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Frankfurt am Main/Berlin. Im Saal 165 C des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main begann am gestrigen Dienstag (16. Juni) der Prozess gegen die mutmaßlichen Täter, die für den Tod des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke verantwortlich sein sollen. Der CDU-Politiker war in der Nacht vom 1. zum 2. Juni 2019 auf der Terrasse seines Hauses im hessischen Wolfhagen-Istha erschossen worden. Der Verdächtige Stephan Ernst hatte zehn Tage nach seiner Festnahme bei der polizeilichen Vernehmung die Tat gestanden, später dann aber widerrufen. Jetzt belastet er den mutmaßlichen Unterstützer Markus H. schwer. Der ermordete Walter Lübcke stand bereits auf einer Liste des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU), der 2011 enttarnt wurde. Lübcke war seit Mai 2009 Regierungspräsident in Kassel. Todes- oder Feindeslisten sollen künftig unter Strafe gestellt werden und mit weiteren Gesetzesverschärfungen den Schutz vor Rechtsextremisten erhöhen.

Der CDU-Bundestagsabgeordnete Armin Schuster, Vorsitzender des Parlamentarischen Kontrollgremiums und Obmann seiner Fraktion im Innenausschuss, sagte gestern der Düsseldorfer Rheinischen Post: „Wir werden in Kürze beschließen, dass Hass und Hetze im Netz künftig schärfer verfolgt und bestraft werden, der Schutz von Kommunalpolitikern erhöht und sogenannte Feindeslisten unter Strafe gestellt werden.“

Angesichts des Prozessauftakts im Mordfall Lübcke bekräftigte der Innenexperte der Union, dass der Kampf gegen den Rechtsterrorismus inzwischen „zur Chefsache“ geworden sei. Vereinsverbote, Fahndungserfolge und Waffenfunde zeugten davon, dass der „Druck auf die Szene massiv gewachsen“ sei, so Schuster.

Bereits in den 1990er-Jahren Teil der „Anti-Antifa-Arbeit“ der Rechten

Tausende Menschen in Deutschland sind mittlerweile auf Todes- oder Feindeslisten gelandet – meist, ohne davon zu wissen. Das NSU-Netzwerk um Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe etwa hatte eine Datensammlung von rund 10.000 Personen und Objekten angelegt, die später auf einem der Rechner des NSU-Kerntrios in dem zerstörten Haus in der Zwickauer Frühlingsstraße gefunden wurde. Auf der NSU-Liste befanden sich sowohl migrantische als auch jüdische Institutionen, Moscheegemeinden und Synagogen. Aber auch Politiker wie Regierungspräsident Lübcke oder kleine Initiativen und Vereine, die zum Teil für Anschläge ausgespäht worden waren.

Der Berliner Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) erinnert daran, dass derartige von Neonazis und der extremen Rechten zusammengestellte Listen „grundsätzlich kein neues Phänomen“ seien. Bereits in den 1990er-Jahren sei die sogenannte „Anti-Antifa-Arbeit“ ein Schwerpunkt gewesen, mit der militante Neonazis ihre Gewalt und Bedrohungen von „ politischen Gegnern“ koordiniert und gesteuert hätten.

Liste „Wir kriegen euch alle“ der Gruppe „Nordkreuz“

Die bislang umfassendste Feindesliste stammt laut VBRG „aus einem Hack des Duisburger Punk-Versandhandels ,Impact‘ aus dem Jahr 2015“. Sie umfasse die persönlichen Daten von etwa 25.000 Personen – darunter neben E-Mail-Adressen auch Telefonnummern und Wohnanschriften, so der VBRG. Die Datensammlung sei im Juli 2017 von dem baden-württembergischen AfD-Landtagsabgeordneten Heiner Merz als „Antifa-Mitglieder-Liste“ erneut verbreitet worden. Die Strafverfolgungsbehörden hätten diese Datensammlung unter anderem im Jahr 2017 bei Durchsuchungen gegen mutmaßliche Mitglieder und Zeugen im Ermittlungsverfahren der Generalbundesanwaltschaft gegen das „Nordkreuz“-Netzwerk sowie im Jahr 2018 bei mutmaßlichen Mitgliedern der „Gruppe Revolution Chemnitz“ gefunden.

Zuletzt machte eine Liste namens „Wir kriegen euch alle“ der „Prepper“-Gruppe „Nordkreuz“ Schlagzeilen. Aufgeführt sind auf der Liste beispielsweise Politiker, Journalisten, Künstler sowie Aktivisten, darunter etliche prominente Persönlichkeiten. Gemeinsam ist ihnen, dass sie sich im engeren oder weiteren Sinne entweder für Flüchtlinge einsetzen oder gegen Neonazis, oft auch auf beiden Feldern aktiv sind. Zur Gruppe „Nordkreuz“, die sich Anfang 2016 in Mecklenburg-Vorpommern gebildet hatte und im August 2017 aufgeflogen war, gehörten mindestens 54 rechtsextreme deutsche „Prepper“ (Anm.: „Prepper“ bereiten sich auf schwere Krisen oder einen Zusammenbruch der staatlichen Ordnung vor und legen Vorräte – oft auch Waffenlager – an; ein Teil der Szene zählt zum rechtsextremen Spektrum.)

Hass, Hetze und Gewalt in Deutschland gegen politisch Engagierte

Der Bundestagsabgeordnete Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen) erhält seit Jahren Morddrohungen und steht unter Polizeischutz. Er unterstützt die Initiative der Regierungskoalition, das Führen sogenannter Todes- und Feindeslisten unter Strafe zu stellen. Özdemir sagte jetzt den Zeitungen der Funke-Mediengruppe (Dienstagsausgaben): „Todeslisten haben in einer Demokratie nichts verloren, egal, wie ernst sie nun gemeint sein sollen. Wer sich in unserer Demokratie engagiert – sei es für den Stadtteil, im Ort, in einer Initiative oder im Bundestag – muss dieses tun dürfen, ohne um die Sicherheit seiner Familie oder sein Leben zu fürchten.“ Özdemir betonte, spätestens nach dem Mord an Walter Lübcke müsse allen klar sein, dass Deutschland ein massives Problem mit Hass, Hetze und Gewalt gegen politisch Engagierte habe. „Deswegen ist es richtig, dass der Rechtsstaat eine Handhabe gegen solche Listen haben muss.“

Bereits im Juli vergangenen Jahres hatte Bundesinnenminister Horst Seehofer erklärt: „Listen, die Angst und Verunsicherung schüren sollen, bedrohen die Freiheit und damit unsere Demokratie. Alle unsere Sicherheitsbehörden in Bund und Ländern sind wachsam und arbeiten Hand in Hand. Bei konkreter Gefährdung werden Betroffene informiert. Vor solch perfiden Einschüchterungsversuchen dürfen wir nicht zurückweichen. Wir tun weiterhin alles, um die Freiheit und Sicherheit unserer Gesellschaft zu bewahren.“


Zu unserem Bildmaterial:
1. Ausschnitt aus der sogenannten „10.000er-Liste“ des Nationalsozialistischen Untergrunds.
(Bildquelle: ZDF-Dokumentation „Die Todesliste des NSU – Deutschland im Visier rechter Terroristen“, Film von Rainer Fromm und Ron Boese aus dem Jahr 2018, Listenausschnitt;
Bildschirmfoto und Bildmontage: mediakompakt)

2. Auch weiterhin im Internet auffindbar: die rechtsextreme Homepage „Nürnberg 2.0“. Hier wollen sogenannte „Islamkritiker“ Namen derjenigen erfassen, die in ihren Augen „deutsches Recht verletzen, indem sie einem Vordringen des Islams in Deutschland Vorschub leisten“. Wer hinter dem Projekt steht, ist unklar – Impressum und Kontaktadresse fehlen. „Nürnberg 2.0“ wird von einem Server in den USA aus gehostet. Der Onlineauftritt existiert seit mindestens 2011, seitdem ist er auch dem Bundeskriminalamt bekannt. Am 8. April 2020 schrieb die Süddeutsche Zeitung über den Hetzauftritt: „Die rechten Internet-Trolle brandmarken Journalisten als ,Lügenmedienvertreter‘ oder ,Lumpen- und Schmierenjournalisten‘. Politiker der Grünen oder SPD diffamieren sie als ,Volksverräter‘ oder ,Linksfaschisten‘. Und Menschen, die Flüchtlingen helfen, sind für sie ,Asyl-Lobbyisten‘. Den Namen Walter Lübckes, des ehemaligen Kasseler Regierungspräsidenten, haben die Betreiber von ,Nürnberg 2.0‘ nach dessen Ermordung kommentarlos von der Liste gelöscht.“
(Bildschirmfoto und Bildmontage: mediakompakt)


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