Wenn aus Kameraden Feinde werden
2012
Long Island (USA)/Stockholm (Schweden). Rockville Centre-Oceanside ist ein Gemeindeverbund am Südende von Long Island, New York. Manhatten erreicht man von hier aus mit öffentlichen Verkehrsmitteln in knapp 40 Minuten. Bis zum 11. September 2001 waren von Long Island aus im Westen die beiden majestätisch funkelnden Glastürme in Lower Manhatten sehen. Die in den Himmel ragenden Zwillingstürme des New Yorker Welthandelszentrums, World Trade Center (WTC). 65 Einwohner von Rockville Centre verloren bei den Terroranschlägen an diesem Septembertag vor elf Jahren ihr Leben – sie arbeiteten in den WTC-Gebäuden oder waren Feuerwehrleute und Polizisten, die dort helfen wollten. Geschichte hat einen langen, oft tragischen Atem. Jetzt, am 18. August 2012, begleitete die Gemeinde einen jungen Mann, der 21 Jahre in ihrer Mitte gelebt hatte, zur letzten Ruhe: Lance Corporal Gregory T. Buckley, gefallen nach „9/11“ in Afghanistan, getötet von einem Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte – einem Kameraden, den Buckley ausgebildet hatte…
Der junge Mann aus Oceanside war Angehöriger des U.S. Marine Corps und im Distrikt Garm Ser in der südafghanischen Unruheprovinz Helmand stationiert. Helmand war nach dem Sturz der Taliban 2001 zu einer der Hochburgen des Widerstands gegen die Regierung Karsai und die NATO-Truppen vor Ort geworden. Zahlreiche gemeinsame Militäroperationen des US-Militärs und der afghanischen Sicherheitskräfte hatten den Einfluss der Taliban in den vergangenen Monaten entscheidend zurückdrängen können.
Greg Buckley Jr. diente in einem Bataillon der II. Marine Expeditionary Force, einem Großverband des U.S. Marine Corps. In seinem Außenposten in Garm Ser bildet er gemeinsam mit anderen Marines örtliche Sicherheitskräfte aus. Am 10. August 2012, einem Freitag, betrat einer der Polizeischüler den Fitnessraum, in dem sich Buckley gerade aufhielt. Er erschoss seinen Ausbilder und zwei weitere U.S. Marines, den 20 Jahre alten Richard A. Rivera und den 29 Jahre alten Scott E. Dickinson, mit einer Kalashnikov AK-47. Der Mörder der drei ISAF-Angehörigen wurde festgenommen. Lance Corporal Buckley hätte seinen Afghanistaneinsatz in zwei Tagen beenden und nach Long Island zurückkehren können…
Die beängstigende Zunahme sogenannter Insider-Attacken – auch bekannt als „Green-on-Blue“-Zwischenfälle – steht für eine neue Qualität und einen neuen Trend der Gewalt in Afghanistan. Ein ausgewiesener Kenner des Landes am Hindukusch ist Dr. Bruce Koepke, Senior Researcher des Internationalen Friedensforschungsinstituts Stockholm (SIPRI: Stockholm International Peace Research Institute). Die letzten 15 Jahre stand Afghanistan fast immer im Mittelpunkt seiner Studien. Der Politikwissenschaftler arbeitete in der afghanischen Hauptstadt Kabul für UNAMA (United Nations Assistance Mission in Afghanistan) und später für die Vereinten Nationen in der iranischen Hauptstadt Teheran. Zuletzt war er in Kabul im Büro des UN-Sondergesandten im Bereich „Analyse und Planung“ tätig.
Bruce Koepke untersuchte und kommentierte die Entwicklung der „Green-on-Blue“-Attacken am 22. September für SIPRI (die NATO bezeichnet diese Angriffe als „Green-on-Blue“ nach ihrem Farbcodierungssystem: Grün für die nationalen afghanischen Sicherheitskräfte, Blau für internationale Allianz). Dabei hatte er die vergangenen Tage vor Augen, die für die Koalitionstruppen in Afghanistan verhängnisvoll gewesen waren. Am 10. August waren Buckley, Rivera und Dickinson in Garm Ser ums Leben gekommen. Am 14. September hatten Taliban-Kämpfer in US-amerikanischen Uniformen – ein Novum – den Militärstützpunkt Camp Bastion in der Helmand-Provinz angegriffen und zwei Soldaten der US-Marineinfanterie getötet. Einen Tag später, am Samstag, hatte ein Bewaffneter in der Uniform einer regierungsnahen Miliz in Girishk im Distrikt Nahr-e Saraj der Provinz Helmand zwei britische Soldaten erschossen. Am frühen Morgen des 16. September schließlich hatte ein afghanischer Polizist im Distrikt Mizan in der Provinz Zabul vier US-Soldaten getötet.
Damit war die Zahl der Insider-Attacken auf insgesamt 32 in diesem Jahr angestiegen. Sie kosteten bislang 51 ISAF-Soldaten das Leben. Im Vergleich zum Vorjahr 2011 hat sich die Zahl der Angriffe durch Binnentäter somit bereits verdoppelt.
Nach Ansicht Koepkes haben die immer häufiger auftretenden Insider-Angriffe auf Angehörige der Internationalen Schutztruppe (ISAF: International Security Assistance Force) und ISAF-Zivilbeschäftigten große nachteilige Auswirkungen auf die Militärstrategie der Internationalen Gemeinschaft in Afghanistan. Denn, so erinnert Koepke noch einmal, begangen wurden die „Green-on-Blue“-Angriffe entweder von Angehörigen der afghanischen nationalen Sicherheitskräften (ANSF: Afghan National Security Forces) oder von Personen, die für die Angriffe extra ANSF- oder andere offizielle Uniformen anzogen. In beiden Fällen für die Angehörigen der NATO-geführten Schutztruppe ein Albtraum.
Wie die in Fachkreisen bekannte US-Nachrichten-Website „Long War Journal“ vor kurzem schrieb, sind bereit 15 Prozent aller diesjährigen ISAF-Verluste auf „Green-on-Blue“-Attacken zurückzuführen. All diese Zwischenfälle berühren auf schmerzliche Weise die Grundsatzfragen des Einsatzes am Hindukusch. Koepke: „Wie steht es um die Sicherheit und das Sicherheitsmanagement im Land – jetzt und in Zukunft? Wie wird sich der weitere Umgang mit den aufständischen Kräften gestalten? Und welche Rolle soll und wird die Internationale Gemeinschaft in Afghanistan übernehmen?“
Lassen wir in nun Bruce Koepke zu Wort kommen, der in seinem SIPRI-Beitrag die aktuelle Situation scharf ausleuchtet. Er schreibt:
Besonders gefährdet sind augenblicklich offensichtlich ISAF-Angehörige, die als Ausbilder oder Mentoren fungieren und eng mit den afghanischen Sicherheitskräften zusammenarbeiten sollen und müssen. Der Anstieg der Insidera-Attacken führte nun dazu, dass ISAF am 16. September bekanntgab, die gemeinsamen Patrouillen und Militäroperationen vorerst zu reduzieren. Diese Entscheidung, die quasi einem Aussetzen der Zusammenarbeit gleichkommt, muss auch vor dem Hintergrund der wachsenden landesweiten Proteste gegen die USA wegen des islamfeindlichen Videos „Innocence of Muslims“ gesehen werden.
Wie besorgniserregend inzwischen die durch die „Green-on-Blue“-Angriffe aufgeheizte Lage in Afghanistan ist, wird auch an der Reaktion Dänemarks und Großbritanniens deutlich. Die Regierungen beider Länder haben das Thema „Attacken durch Binnentäter“ zu einem Tagesordnungspunkt des nächsten Treffens der NATO-Verteidigungsminister am 9. und 10. Oktober in Brüssel gemacht.
Nach Auskunft von ISAF ist die Reduzierung der gemeinsamen Operationen nur eine vorübergehende Maßnahme, die sich lediglich auf kleinere oder mittlere Joint Operations (unterhalb der Bataillonsebene) beschränken soll. Das mag stimmen. Bedacht werden muss allerdings, dass sich die jetzt beschlossenen Maßnahmen der ISAF-Führung besonders auf jene Bereiche nachteilig auswirken werden, wo bislang das gemeinsame Sicherheitstraining am intensivsten praktiziert wurde und Afghanen und ISAF-Mentoren am engsten kooperiert haben. Die jüngste Entscheidung, die gemeinsamen Operationen zurückzufahren, wird nachhaltige Auswirkungen auf die Trainingsmöglichkeiten der afghanischen Sicherheitskräfte haben. Dies alles wiederum wird Einfluss nehmen auf den sogenannten Transitionsplan und letztendlich auf die endgültige Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die afghanische Regierung Ende 2014.
Auch wenn die Taliban die Urheberschaft für die meisten der Insider-Attacken für sich beanspruchen, so ist es doch sehr unwahrscheinlich, dass sie hinter allen Vorfällen stecken. Die NATO hat für das Jahr 2012 lediglich einen einzigen Fall bestätigt, bei dem Aufständische die ANSF infiltriert haben. Allerdings räumen die NATO-Experten ein, dass möglicherweise 25 Prozent der „Green-on-Blue“-Anschläge auf ISAF-Soldaten oder Zivilbedienstete des Militärs durch Aufständische initiiert oder durchgeführt sein könnten.
Ob nun die Taliban für diese Attacken verantwortlich sind oder nicht, eines bleibt festzuhalten: die Aufständischen werten jedes „Green-on-Blue “-Ereignis als untrügliches Zeichen für eine zunehmende Hilflosigkeit der ISAF-Truppen, die so zu einem früheren Abzug aus Afghanistan gedrängt werden könnten.
Leider war ISAF – und damit zu den Schlussgedanken Koepkes – bislang nicht in der Lage, eine dauerhafte enge Beziehungen zu den afghanischen Partnern aufzubauen. Viele Afghanen sind der fremden Soldaten im Land völlig überdrüssig. Alleine deren Anwesenheit scheint in vielen Fällen wie ein Katalysator gewirkt und den Gewaltausbruch ausgelöst zu haben. Die ISAF-Führung muss dringend alles erdenkliche tun, um die eigenen Truppen nachhaltig darin auszubilden, sich in einer Gesellschaft, die zutiefst religiös, traditionell und in vielen Fällen konservativ orientiert ist, angemessen zu bewegen.
Wie sieht die Wirklichkeit in Afghanistan aus? Bruce Koepke schließt seine Bewertung der Insider-Attacken der letzten Zeit eher pessimistisch. Die Wirklichkeit, so schlussfolgert er, sieht so aus, dass Afghanen bereit sind zu sterben um ihre internationalen Kameraden zu töten – die offenbar vielschichtigen Faktoren, die diesen neuen Trend befördern, bleiben auch weiterhin unklar und müssen dennoch intensiv und tiefgründig untersucht werden.
Zu der Trauerfeier für Greg Buckley Jr. kamen am 18. August mehr als 1000 Menschen. Nach dem Gottesdienst in der St. Agnes Cathedral von Rockville Centre fand die Beisetzung in Pinelaw auf dem Nationalfriedhof von Long Island statt.
Greg Buckley Sr., der Vater des gefallenen Soldaten, hatte dem Nachrichtensender CNN von seinem letzten Telefonat mit dem Sohn erzählt. Demnach soll sich der Angriff auf den Lance Corporal bereits im Vorfeld abgezeichnet haben.
Ein neuer afghanischer Auszubildender habe während einer gemeinsamen Nachtwache mit Gregory T. Buckley ununterbrochen wiederholt: „Wir wollen dich nicht hier, wir brauchen dich nicht!“ Irgendwann in dieser pechschwarzen Nacht habe der Lance Corporal es nicht mehr ausgehalten und den Afghanen angeschrien, still zu sein. Eine Gruppe von Offizieren habe die beiden Streithähne dann trennen müssen. Später habe ein Offizier Greg Buckley Jr. dann dazu gedrängt, dem Auszubildenden die Hand zur Versöhnung zu reichen, dieser aber habe ausgeschlagen. Bei seinem letzten Telefonat habe der 21-Jährige dann seinen Vater gebeten, die Familie auf das kommende Unheil vorzubereiten. Er spüre, so Greg, dass er in Afghanistan sterben werde – in der eigenen Militärbasis…
Hinweis: Unser Link führt Sie zu einem Video des US-Nachrichtensenders CNN; CNN hatte mit Greg Buckleys Vater ein Interview über die Vorahnungen seines Sohnes in Afghanistan geführt. Zudem finden Sie in unserer BIBLIOTHEK (Bereich INFORMATION) einen Beitrag aus einer früheren Ausgabe unseres Magazins bundeswehr-journal zum Thema „Interkulturelle Kompetenz“.