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Brüssel. Was Russlands Machthaber Wladimir Putin offensichtlich beabsichtigt – nämlich die völlige Unterwerfung des Nachbarlandes Ukraine, Demokratiebewegungen in seiner Umgebung im Ansatz auszulöschen und frühere postsowjetische Einflusszonen zurückzugewinnen – trifft auf einen zur Gegenwehr entschlossenen Westen. Noch niemals zuvor war es vorgekommen, dass Gipfeltreffen von NATO, G7 und EU an einem Tag und an einem Ort stattfanden. In Anwesenheit des Präsidenten der Vereinigten Staaten. Am heutigen Donnerstag (24. März) nun gab es diese historischen Gipfel – in Brüssel. Der Berliner Tagesspiegel kommentierte: „ Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union, des transatlantischen Verteidigungsbündnisses sowie der wirtschaftsstärksten Demokratien der Welt demonstrieren damit eine seltene Einmütigkeit. Das stimmt zuversichtlich.“ Konnten in Brüssel aber auch wichtige, brennende Fragen beantwortet werden?

Wo ist tatsächlich die Rote Linie für die NATO im Kriegsgeschehen in der Ukraine? Greift der Westen militärisch ein, wenn Putin dort ABC-Waffen einsetzen sollte? Zeigen sich die westlichen Staaten bei der Aufnahme Tausender und Abertausender ukrainischer Flüchtlinge auch auf lange Sicht solidarisch? Wie steht es um eine gemeinsame Entscheidung des Westens hinsichtlich eines Totalembargos russischer Energielieferungen?

Geklärt werden konnte am heutigen Donnerstag in Belgiens Hauptstadt zumindest eine wichtige Personalie. Der Norweger Jens Stoltenberg bleibt für ein weiteres Jahr, bis zum 30. September 2023, ziviler Chef der NATO. Dies gab das Bündnis in einer knappen Presseerklärung bekannt (darin heißt es auch: „Die Verbündeten danken [ihm] für seine Führungsstärke und sein Engagement, insbesondere in dieser für die internationale Sicherheit so kritischen Phase“). Offensichtlich hat sich Stoltenberg, der seit 2014 NATO-Generalsekretär ist, wegen des russischen Krieges gegen die Ukraine umentschieden. Möglicherweise ist er auch von den Staats- und Regierungschefs der 30 Bündnisstaaten zu diesem Sinneswandel gedrängt worden.

Ursprünglich wollte Stoltenberg seine im Herbst dieses Jahres endende Amtszeit nicht mehr verlängern und als Präsident der Zentralbank Norwegens in seine Heimat zurückkehren (wir berichteten). An die Zentralbankspitze in Oslo rückt nun die kommissarische Leiterin Ida Wolden Bache.

Verteidigungsministerin Christine Lambrecht sagte nach Bekanntwerden der Vertragsverlängerung des Generalsekretärs, Jens Stoltenberg sei „mit seiner besonnenen und klugen Führungsstärke ein Garant für Erfolg und Einheit der Allianz“. Sie freue sich sehr, dass er der Allianz in diesen schwierigen Zeiten erhalten bleibe.

Drei Gipfeltreffen an einem Tag in einer Stadt

Medien sprachen über den 24. März 2022 als „Gipfel-Tag der Superlative“. Die drei Treffen fanden exakt einen Monat nach Beginn der russischen Invasion in der Ukraine statt.

Im Mittelpunkt des EU-Gipfels standen die Lage in der Ukraine, der Umgang mit Kriegsflüchtlingen und die Abhängigkeit von der Einfuhr von Gas, Öl und Kohle aus Russland. An der ersten Sitzung nahm auch US-Präsident Joe Biden als Gast teil. Weitere Themen des Gipfels der Europäer, der bis zum morgigen Freitag (25. März) dauert, waren außerdem die Corona-Lage sowie grängende Wirtschaftsfragen.

Die Einladung zum G7-Gipfeltreffen hatte der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz ausgesprochen, denn Deutschland hat mit Beginn des neuen Jahres den G7-Vorsitz übernommen. (Anm.: Unter G7 versteht man den informellen Zusammenschluss der zu ihrem Gründungszeitpunkt bedeutendsten Industrienationen der westlichen Welt. Dies sind Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Kanada und die USA. Die EU ist als überstaatliche Organisation seit 1981 G7-Mitglied und seither hochrangig an den Treffen beteiligt.)

Vor seiner Reise nach Brüssel hatte Scholz nach Medienberichten erneut mit Russlands Präsident Putin telefoniert. Einzelheiten wurden von deutscher Seite nicht genannt.

Die NATO hatte bereits im Vorfeld des Gipfel-Tages in der belgischen Hauptstadt mit der Verstärkung ihrer Ostflanke durch vier weitere Gefechtsverbände zur Abschreckung Russlands begonnen. Generalsekretär Stoltenberg hatte dazu am Vortag mitgeteilt, dass als Standorte für diese sogenannten Battlegroups Bulgarien, Rumänien, Ungarn und die Slowakei vorgesehen seien. „Das bedeutet, dass wir acht multinationale NATO-Battlegroups entlang der gesamten östlichen Flanke haben werden“, so Stoltenberg.

Das Verteidigungsbündnis will sich der neuen Sicherheitsrealität stellen

Nach Ende des außerordentlichen NATO-Gipfels, zu dem auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj per Video zugeschaltet war, trat Stoltenberg abschließend vor die internationale Presse und fasste die wichtigsten Ergebnisse der Beratungen zusammen. Der NATO-Generalsekretär sagte dabei (Anm.: unsere Dokumentation ist die deutschsprachige Übersetzung seiner Ausführungen):

Wir haben soeben ein außerordentliches Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs des Bündnisses beendet. Es war ein Gipfel, der sich mit der größten Bedrohung für unsere Sicherheit seit einer Generation befasst hat: Präsident Putins Krieg gegen die Ukraine.

Die Menschen in der Ukraine leisten mit Mut und Entschlossenheit Widerstand. Das Land kämpft für seine Freiheit und für seine Zukunft. Wir stehen an der Seite der Ukrainer. Präsident Selenskyj hat sich mit einer leidenschaftlichen Botschaft an uns gewandt. Er hat den NATO-Verbündeten für die bedeutende Unterstützung, die wir leisten, gedankt. Und er hat die für sein Land lebenswichtige Bedeutung einer noch stärkeren militärischen Unterstützung unterstrichen.

Heute waren sich die Staats- und Regierungschefs der NATO einig, dass wir die Ukraine weiter unterstützen müssen und werden. Wir werden Russland weiterhin Kosten in noch nie dagewesener Höhe auferlegen. Und wir werden die Abschreckung und die Verteidigung der Alliierten verstärken.

Die Staats- und Regierungschefs haben unsere vier neuen NATO-Gefechtsverbände genehmigt. In Bulgarien, Rumänien, Ungarn und der Slowakei. Diese kommen zu den vier Gefechtsverbänden hinzu, die bereits in den baltischen Staaten und in Polen stationiert sind. Wir haben also jetzt acht multinationale NATO-Gefechtsverbände – von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer.

In ganz Europa unterstützen rund 100.000 US-Soldaten die NATO-Bemühungen. Und auch die europäischen Bündnispartner und Kanada haben ihre Truppen aufgestockt. Mittlerweile haben wir mehr als 40.000 Streitkräfte unter direktem NATO-Befehl, hauptsächlich im östlichen Teil des Bündnisses. Unterstützt werden diese Kräfte von einer großen Luft- und Seestreitmacht. Dazu gehören auch fünf Flugzeugträger-Kampfgruppen, die vom hohen Norden bis zum Mittelmeer operieren.

Heute haben sich die Staats- und Regierungschefs der NATO grundsätzlich darauf verständigt, unsere Abschreckung und Verteidigung langfristig neu auszurichten. Wir wollen uns einer neuen Sicherheitsrealität stellen.

An Land werden wir im östlichen Teil des Bündnisses über wesentlich mehr Streitkräfte verfügen, die in höherer Bereitschaft sind. Mit mehr vorbereiteter Ausrüstung und Nachschub. In der Luft werden wir mehr Flugzeuge einsetzen. Und wir werden unsere integrierte Luft- und Raketenabwehr stärken. Auf See werden wir Träger-Kampfgruppen, Uboote und eine beträchtliche Anzahl von Kampfschiffen auf Dauer einsetzen. Wir werden zudem unsere Cyberverteidigung stärken. Und wir werden unsere Übungen intensivieren, wobei wir uns auf die kollektive Verteidigung und die Interoperabilität konzentrieren werden.

Ich gehe davon aus, dass wir auf unserem nächsten Gipfeltreffen im Juni in Madrid über Details entscheiden werden.

Heute haben die Staats- und Regierungschefs der Alliierten auch vereinbart, die Ukraine weiter zu unterstützen. Wir werden helfen, das Grundrecht der Ukraine auf Selbstverteidigung zu wahren. Die Alliierten rüsten die Ukraine auch mit umfangreichen militärischen Gütern aus. Dazu gehören Panzerabwehr- und Luftabwehrsysteme sowie Drohnen. Letztere haben sich als äußerst wirksam erwiesen.

Darüber hinaus leisten die Alliierten umfangreiche finanzielle und humanitäre Hilfe.

Heute haben wir uns auch bereiterklärt, noch mehr zu tun. Unter anderem Unterstützung bei der Cybersicherheit. Und Ausrüstung, um die Ukraine beim Schutz vor biologischen, chemischen, radiologischen und nuklearen Bedrohungen zu unterstützen. Dazu könnten Detektions-, Schutz- und medizinische Hilfsmittel sowie Schulungen für Dekontaminierung und Krisenmanagement gehören.

Wir sind entschlossen, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um die Ukraine zu unterstützen. Und ich begrüße die konkreten Hilfsangebote, die die Bündnispartner heute gemacht haben. Gleichzeitig haben wir die Verantwortung dafür zu sorgen, dass der Konflikt nicht weiter eskaliert. Denn das wäre noch gefährlicher und noch verheerender.

Die Verbündeten waren sich außerdem darin einig, dass wir auch unsere Unterstützung für andere Partner, die durch russische Drohungen und Einmischungen gefährdet sind, verstärken müssen. Dazu gehören Georgien sowie Bosnien und Herzegowina. Gemeinsam mit der Europäischen Union müssen wir ihnen helfen, ihre Souveränität zu wahren und ihre Widerstandsfähigkeit zu stärken.

Wir haben uns auch mit der Rolle Pekings in der Krise befasst. Heute haben die Staats- und Regierungschefs der NATO China dazu aufgerufen, die russischen Kriegsanstrengungen nicht zu unterstützen. China darf die russische Invasion weder wirtschaftlich noch militärisch unterstützen. Stattdessen sollte Peking seinen bedeutenden Einfluss auf Russland nutzen, um sich für eine sofortige, friedliche Lösung einsetzen.

Die Verbündeten waren sich ferner einig, dass Weißrussland aufhören muss, sich zum Komplizen von Putins Invasion zu machen.

Beim heutigen Treffen bekräftigten die Staats- und Regierungschefs erneut unser starkes Engagement für die Politik der offenen Tür der NATO gemäß Artikel 10 des Washingtoner Vertrages. Die NATO-Erweiterung ist ein historischer Erfolg. Sie hat Demokratie, Freiheit und Wohlstand in ganz Europa verbreitet.

Einen Monat nach dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine hat sich das Sicherheitsumfeld unseres Bündnisses grundlegend verändert. Und zwar auf lange Sicht. Wir reagieren darauf. Sicherheit allerdings gibt es nicht zum Nulltarif. Und mehr zu tun, wird mehr kosten. Deshalb haben sich die Staats- und Regierungschefs der NATO darauf geeinigt, ihre Anstrengungen zu verdoppeln, um die 2014 gegebene Zusage für Verteidigungsinvestitionen einzuhalten. Die Bündnispartner werden rechtzeitig vor dem Gipfel in Madrid zusätzliche Pläne vorlegen, wie sie diese Zusage einhalten wollen. Ich begrüße es ausdrücklich, dass etliche Bündnispartnern heute Pläne für eine deutliche Erhöhung der Verteidigungsausgaben angekündigt haben.

In dieser gefährlichen Zeit sind transatlantische Einigkeit und Solidarität von entscheidender Bedeutung. Europa und Nordamerika stehen in der NATO fest zusammen und werden dies auch weiterhin tun.


Zu unserer Bildsequenz:
1. Außerordentlicher NATO-Gipfel am 24. März 2022 in Brüssel – Blick in den Tagungssaal vor Eröffnung der Spitzenbegegnung.
(Foto: NATO)

2. Eintreffen von US-Präsident Joe Biden bei der NATO. Rechts Generalsekretär Jens Stoltenberg, in der Bildmitte dessen Stellvertreter, der Rumäne Mircea Geoană.
(Foto: NATO)

3. Bundeskanzler Olaf Scholz beim außerordentlichen Gipfel der Allianz.
(Foto: NATO)

Kleines Beitragsbild: Der Norweger Jens Stoltenberg, bereits seit 2014 Generalsekretär des Bündnisses, verlängerte seinen Vertrag in Brüssel um ein Jahr bis zum 30. September 2023. Die Entscheidung fiel offenbar vor dem Hintergrund des derzeitigen Krieges in der Ukraine.
(Foto: NATO)


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