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Berlin. Nach dem durch den ukrainischen Widerstand erzwungenen Abzug russischer Truppen aus mehreren Orten in der Nähe der Hauptstadt Kiew gab es stündlich neue Hinweise auf Gräueltaten in den zuvor von Russen besetzten Gebieten: Augenzeugen berichteten von willkürlichen Hinrichtungen, Vergewaltigungen und Plünderungen. Nun sollen Beweise für die zahllosen Kriegsverbrechen dokumentiert und gesammelt werden, um die Verantwortlichen – die geistigen Brandstifter und die Täter – in naher Zukunft vor Gericht stellen zu können. Weltweites Entsetzen riefen besonders die Untaten der russischen Soldateska hervor, die in Kiewer Vorort Butscha gewütet hatten. Der Bundestag befasste sich am Mittwoch dieser Woche (6. April) mit den Massakern an ukrainischen Zivilisten in Butscha und den sich daraus ergebenden Konsequenzen. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas zeigte sich erschüttert über die Berichte aus dem kleinen Ort rund 25 Kilometer nordwestlich von Kiew.

Bas sagte vor Beginn der Aktuellen Stunde, die an diesem Mittwoch auf Verlangen der Fraktionen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP angesetzt worden war: „Nach dem Abzug russischer Truppen wurden unbegreifliche Gräueltaten sichtbar. Unsere Gedanken sind bei den Menschen in Butscha und Borodjanka, in Mariupol, in Charkiw und Cherson und an so vielen anderen Orten in der Ukraine.“ Städte würden belagert, Evakuierungen und humanitäre Hilfe blockiert. „Die Versorgung mit Lebensmitteln, Wasser und Strom wird systematisch gekappt. Es geht offensichtlich um Terror gegen ein ganzes Volk“, empörte sich die Bundestagspräsidentin.

„Der Deutsche Bundestag verurteilt diese Kriegsverbrechen auf das Schärfste“, erklärte Bas. „Diese Massaker müssen unabhängig untersucht und die Verantwortlichen angeklagt werden.“ Nun sei die Internationale Gemeinschaft gefragt. Ohne Wahrheit könne es keine Gerechtigkeit geben. Das gelte nicht nur in diesem Krieg. Die SPD-Politikerin: „Menschenrechtsverletzungen müssen in jedem Fall dokumentiert und die Opfer gehört werden. Dabei werden Menschenrechtsorganisationen eine wichtige Rolle spielen.“

Putins brutaler Krieg gegen die ukrainische Zivilbevölkerung

Die Fraktionen im Bundestag forderten im Laufe der Aktuellen Stunde angesichts der offensichtlichen russischen Kriegsverbrechen im ukrainischen Butscha eine umfassende Aufarbeitung und eine weitere Verschärfung der Sanktionen gegen Russland.

Die Bundestagsabgeordnete Britta Haßelmann (Bündnis 90/Die Grünen) eröffnete die Debatte sichtlich betroffen. Sie sagte: „Die Bilder von feige ermordeten Menschen, von Massengräbern, die Verzweiflung und Tränen von Müttern, Vätern und Kindern haben uns alle ins Mark getroffen. Es sind Menschen wie Sie und ich, die bis vor ein paar Wochen noch ein ganz normales Leben – frei und selbstbestimmt mitten in Europa – geführt haben.“ Hinter diesen Verbrechen gegen die Menschlichkeit stünden Putin und seine Armee, klagte Haßelmann an. Die Dokumentation der Kriegsverbrechen und die Aufarbeitung müssten jetzt beginnen. „Putin und seine Gefolgsleute werden sich dafür vor dem Internationalen Strafgerichtshof verantworten müssen“, ist sich die Abgeordnete sicher.

Weiter erklärte sie: „Die Morde, die Zerstörung und die Gräueltaten zeigen auf furchtbarste Weise, mit welcher unfassbaren Brutalität der russische Präsident seinen Krieg gegen die ukrainische Zivilbevölkerung führt. […] Wir müssen – gemeinsam mit unseren europäischen Partnern, mit den G7-Staaten, im Transatlantischen Bündnis – alles, was möglich ist, tun, um diese unmenschliche Brutalität einzudämmen.“

Mit einem fünften Sanktionspaket würden nun in der europäischen Gemeinschaft schärfere Sanktionen beschlossen, um den Druck auf Putins Machtapparat und sein System weiter zu erhöhen. Haßelmann zählte auf: „Dazu gehört ein Einfuhrverbot für Kohle. Dazu gehören Transaktionsverbote gegen weitere wichtige russische Banken, ein weiteres Einfrieren von Vermögenswerten und einiges mehr.“ Dieses Paket werde auch das Fundament sein für einen Komplettausstieg aus der Abhängigkeit von Russlands fossiler Energie. Damit werde das Putin-Regime noch härter getroffen, als dies die bisherigen Sanktionspakete – die Pakete eins bis vier – bereits täten.

„Unser Ziel muss es sein, Russland wirtschaftlich und finanziell abzukoppeln, ohne anderen Ländern zu schaden, gerade den ärmeren Ländern“, erklärte die Abgeordnete. Dazu gehörten auch Waffenlieferungen. Sie versicherte abschließend: „Wir werden gemeinsam mit unseren Partnern in Europa und im transatlantischen Bündnis mit der Verschärfung der Sanktionen und mit der Unterstützung beim Recht auf Selbstverteidigung durch Waffenlieferungen und humanitäre Hilfe alles, was machbar ist, tun, um diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu stoppen.“

Ukraine braucht zur erfolgreichen Verteidigung auch schweres Gerät

Johann Wadephul, der für die Union ans Rednerpult trat, sprach von einem „völkerrechtswidrigen Krieg, der unter Verletzung der Grundnormen der Humanität und unter Verletzung der Grundnormen der Genfer Konvention geführt wird“. Ein Krieg, der „keine Rücksicht mehr nimmt auf schwache Menschen, auf Kinder, auf Frauen, auf Schwangere, auf Alte“. Dies, so Wadepuhl, sei ein Krieg, der „auf barbarische Art und Weise“ geführt werde.

Der CDU-Politiker machte auch deutlich, in welchem Dilemma der Westen steckt: „Wir wollen nicht an dem Krieg formell teilnehmen, aber in dieser Situation muss Deutschland, muss die freie Welt wirklich aber auch alles tun, dass Putin diesen Krieg nicht gewinnt!“ Denn sein Sieg würde eine große Niederlage „für uns alle“ bedeuten: Eine Niederlage für Deutschland, eine Niederlage für die Europäische Union, eine Niederlage für die USA, eine Niederlage für die Unterstützer der Ukraine innerhalb der Vereinten Nationen, eine Niederlage für die Menschenrechte.

In der aktuellen Situation brauche die Ukraine, um sich erfolgreich verteidigen zu können, schweres Gerät – „gepanzerte Waffen, Bergepanzer, Brückenlegepanzer, vielleicht sogar Kampfpanzer, vielleicht sogar Artilleriegeschosse“. Vor diesem Hintergrund forderte Wadepuhl (auch mit Blick auf Verteidigungsministerin Christine Lambrecht): „Diese Bundesregierung muss aus der Unentschiedenheit herauskommen. Sie muss sich klar bekennen. Sie muss eine Führungsrolle einnehmen. Sie muss wissen, wo sie steht in dieser Situation, und erst recht nach Butscha.“

„Wir arbeiten jeden Tag mit Hochdruck daran, weitere Waffen liefern zu können“

Verteidigungsministerin Christine Lambrecht bezeichnete in ihrem Beitrag zur Aktuellen Stunden die Geschehnisse von Butscha als „eine Entmenschlichung, die alle Grenzen überschritten hat“. Putin nehme diese grauenvollen, grausamen Taten in Kauf. Jedoch wäre es falsch, alles nur auf ihn zu reduzieren. Die Ministerin führte dazu aus: „Es sind nämlich nicht nur Putins Taten; sondern jeder Kommandant, der so etwas befehligt, jeder Soldat, der so eine Tat ausführt oder geschehen lässt, machen sich mindestens genauso schuldig.“ Und: „Alle müssen sich fragen lassen: Ist dies das Russland, für das ihr die Uniform tragt, für das ihr stehen wollt? Ist dies das Russland, für das ihr kämpft? Die Internationale Gemeinschaft muss klar antworten: Jede Tat muss schonungslos verfolgt werden, und es muss alles dafür getan werden – alles –, dass wirklich jeder einzelne Kriegsverbrecher auch seine entsprechende harte Strafe bekommt.“

Weiter sagte die Ministerin an diesem Mittwoch im Bundestag: „Wir sehen in den Straßen von Butscha mehr als nur Leichen. Wir sehen im grellen Licht die Grausamkeit des Systems ,Putin‘. Es ist ein System, dem alle Mittel recht sind, um seine Interessen durchzusetzen, ein System, das nationalistischem Großmachtswahn alles unterordnet, das keine Grenzen kennt und keine Hemmungen, ein System, das Recht und Menschlichkeit mit Füßen tritt. Und deswegen darf dieses System nicht gewinnen; es darf sich nicht durchsetzen.“

Wer so handele wie Putin, dem sei es egal, ob die Leichen auf den Straßen von Butscha oder die Leichen auf den Straßen von Tiflis, Vilnius oder Berlin zu finden seien. Daher müsse die Ukraine in ihrem Kampf gegen das System „Putin“ unterstützt werden, wo und wie immer dies möglich sein. Allerdings – so gab Lambrecht zu bedenken – könne dieser Krieg in der Ukraine nicht mit einem Schlag beendet werden. Aber die russische Fähigkeit zur Kriegsführung könne geschwächt werden. Sie erklärte: „Wir haben bereits beispiellos harte Sanktionen erlassen – Sanktionen, die Russland an den Rand eines Staatsbankrotts gebracht haben und die zunehmend ihre volle Wirkung entfalten. Jetzt werden wir noch einmal entschlossen und gezielt nachlegen und dabei dann auch den Import von Energieträgern im Blick haben. Ganz aktuell ist das vorgeschlagene Importverbot für russische Kohle dabei ein ganz wichtiger Baustein.“

Zum Thema „Waffenlieferungen“ sagte die Verteidigungsministerin: „Wir haben die Ukraine bereits in großem Umfang auch mit Waffen beliefert, unterstützt. Wir arbeiten jeden Tag mit Hochdruck daran, weitere Waffen liefern zu können. Dafür sind wir im ständigen Austausch mit der ukrainischen Regierung, mit unseren Alliierten und Partnern und auch mit der Rüstungsindustrie.“ In diesem Zusammenhang fügte sie an: „Wenn wir über die Art und Anzahl der gelieferten Waffen aber nicht öffentlich reden, dann hat das einen guten Grund: Die Ukraine hat ausdrücklich darum gebeten, und wir halten uns daran. Es geht aus militärischer Sicht nämlich darum, dass Russland im Unklaren über die Typen und Mengen der gelieferten Waffen ist und sich nicht darauf einstellen kann. Deswegen ist es wichtig, dass wir handeln, aber nicht darüber reden, weil das das Ziel gefährden würde, nämlich die Ukraine zu unterstützen.“

(Anm.: Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, hat der Aussage von Verteidigungsministerin Lambrecht, sein Land bestehe bei den deutschen Waffenlieferungen auf Geheimhaltung, widersprochen. „Das stimmt nicht. Das ist die Linie, für die sich die Ministerin entschieden hat“, sagte Melnyk am 6. April 2022 in der ARD-Talksendung „Maischberger/Die Woche“. Es gebe leider „keinen offenen Dialog über das, was wir brauchen“, kritisierte der Diplomat. „Dieser Dialog läuft jedoch am 42. Tag des Krieges immer noch sehr schwer und jeder Tag kostet viel zu viel Menschenleben.“)

Äußerst wichtig sei auch, so Lambrecht weiter, dass die NATO und Deutschland nicht riskieren dürften, selbst zur Kriegspartei zu werden. Die Bundesregierung sei sich mit den Verbündeten in der NATO und den Partnern in der Europäischen Union einig, dass diese Grenze keinesfalls überschritten werden dürfte. „Wir müssen verhindern, dass es in Europa einen Flächenbrand mit allen sich daraus ergebenden schrecklichen Konsequenzen gibt“, warnte die Ministerin.

Die SPD-Politikerin schloss ihre Rede mit dem Appell: „Das System ,Putin‘ darf nicht gewinnen, darf sich nicht durchsetzen; denn sonst können wir alle nicht mehr sicher sein. Daher müssen wir auch in Deutschland lernen, sehr viel wehrhafter zu sein. Dieser Gedanke steht hinter der sicherheitspolitischen Zeitenwende, die der Bundeskanzler verkündet hat. Dieser Gedanke steht hinter dem Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr. Wenn wir heute in unsere Streitkräfte investieren, dann geht es darum, uns und unsere Verbündeten gegen militärische Erpressung und Gewalt abzusichern und unsere Werte von Recht und Menschlichkeit gegen das System ,Putin‘ zu verteidigen.“

Im zweiten Teil unseres Beitrages werden wir die Debattenbeiträge folgender Abgeordneter zusammenfassen: Bijan Djir-Sarai (FDP), Michael Roth (SPD), Jürgen Braun (AfD), Dietmar Bartsch (Die Linke), Patricia Lips (CDU), Jürgen Trittin (Bündnis 90/Die Grünen), Renata Alt (FDP), Michelle Müntefering (SPD), Thomas Erndl (CSU) und Derya Türk-Nachbaur (SPD).


Zu unserem Bildmaterial:
1. Getötete Zivilisten in der ukrainischen Kleinstadt Butscha. Etliche Opfer waren bei ihrem Auffinden immer noch gefesselt. Die Täter: laut Zeugenaussagen Angehörige des russischen Militärs oder sonstiger russischer Sicherheitskräfte. Die Aufnahme, ein Videostandbild, stammt von einem Beitrag der ukrainischen Nachrichtenagentur Ukrinform TV.
(Bild: Ukrinform TV/Wikipedia/Wikimedia Commons/unter Lizenz CC BY 3.0 –
vollständiger Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/)

2. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas am 6. April 2022 vor der Aktuellen Stunde „zu den von russischen Truppen verübten Massakern an ukrainischen Zivilisten in Butscha und den sich daraus ergebenden Konsequenzen“. Die Aktuelle Stunde fand statt auf Verlangen der Fraktionen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP.
(Videostandbild: Video Deutscher Bundestag)

Kleines Beitragsbild: Eingangsbereich des Internationalen Strafgerichtshofs im niederländischen Den Haag. Der Strafgerichtshof verfolgt Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord.
(Bild: nr)


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