menu +

Nachrichten



Kunduz (Afghanistan)/Berlin. Nun ist eingetreten, was viele Kritiker des Afghanistaneinsatzes prophezeit haben. Die Aufständischen sind am Hindukusch entschlossen in das Vakuum hineingestoßen, das die USA und die NATO-geführten Truppen mit Ende ihrer ISAF-Mission hinterlassen haben. Zwei Jahre nach Abzug der Bundeswehr ist jetzt die nordafghanische Provinzhauptstadt Kunduz in die Hände der Taliban gefallen. Dies meldeten am gestrigen Montag (28. September) afghanische Medien und internationale Nachrichtenagenturen. Sediq Seddiqi, Sprecher des afghanischen Innenministeriums, bestätigte am Montagabend in der Hauptstadt Kabul den Verlust von Kunduz. „Die Stadt ist unglücklicherweise an die Taliban gefallen“, gestand er gegenüber der Nachrichtenagentur Associated Press ein.

Nach Berichten des afghanischen Nachrichtensenders TOLOnews begann der Angriff der radikal-islamischen Taliban auf Kunduz-Stadt in den frühen Morgenstunden des Montags, etwa gegen drei Uhr (Ortszeit). Dabei rückten mehrere Hundert Gotteskrieger aus verschiedenen Richtungen auf das Stadtzentrum vor und besetzten strategisch wichtige Regierungsgebäude und öffentliche Einrichtungen. Die Deutsche Presse-Agentur zitierte einen Talibankommandeur, der angab, „mehr als 1000 Kämpfer“ hätten an der Offensive teilgenommen.

Kunduz ist die erste Provinzhauptstadt, die seit der gewaltsamen Beendigung des Talibanregimes Ende 2001 durch die US-Truppen und ihre damaligen Verbündeten, die Nordallianz, wieder von Aufständischen komplett erobert werden konnte. Die Offensive erfolgte am Vorabend des einjährigen Amtsjubiläums von Staatspräsident Mohammad Ashraf Ghani. In mehreren Stadtteilen von Kunduz haben die Angreifer ihre weiße Talibanflagge gehisst.

„Hier wurde aufgebaut und gekämpft, geweint und getröstet, getötet und gefallen“

Der Standort Kunduz war für die Bundeswehr mehr als nur ein Feldlager im Norden Afghanistan. Als am 6. Oktober 2013 das Militärareal feierlich an die afghanischen Sicherheitskräfte übergeben wurde, schrieb Robert Lehmann in seinem Pressebeitrag für das Onlineportal des BMVg: „Am 24. Oktober 2003 hatte die Bundeswehr das von den Vereinigten Staaten ins Leben gerufene Provincial Reconstruction Team (PRT) in der Provinzhauptstadt übernommen. Der Wiederaufbau, der eine Kernaufgabe des PRTs darstellte, wurde durch anhaltende Gefechte mit den Aufständischen insbesondere in den Jahren 2009 und 2010 erschwert. Insgesamt sind im Raum Kunduz 25 deutsche Soldaten bei dem Versuch, sich für eine friedliche Entwicklung Afghanistans einzusetzen, gefallen.“

An der Schlüsselübergabe an diesem Sonntag vor fast genau zwei Jahren nahmen auch der damalige Verteidigungsminister Thomas de Maizière und der damalige Außenminister Guido Westerwelle teil. De Maizière sagte am 6. Oktober 2013: „Vergessen werden wir diesen Ort niemals. Kunduz hat die Bundeswehr geprägt wie kaum ein anderer Ort. Hier wurde aufgebaut und gekämpft, geweint und getröstet, getötet und gefallen.“

Am 19. Oktober 2013 endete mit der Verlegung der letzten deutschen Soldaten von Kunduz nach Mazar-e Sharif ein zentrales Kapitel des deutschen Engagements in und für Afghanistan.

Vizegouverneur warnte bereits im April vor Großoffensive der Aufständischen

Der Kampf der afghanischen Sicherheitskräfte mit den in das Zentrum von Kunduz-Stadt vorgedrungenen Talibaneinheiten dauerte Agenturberichten zufolge den ganzen Montag. Die Regierung in Kabul hat mittlerweile eine Gegenoffensive angekündigt, erste Truppenteile wurden inzwischen aus anderen afghanischen Provinzen nach Kunduz in Bewegung gesetzt.

Lokale Medien berichteten, die Vereinten Nationen hätten ihr Personal im Laufe des gestrigen Tages aus der Provinzhauptstadt abgezogen. Das VN-Gebäude sei danach von den Taliban geplündert worden. Gestürmt worden sei unter anderem auch das Provinzkrankenhaus mit rund 200 Betten, das mit deutscher Hilfe saniert worden war. Hunderte zum Teil militanter Gefängnisinsassen sind von den Aufständischen angeblich befreit worden.

Bereits im April hatte der Vizegouverneur der Provinz, Hamdullah Daneschi, laut vor dem Vorrücken der Taliban gewarnt. Auch etliche deutsche Medien hatten seinen Hilferuf aufgenommen. Daneschi vor knapp einem halben Jahr: „Die Taliban sind stärker geworden, und sie werden die gesamte Provinz erobern, wenn unsere Sicherheitskräfte nicht Unterstützung aus der Hauptstadt erhalten.“ Seit dem Abzug der Bundeswehr im Oktober 2013 habe sich die Lage kontinuierlich verschlechtert. Zahlreiche „ausländische Extremisten“, die finanziell gut ausgestattet seien, seien in Kunduz eingesickert. Inzwischen seien die ausländischen Kämpfer und die lokalen Taliban „mit besseren Waffen ausgerüstet als die Sicherheitskräfte“, so der Stellvertreter von Gouverneur Mohammad Omar Safi.

Safi selber soll sich übrigens während der Talibanoffensive am gestrigen Montag nach Angaben von TOLOnews im benachbarten Tadschikistan aufgehalten haben. Ein anderer hochrangiger Funktionär, der Sicherheitschef der Provinz Kunduz, sei zum Zeitpunkt des Angriffs in Kabul gewesen, hieß es.

Kunduz – ein Sinnbild für das Scheitern des Afghanistaneinsatzes

In den Onlinebereichen der deutschen Tagespresse konnte man am späten Montagnachmittag bereits erste Kommentare zu der Einnahme von Kunduz-Stadt durch die Taliban lesen.

So schreibt die Lausitzer Rundschau: [Mehr als] „zwanzig Bundeswehrsoldaten sind in den vergangenen Jahren rund um Kunduz gestorben, und spätestens seit gestern fragt man sich, wofür. […] Selbst wenn die Taliban wieder vertrieben werden sollten, ist Kunduz schon jetzt zum Sinnbild für das Scheitern des Afghanistaneinsatzes geworden.“

Die Schwäbische Zeitung gibt zu bedenken: „Die Bundeswehr ist in Afghanistan jahrelang eingesetzt worden, um Krieg zu führen. Der Fall von Kunduz an die radikal-islamischen Taliban ist deshalb eine schwere Niederlage für die deutsche Außenpolitik, gleich unter welcher Regierung sie formuliert worden ist – und auch, falls die Regierung die Stadt wieder zurückerobern sollte. […] Der Westen ist am Hindukusch gescheitert. Und über den Sinn und Zweck des Bundeswehreinsatzes muss diskutiert werden. Die ,großen zivilisatorischen Erfolge‘, deren sich viele Vertreter des westlichen Bündnisses rühmten, werden nun zusammengeschossen. Zehn Jahre war die Bundeswehr vor Ort. An der Einsatzstrategie hat es häufig Kritik gegeben. An der grassierenden Korruption hat sich nie wirklich etwas geändert. Warlords konnten immer ihre Geschäfte machen. Wahrscheinlich werden sie sich irgendwie mit den Taliban arrangieren. Für die jedoch, die auf Deutschland und andere Verbündete gesetzt haben, gilt das nicht. Sie werden versuchen, aus Afghanistan zu flüchten, um ihr nacktes Leben zu retten. Die Hoffnungen auf ein halbwegs geordnetes Leben gibt es für sie nicht mehr.“

Rückkehr des Steinzeit-Islam und Angst vor der Rache der Taliban

Die Rheinische Post erinnert an den damaligen Bundesaußenminister Guido Westerwelle und an sein Versprechen bei der Schlüsselübergabe im Feldlager Kunduz 2013, man werde den Menschen in Afghanistan nicht den Rücken kehren. In dem Kommentar heißt es dazu: „Angesichts der aktuellen Lage sollte man Westerwelle fragen, wie er das denn gemeint hat. Inzwischen haben die Taliban Kunduz offenbar erobert, und ob es den Regierungstruppen gelingt, die Extremisten wieder zu vertreiben, scheint höchst ungewiss. Nichts sei gut in Afghanistan, hatte einst Margot Käßmann behauptet. Damit lag sie falsch. Es hat in einigen Bereichen erhebliche Verbesserungen gegeben, etwa im Bildungs- und Gesundheitswesen. Aber nun stehen diese Erfolge des opferreichen internationalen Einsatzes – militärisch wie zivil – auf der Kippe. Das Land droht zurückzufallen an die Drogenbarone und die Taliban. Oder schlimmer noch: an den ,Islamischen Staat‘, der längst Fuß gefasst hat am Hindukusch. Kriegsmüde Amerikaner und Europäer werden sich nur schwerlich aufraffen, dies zu verhindern. Versprechen hin oder her.“

Die Neue Westfälische befasst sich ebenfalls mit dem Fall von Kunduz und blickt zunächst zurück: „Sicherheitsexperten hatten bereits im Vorfeld gewarnt: Wenn sich die Bundeswehr aus Kunduz zurückzieht, wird es nicht allzu lange dauern, und die Stadt wird wieder von den Taliban beherrscht. Und genauso ist es nun geschehen. Die Provinzregierung musste machtlos zusehen, wie die 300.000-Einwohner-Stadt in die Hände der Aufständischen gefallen ist.“ Dann warnt die Zeitung: „Um ihr Leben fürchten nun alle diejenigen, die die Bundeswehr seinerzeit als lokale Hilfskräfte unterstützt haben, sei es als Übersetzer oder als Arbeiter im Feldlager. Und die Taliban gehen rigoros gegen die vermeintlichen Verräter vor. […] Jetzt ist die Bundesregierung in der Pflicht, den Afghanen, die seinerzeit die Bundeswehr unterstützt haben, nun auch zu helfen.“

Scharf rügt der Kommentator der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die politisch Verantwortlichen in Berlin: „Die Taliban erobern Afghanistan zurück, und wieder werden Menschen vor ihrem Steinzeit-Islam fliehen. Wer die Lage in den Herkunftsländern der Flüchtlinge verbessern will, hätte die Bundeswehrsoldaten nicht aus Kunduz abziehen dürfen.“

„Und am Ende, da fällt alles in sich zusammen“

Zum Schluss noch ein kurzer Hinweis auf einen Beitrag von Hannes Stein im Deutschlandfunk-Onlineportal vom vergangenen Sonntag (27. September). Der deutsch-amerikanische Journalist und Buchautor befasst sich dort in einem historischen Streifzug mit der Fragestellung „Warum Amerikas Kriege so häufig schiefgehen“ und erkennt ein eigenartiges Muster.

Stein erklärt uns: „Dieses Muster sieht so aus. Die Amerikaner ziehen aus ganz realpolitischen Gründen in einen Krieg. Während sie im Krieg stehen, radikalisieren sich wie von selbst dessen Ziele. Sie werden idealistisch. Im Irakkrieg beispielsweise ging es anfangs um Massenvernichtungswaffen. Als diese Waffen nicht gefunden wurden, verwandelte der Irakkrieg sich in einen Kampf um die Demokratie. Das Ziel war nun also, ein demokratisches Musterland mitten in der arabischen Welt zu etablieren. Anschließend werden die Amerikaner in einen hässlichen Guerillakrieg hineingezogen. Sie brauchen eine Weile, ehe sie das verstehen. Dann stellen sie sich auf die neue Realität ein und erkämpfen sogar einen Sieg. Aber mittlerweile haben sie die Nerven verloren, und so ziehen sie sich zurück. Und am Ende fällt alles in sich zusammen. Die Ideale, um die es eigentlich gehen sollte, werden dabei schwer beschädigt.“

Kommt mir dieses „Muster“ nicht irgendwie bekannt vor, wenn ich an Afghanistan und die aktuelle Entwicklung denke?


Die Aufnahmen 1. bis 4. stammen aus dem sozialen Netz und wurden von den Taliban, von Sympathisanten oder von Einwohnern der Provinzhauptstadt Kunduz im Laufe des 28. September 2015 auf Twitter hochgeladen. Die Bilder sind während oder nach dem Einmarsch der Aufständischen in die Stadt gemacht worden. In das vierte Bild haben wir den Ausschnitt einer Taliban-Proklamation, die im Internet erschienen ist und der Bevölkerung von Kunduz-Stadt Schonung verspricht, einmontiert. Ein Großteil des Fotomaterials wird auch auf der amerikanischen Nachrichten-Website The Long War Journal dokumentiert.

Kleines Beitragsbild: Talibankämpfer am 28. September 2015 in Kunduz-Stadt.


Kommentieren

Bitte beantworten Sie die Frage. Dies ist ein Schutz der Seite vor ungewollten Spam-Beiträgen. Vielen Dank *

OBEN