Niestetal bei Kassel/Craonne (Frankreich). Fast auf den Tag genau vor 104 Jahren – am 4. Mai 1917 – wurden am Rande des französischen Dorfes Craonne rund 30 Kilometer nordwestlich von Reims 275 deutsche Soldaten des Württembergischen Reserve-Infanterie-Regiments 111 in einem Tunnel, der den Namen „Winterbergtunnel“ trägt, eingeschlossen. Eine schwere Granate der französischen Artillerie hatte den Tunneleingang getroffen und die dort gelagerten Munitionsvorräte vernichtet. Die deutschen Infanteristen hatten zu Beginn des Beschusses in dem mehr als 20 Meter unter der Erde gelegenen Verbindungsgang, der ihren Schützengraben und eine Felsenhöhle verband, Deckung gesucht. Dort saßen sie nun nach dem Artillerieeinschlag fest. Es wird vermutet, dass die meisten Soldaten Suizid begingen oder vor Durst starben. Nur drei von ihnen konnten eine Woche später lebend geborgen werden. Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge will nun in den kommenden Tagen mit den französischen Behörden klären, welche Möglichkeiten es im Wald von Craonne gibt, würdig an die Toten im Winterbergtunnel zu erinnern.
Gemeinsam mit der französischen Kriegsgräberpflegeorganisation ONAC (Office National des Anciens Combattants et Victimes de Guerre/Nationales Amt für die Veteranen und Kriegsopfer), der Archäologiebehörde DRAC (Direction Régionale des Affaires Culturelles/Regionaldirektion für kulturelle Angelegenheiten) und einer Spezialfirma für die geophysikalische Erkundung des Untergrundes –Bodenradar, Georadar oder auch GPR (Ground Penetration Radar) genannt – will der Volksbund jetzt das Geheimnis des Winterbergtunnels lüften.
Seit Anfang der vergangenen Woche hat die Organisation, die im Auftrag der Bundesregierung die Gräber deutscher Kriegstoten im Ausland erhält und pflegt, gemeinsam mit ihren Kooperationspartnern Fachwissen und umfangreiches technisches Material in den Wald von Craonne gebracht.
Die Sondierungen am Winterbergtunnel förderten bislang einige bedeutsame Funde zutage. Unter anderem Teile von Uniformen, die auf die Existenz vermisster deutscher Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg hindeuten. Nach Funden gefährlicher Sprengzünder musste die Suche jedoch vorerst abgebrochen werden.
„Wo genau der Tunneleingang liegt und ob und wie er zu öffnen ist, das sollte in einer dritten technischen Sondierung geklärt werden“, erklärte jetzt der Volksbund. Unterstützung leisteten bisher schon Soldaten der französischen Armee und der Bundeswehr, lokale Gendarmerie, Feuerwehr, Sanitäter, der französische Kampfmittelräumdienst, die Präfektur und viele ehrenamtliche Helfer.
Arne Schrader, der für den Volksbund die technischen Arbeiten koordiniert, drängt zur Eile – Berichte über illegale Grabungen haben die Experten aufgeschreckt. „Wir müssen uns mit unseren französischen Partnern ein Bild der Lage machen“, so Schrader. Am Mittwochmorgen (28. April) stieß sein Team bei den Grabungen auf die Schienen einer Feldbahn, die offenbar in den Tunnel führten und auch auf historischen Karten verzeichnet sind. Kurz darauf machten Soldaten einen weiteren spektakulären Fund: einen Uniformmantel des Reserve-Infanterie-Regiments 111. Damit war der Beweis erbracht, dass die Dokumente über die toten Angehörigen des badischen Regiments die Experten an die richtige Stelle geführt hatten.
Zuvor waren bereits ein deutscher Soldatenhelm, ein Bajonett, Granathülsen und eine Alarmglocke, wie sie damals an Tunneleingängen üblich war, entdeckt worden. Doch immer wieder musste die Suche wegen Munitionsfunden unterbrochen werden: Innerhalb weniger Stunden füllten die Kampfmittelexperten zwei Schubkarren mit den gefährlichen Hinterlassenschaften des Ersten Weltkriegs.
Doch nach diesen Anfangserfolgen stellten sich Rückschläge ein. Etliche Male mussten Grabungen und Bohrungen unterbrochen werden. Bagger hatten sich mehrere Meter tief in den Sand unter dem Waldboden gefressen, aber die massiven Bohrer stießen dennoch nicht durch die kalkhaltigen Schichten bis zur vermuteten Tunneldecke vor. Auch ein neu entdeckter Lüftungsschacht, den die Helfer mit Schaufeln und Muskelkraft erweiterten, brachte das Team nicht näher ans Ziel. Ein Bohrer brach und musste zweimal geschweißt werden. Kubikmeterweise mussten Sand und Gestein abgetragen und Munitionsreste gesichert werden.
Die Idee, von oben in die durch Georadar festgestellten Hohlräume im Berg einzusteigen, verwarfen die Spezialisten schnell wieder: viel zu gefährlich! Für alle Beteiligten galt und gilt bei diesem Vorhaben: Die Würde der Toten ist wichtig – aber die Sicherheit der Lebenden ist wichtiger.
Am Donnerstagmittag (29. April) schlugen die Kampfmittelbeseitiger dann Alarm: An mehreren Stellen im dichten Wald hatten Soldaten kurz zuvor Granathülsen mit explosiver Pikrinsäure entdeckt. Die Substanz (wissenschaftliche Bezeichnung 2,4,6-Trinitrophenol, kurz TNP) reagiert auf Druck, Reibung, Wärme und Hitze – auch noch nach Jahrzehnten. Projektleiter Schrader und sein französischer Kollege Eric Maury vom Generalsekretariat der ONAC beschlossen deshalb, die Sondierungsarbeiten abzubrechen.
In einer Pressekonferenz mit französischen Medienvertretern lobte Jérome Malet, Vertreter der Präfektur de l’Aisne: „Hier gibt es eine sehr gute Zusammenarbeit zwischen den französischen und deutschen Partnern.“ Die Sondierung sei gewissenhaft vorbereitet worden, zahlreiche Genehmigungen hätten eingeholt werden müssen. Volksbund-Vertreter Schrader betonte: „Ziel war es, zu erkunden, ob es einen gefahrlosen Zugang zum Tunnel gibt.“ Den gebe es nicht. Die Munitionsreste, darunter zwei große Granaten, sollten jeden warnen, der glaube, ohne Gefahr für Leib und Leben nach den Toten suchen zu können. Doch es habe sich auch gezeigt, dass die Toten hier – „nach menschlichem Ermessen“ – geschützt liegen.
Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge will nach Beendigung der Arbeiten am Winterbergtunnel nun gemeinsam mit den französischen Behörden nach einer Lösung suchen, um der Opfer der Katastrophe vom 4. Mai 1917 würdig gedenken zu können.
Die Frage nach einer „Gedenkstätte Winterbergtunnel“ sollte erst rund drei Jahre später wieder zu einem parlamentarischen Thema werden. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Andreas Jung (Wahlkreis Konstanz) wollte vor Kurzem von der Bundesregierung in einer Schriftlichen Frage wissen: „Wie gestaltet sich der aktuelle Stand der Umsetzung der beim Deutsch-Französischen Ministerrat vom 31. Mai 2021 vereinbarten Gestaltung einer Gedenkstätte für den Winterbergtunnel?“ Und: „Wie sieht die weitere Planung aus, um die von der Bundesregierung bis August 2024 angekündigte Eröffnung zum 110. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs sicherzustellen?“
Jung erhielt Antwort am 28. September 2023 von Thomas Bagger, Staatssekretär des Auswärtigen Amtes. Bagger schrieb: „Die Anlage der Kriegsgräberstätte am Winterbergtunnel liegt beim Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V., der sich mit Unterstützung der Bundesregierung um deutsche Kriegsgräber im Ausland kümmert. Nach Auskunft des Volksbunds sind die rechtlichen Voraussetzungen noch nicht gegeben. Er steht diesbezüglich in Kontakt mit seiner französischen Partnerorganisation.“ Weiter erklärte der Staatssekretär: „Die ursprünglichen Planungen des Volksbunds und der französischen Partner für eine Eröffnung zum 110. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs […], werden sich leider nicht im angedachten Zeitraum realisieren lassen. Nach Angaben des Volksbunds wird nun eine Einweihung für 2025 angestrebt.
Militärgeschichtliche Informationen über das Reserve-Infanterie-Regiment 111, dem die vermuteten Toten im Winterbergtunnel in der französischen Picardie angehörten, sind spärlich. In der Deutschen Digitalen Bibliothek, einem 2012 gestarteten virtuellen Kooperationsprojekt von Bund, Ländern und Kommunen, findet sich folgender Text:
„Das Regiment wurde infolge der Mobilmachung im August 1914 aufgestellt und der 28. Reserve-Division zugeteilt (XIV. Reservekorps). Es wurde für die Dauer des Krieges nur auf dem westlichen Kriegsschauplatz eingesetzt. Zu Kriegsbeginn wurde für die Ausbildung des Ersatzes ein Ersatz-Bataillon in Konstanz aufgestellt. Im September 1918 wurde das I. Bataillon des aufgelösten Reserve-Infanterie-Regiments Nr. 40 als II. Bataillon inkorporiert.“
Und weiter heißt es zur Geschichte des Reserve-Infanterie-Regiments 111: „Infolge der Demobilmachung blieben ab dem 2. Mai 1919 im Bereich des XIV. Armeekorps nur das Generalkommando, vier höhere Auflösungsstäbe und je eine Abwicklungsstelle bei denjenigen Infanterie- und Artillerie-Regimentern bestehen, die zum Friedensetat vor 1914 zählten. Im Freistaat Baden begann am 13. Januar 1919 mit der Annahme von Freiwilligen die Neubildung des badischen Volksheeres. Reichs- und Badische Volksregierung ließen als Reaktion auf den sogenannten Spartakus-Aufstand im Februar 1919 zusätzlich zu den bereits bestehenden Freiwilligenformationen bei allen Einheiten weitere Freiwilligenverbände aufstellen.“
Zu unserem Bildmaterial:
1. Mit Hurra in die Schlacht: Postkarte des Reserve-Infanterie-Regiments 111, verschickt im April 1915 von einem Regimentsangehörigen. Die heroische Kriegsdarstellung war zu diesem Zeitpunkt längst schon eine Farce.
(Foto: nr)
2. Die Wirklichkeit des Krieges: Soldaten des Reserve-Infanterie-Regiments 111 in einer Kampfpause im Unterstand.
(Foto: nr)
3. Arbeit mit schwerem Gerät im Eingangsbereich des Winterbergtunnels. Zu diesem Zeitpunkt belegte bereits ein gefundener Uniformmantel, dass es sich bei den vermuteten Toten im Tunnel um Angehörige des Reserve-Infanterie-Regimentes 111 handeln musste.
(Foto: Uwe Zucchi/Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V.)
4. Der Leiter des französischen Kampfmittelbeseitigungsdienstes, der die Arbeiten am Winterbergtunnel sicherte, zeigt die gefährlichsten Munitionsfunde.
(Foto: Uwe Zucchi/Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V.)
5. Schulterklappen des Reserve-Infanterie-Regimentes 111, gefunden im Bereich des Winterbergtunnels.
(Foto: Uwe Zucchi/Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V.)