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Potsdam/Osnabrück. Der Militärhistoriker Sönke Neitzel kritisiert heftig die Ukraine-Politik von Bundeskanzler Olaf Scholz. Dessen stete Warnungen vor einer Eskalation seien „außenpolitisch unklug, ja riskant – Scholz zeigt Putin seine Angst“, sagte der Professor für Militärgeschichte an der Universität Potsdam im Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung (NOZ). „Das fördert das Bild eines schwachen Westens. Genau das hat dazu beigetragen, dass Putin den Krieg überhaupt gewagt hat“, so Neitzel. Deswegen müsse Scholz jetzt auch „auf eine Sprache der Stärke gegenüber Russland“ setzen. Das Interview erschien am heutigen Samstag (21. Mai) in der NOZ.

Mit Blick auf die Militärhilfe zog Neitzel folgende Bilanz: „Wenn sich die Ukraine auf Deutschland und die EU verlassen hätte, wäre sie jetzt russisch. Das muss man schonungslos so aussprechen.“ Der Anteil deutscher Militärhilfe sei bis Kriegsbeginn am 24. Februar „gleich null“ gewesen und laufe „nun doch eher schleppend“. Das Überleben der Ukraine hänge von den USA ab.

„Es braucht meines Erachtens mehr Bereitschaft, die Ukraine militärisch auszurüsten, auch wenn das die eigene Verteidigungsfähigkeit vorübergehend etwas schwächen könnte“, sagte der einzige Professor mit Lehrstuhl für Militärgeschichte Deutschlands der NOZ. „Ob Briten, Niederländer, Esten oder Polen: Alle gehen diesen Weg, und deswegen kann sich die Ukraine verteidigen. Dass Berlin nicht willens ist, mehr Panzerhaubitzen zu liefern als die Niederlande, das ist schwach.“

An Kiew geliefertes Material würde zwar der Bundeswehr fehlen. Aber die fünf zugesagten Haubitzen „sind gerade in der Ukraine viel sinnvoller eingesetzt, um auch die deutsche Sicherheit zu gewährleisten“. Es sei nicht zu erwarten, dass die deutsche Artillerie morgen selbst in die Schlacht ziehen müsse, argumentierte Neitzel.

Ein „Fototermin“ mit letztendlich großer Außenwirkung

Der Militärhistoriker rief Scholz auch zu einem baldigen Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in Kiew. „Ich finde, der Bundeskanzler sollte rasch in die Ukraine reisen“, sagte Neitzel gegenüber der NOZ.

Scholz habe mehrfach versichert, dass Deutschland fest an der Seite des angegriffenen Landes stehe, so der Historiker. „Aber es braucht endlich das Bild zu seinen Worten, es braucht dieses Zeichen.“ Zwar sei das „nur“ ein Fototermin. „Aber das Symbolische ist gerade immens wichtig. Auch wenn alle wissen, dass es um Inszenierung geht, ginge davon eine große Wirkung aus.“

Krieg in der Ukraine wird noch viele Jahre andauern

Neitzel hält Hoffnungen auf eine baldige Waffenruhe in der Ukraine für abwegig. „Der Wunsch nach Frieden vernebelt vielen den Blick auf die Realität. Meine Befürchtung: Der russisch-ukrainische Krieg wird noch viele Jahre fortdauern“, prognostizierte der Professor der Universität Potsdam im NOZ-Interview. Der Ruf von Bundeskanzler Scholz nach einer Waffenruhe „sei verständlich, aber Wunschdenken“.

Keine Seite sei militärisch so geschwächt, dass sie verhandeln müsse, um eine totale Niederlage abzuwenden, erklärte Neitzel dazu. Eine Waffenruhe könnte Moskau sogar in die Hände spielen. Die russische Kalkulation werde sein, in einer Feuerpause Kraft zu schöpfen und dann erneut anzugreifen. Bei einer Waffenruhe würde „in Berlin vielleicht frohlockt, aber ein Ende des militärischen Konfliktes wäre mitnichten in Sicht“. Die Begründung: Moskaus Truppen würden sich gerade entlang der Landbrücke zur Krim in der Südukraine „eingraben“. Um die Front dort zu verschieben „müsste die Ukraine eine Überlegenheit von mindestens 3:1 herstellen, bräuchte auch Luftüberlegenheit, um russische Nachschublinien zu kappen“. Dies traue er dem ukrainischen Militär nicht zu, meinte der Historiker.

Im Osten der Ukraine werde Putin alles daransetzen, die beiden Oblaste im Donbass komplett einzunehmen und dann zu halten. „Auch wenn ihm das nicht vollständig gelingen wird, dürfte die Intensität der Kämpfe nachlassen. In einigen Wochen erwarte ich ein Abflauen, dann stehen die Frontverläufe erst mal fest“, so Neitzel weiter. Putin habe die Landbrücke zur Krim und immerhin 20 Prozent der Ukraine erobert. „Das könnte ihm vorerst ausreichen – es könnte Putins Strategie sein, den Gegner dann auf die russischen Stellungen anrennen und langsam ausbluten zu lassen.“

Der Militärhistoriker hält sogar – wie er der NOZ sagte – „den Abwurf einer taktischen Nuklearwaffe für möglich, wenn Putin die Gefahr sieht, den Donbass an die Ukraine zu verlieren“. Der Kreml-Herrscher könne seinem Volk nicht mehr gegenübertreten, wenn er die Oblaste im Osten, die er schon als unabhängig von Kiew anerkannt habe, wieder aus der Hand geben müsste. Lediglich China könne Putin davor warnen, beim Einsatz einer Nuklearwaffe eine Grenze zu überschreiten und die Peking-Moskau-Allianz so zu zerstören. „Das könnte ihn selbst dann vom Einsatz solch einer Waffe abschrecken, wenn das russische Militär kollabiert.“

Wir hatten erst im März über Sönke Neitzel berichtet, der in der Sendung phoenix persönlich ausführlich Stellung zum Überfall Russlands auf das Nachbarland Ukraine bezog (siehe hier).


Unser Bild zeigt Professor Sönke Neitzel am 20. Juli 2018 bei einer Gedenkstunde zur Erinnerung an alle Widerstandskämpfer im Dritten Reich in der Strausberger Von-Hardenberg-Kaserne. Der Militärhistoriker trat bei dieser Veranstaltung als Gastredner auf.
(Foto: Mario Bähr/Bundeswehr)


Kommentare

  1. Dr.-Ing. U. Hensgen | 23. Mai 2022 um 15:33 Uhr

    „Scholz zeigt Putin seine Angst“. Der Bundeskanzler beschreitet auch meiner Ansicht nach den falschen Weg, aus welchen Gründen auch immer. Wenn er sich von Angst oder sonstigen Gefühlen leiten lässt, ist er der falsche Mann für dieses Amt. Rationale Entscheidungen sind in diesem Amt unabdingbar.

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