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New York/Kabul. Afghanische Sicherheitskräfte nutzen bei Militäroperationen gegen die Aufständischen zunehmend Schulen als Stützpunkte. Diese fatale Entwicklung dokumentiert Human Rights Watch in einem jetzt veröffentlichten Bericht. Damit würden Kinder unmittelbar gefährdet und indirekt Tausenden eine Bildungsmöglichkeit genommen, warnt die Menschenrechtsorganisation. Die afghanische Regierung müsse dringend Maßnahmen ergreifen, um die militärische Nutzung von Schulen zu stoppen.

Der 60 Seiten starke Bericht „Education on the Front Lines: Military Use of Schools in Afghanistan’s Baghlan Province“ weist nach, dass staatliche Sicherheitskräfte und die Taliban in der nordöstlichen Provinz Baghlan Schulen besetzen und anderweitig militärisch nutzen. Die Arbeit basiert auf Interviews mit mehr als 200 Schuldirektoren, Lehrern und Verwaltungsangestellten sowie mit Familien aus der Provinz, die vom Konflikt betroffen sind.

Laut Human Rights Watch geraten überall in Afghanistan immer mehr Schulbezirke ins Kreuzfeuer des bewaffneten Konflikts. Viele Schüler riskieren ihr Leben, wenn sie Schulen besuchen, die von Soldaten genutzt werden und daher als militärische Ziele klassifiziert werden können. Andere können ihre Schulbildung nicht fortsetzen, bis sie eine alternative Einrichtung gefunden haben.

Afghanisches Schulwesen durch jahrzehntelangen Konflikt massiv beschädigt

„Nicht nur die Taliban gefährden die Bildungsmöglichkeiten afghanischer Kinder, sondern auch Regierungskräfte, die Schulen besetzen“, klagt Patricia Gossman, Afghanistan-Expertin der Organisation. „Die Kinder werden ausgerechnet von den Kräften in Gefahr gebracht, die sie schützen sollen.“

Jahrzehntelange Kämpfe haben das afghanische Schulwesen massiv beschädigt. Ganze Generationen hatten bereits keine Bildungschancen. Seit Ende 2001 konzentrieren sich viele Geberländer darauf, die zerstörte Schulinfrastruktur wieder aufzubauen.

Ausländische Geldgeber haben bislang enorm in Bildung investiert. Sie haben Schulen aufgebaut, die Ausbildung von Lehrern gefördert sowie Schulbücher und andere Materialien an Schulen überall im Land verteilt. Im Zuge der sich verschlechternden Sicherheitslage geraten Schulen jedoch seit ein paar Jahren zunehmend ins Visier von Rebellengruppen und staatlichen Sicherheitskräften, die sie für militärische Zwecke missbrauchen.

Erschüttende Beispiele aus der Provinz Baghlan

Human Rights Watch schildert in dem Report unter anderem, was 2010 im Dorf Postak Bazaar in der Provinz Baghlan geschah. Hier griffen die Taliban die Mittelschule, die afghanische Sicherheitskräfte besetzt hatten, an. Sie erschossen sieben Polizisten in einem Klassenzimmer. „Wir konnten das Blut nicht mit Wasser entfernen“, berichtete später ein Schulmitarbeiter. „Wir mussten es mit einer Axt von der Wand abkratzen.“

Im Jahr 2015 besetzten Regierungskräfte die Schule erneut. Sie lagerten Sandsäcke in der zweiten Etage, während die Schüler in den unteren Etagen unterrichtet wurden. Besorgte Mitarbeiter der Schule erreichten, dass Entscheidungsträger in Kabul einen Brief an die Streitkräfte schriebe. Darin forderten sie das Militär auf, das Gebäude umgehend zu verlassen. Der Kommandant ignorierte jedoch den Befehl aus der Hauptstadt. Als Schulmitarbeiter ihm während der Prüfungszeit erneut den Brief vorlegten, gaben Offiziere Schüsse in Richtung der versammelten Lehrer und Schüler ab.

Auch die Taliban nutzen Schulen in Baghlan als Stützpunkte. So besetzten ihre Kämpfer eine von der schwedischen Regierung finanzierte Schule im Dorf Omar Khail kurz nach der Eröffnung im Jahr 2015. 350 Jungen und Mädchen hätten dort unterrichtet werden können. Die Dorfältesten appellierten erfolglos an die Taliban, die Schule zu verlassen. Anfang 2016 griffen Regierungskräfte die Taliban in der Schule mit Schusswaffen und Mörsergranaten an. Die Aufständischen konnten fliehen, das Schulgebäude wurde vollständig zerstört.

Wiederaufbau des afghanischen Bildungssystems ist in Gefahr

Seit Ende der Taliban-Herrschaft können in Afghanistan auch wieder mehr Mädchen zur Schule gehen. Allerdings schrecken viele Eltern davor zurück, ihre Töchter zum Unterricht zu schicken, wenn sich Soldaten auf dem Schulgelände aufhalten oder die Gefahr besteht, dass die Schule angegriffen werden könnte. All das nimmt Mädchen eine Bildungschance.

„Ein Jahrzehnt des erfolgreichen Wiederaufbaus des afghanischen Bildungssystems und der zunehmenden Schulbildung von Mädchen ist gefährdet, solange das Militär Schulen zweckentfremdet“, warnt Patricia Gossman. „Die afghanische Regierung muss ihre Sicherheitskräfte unbedingt aus den Schulen entfernen.“


Zu unserem Bildmaterial:
1. und 2. Aufnahmen vom 20. Oktober 2010 aus der Hauptschule in Nad e Ali, Helmand-Provinz.
(Fotos: Neil Chapman/Royal Air Force/MoD)


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