakistanischen Quetta verletzt worden sei. Noch am selben Tag twitterte Sultan Faizy, Pressesprecher des derzeitigen afghanischen Vizepräsidenten Abdul Rashid Dostum, dass der Talibanführer seinen Verletzungen erlegen sei.
Das Dementi der Taliban folgte unmittelbar darauf. Sprecher Sabihullah Mudschahid erklärte über den Kurznachrichtendienst Twitter, die Mitteilung über Mansours Tod sei „gegenstandslos“, er lebe und sei wohlauf. Kurz darauf verbreiteten die Taliban auch eine Audiobotschaft, auf der angeblich Anführer Mansour zu hören sein soll. „Ich habe diese Botschaft aufgenommen, um alle wissen zu lassen, dass ich lebe“, so die Stimme auf der Aufnahme. Die Berichte über das Treffen rivalisierender Taliban in Pakistan, bei der es zu einer Schießerei und schließlich zum Tod von Mansour gekommen sein sollte, bezeichnete die Stimme als „Propaganda des Feindes“.
Die offenkundig nachhaltigen Zerwürfnisse zwischen den unterschiedlichen Taliban-Fraktionen und die ungeklärten Fragen um Talibanführer Mullah Mansour hat wohl auch General Hans-Lothar Domröse vor Augen, wenn er über die Sicherheitslage in Afghanistan berichtet. In seinem Gespräch mit den Medien am Ende seines Truppenbesuches sagte er: „Ich hoffe sehr, dass sich die Lage in Afghanistan in den kommenden Monaten zusehends verbessern wird – vor allem wegen der Spaltungen innerhalb der Taliban.“
Er sei „vorsichtig optimistisch“, meinte Domröse. Insbesondere weil die Taliban intern alles andere als geschlossen und einig seien. Abschließend erklärte er: „Es macht uns das Leben in Afghanistan leichter, wenn sich die Taliban weiterhin in der Frage der Führerschaft – sei es Mansour oder ein anderer Kandidat – bekämpfen.“
Die Journalistin Waslat Hasrat-Nazimi, die seit 2010 in Bonn für die Deutsche Welle arbeitet, warnte unlängst in ihrem Beitrag „Rückzug vom Rückzug“ (über den NATO-Einsatz in Afghanistan im Jahr 2015) vor falschen Hoffnungen. „Trotz immer wieder aufkommender Gerüchte über eine interne Spaltung […] bewiesen die Taliban ihre Schlagkraft. Das bestätigt nicht nur die diesjährige Frühjahrsoffensive. Auch die Zahl der Anschläge nimmt weiter zu. Laut dem Halbjahresbericht der Vereinten Nationen erreichte die Opferzahl 2015 einen neuen Höhepunkt. Fast 5000 Zivilisten kamen allein in der ersten Hälfte des Jahres bei Gefechten oder Anschlägen ums Leben.“
Der Jahresbericht 2015 wird voraussichtlich im Februar erscheinen. Sehen wir uns dann – vor dem Hintergrund der kompletten Statistiken für das vergangene Jahr – die Sputnik-Karikatur von Vitaly Podvitski noch einmal an …
Zu unserem Bildangebot:
1. Karikatur von Vitaly Podvitski, erschienen am 23. Dezember 2015 im Nachrichtenportal Sputnik. Das Portal wurde 2014 vom staatlichen russischen Medienunternehmen Rossija Sewodnja gegründet. Der Name des Unternehmens ist der russisch-internationalen Zeitschrift „Sputnik“ entlehnt, die sich als publizistisches Sprachrohr der ehemaligen Sowjetunion verstand. Nach eigenen Angaben verfügt Sputnik über Redaktionen an 130 Standorten in 34 Ländern und sendet in 30 Sprachen.
(Karikatur: Vitaly Podvitski/Sputnik)
2. General Hans-Lothar Domröse, Befehlshaber des Allied Joint Force Command in Brunssum, Niederlande. Die Aufnahme zeigt den deutschen Heeresoffizier am 23. Oktober 2015 anlässlich seines Besuches bei der NATO-Großübung „Trident Juncture 15“ in Spanien.
(Foto: Emily Langer/NATO)