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Washington/Brüssel/Berlin. Die NATO steht in Afghanistan – so sieht es der Generalsekretär des Bündnisses Jens Stoltenberg – „in den kommenden Monaten vor einem Dilemma“. Mit einem Tweet am 7. Oktober hatte US-Präsident Donald Trump das Dilemma sogar noch verschärft. An diesem Mittwoch hatte er auf Twitter geschrieben: „Die wenigen tapferen Männer und Frauen, die noch in Afghanistan dienen, sollten bis Weihnachten zu Hause sein.“ Trumps Nationaler Sicherheitsberater Robert O’Brien hatte zeitgleich bei einer Veranstaltung in Las Vegas eine Reduzierung der amerikanischen Truppenstärke in Afghanistan bis Anfang kommenden Jahres auf etwa 2500 Mann angekündigt. Am 22. und 23. Oktober nun tagten die NATO-Verteidigungsminister – wegen der Coronavirus-Pandemie in Form einer Videokonferenz – und berieten dabei unter anderem auch über den Einsatz am Hindukusch. In einer Pressekonferenz beschrieb Stoltenberg den Spagat, zu dem das Bündnis inzwischen in Afghanistan gezwungen wird. Trumps Kurznachricht, dass er sich einen Abzug aller US-Truppen aus dem Land bis Weihnachten wünsche, macht den Spagat zusätzlich schmerzhaft …

Noch am 21. Oktober hatte der Parlamentarische Staatssekretär bei der Bundesministerin der Verteidigung Peter Tauber eine Frage des Bundestagsabgeordneten Alexander S. Neu (Die Linke) zu einem möglichen Komplettabzug amerikanischer Truppen aus Afghanistan beantwortet. Neu wollte wissen, welchen Einfluss der Trump-Tweet vom 7. Oktober auf die Vorbereitungen zum Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan hat.

Tauber versicherte: „Die Bundesregierung ist über Planungen der US-Regierung informiert worden, die nach einer Truppenanpassung bis November 2020 vorerst einen Verbleib der USA in Afghanistan mit rund 4500 Soldaten vorsehen. Der Bundesregierung sind darüber hinaus keine weiteren konkreten Pläne zu Truppenreduktionen seitens der USA bekannt. Ob und wann die Bedingungen für eine Anpassung oder die Beendigung der NATO-Mission ,Resolute Support‘ erfüllt sind, ist Gegenstand einer gemeinsamen Entscheidung aller NATO-Mitgliedstaaten. Diese liegt derzeit nicht vor.“

Grundsatz „Gemeinsam rein, gemeinsam raus“ gilt auch weiterhin

Tags darauf begann die Videokonferenz der NATO-Verteidigungsminister. Diese berieten am 23. Oktober (Freitag) – vor dem Hintergrund der innerafghanischen Friedensgespräche in der katarischen Hauptstadt Doha und der unterschiedlichen Abzugspläne der USA – über die Zukunft der aktuellen „Resolute Support Mission“. Die Behandlung des Themas endete ohne konkrete Entscheidungen.

NATO-Generalsekretär Stoltenberg erinnerte in seiner anschließenden Pressekonferenz an die Ausgangslage in Afghanistan. Er sagte: „Vor einigen Jahren hatten wir hier noch mehr als 100.000 Soldaten stationiert, von denen viele in Kampfeinsätzen involviert waren. Mittlerweile haben wir unsere Truppenpräsenz auf weniger als 12.000 Soldaten reduziert. Die Bündnispartner haben einmal beschlossen, sich gemeinsam in Afghanistan zu engagieren. Dies bedeutet auch, dass die Bündnispartner alle Entscheidungen über aktuelle und künftige Entwicklungen auch gemeinsam treffen werden. Und wir werden, wenn die Zeit dafür gekommen ist, Afghanistan auch gemeinsam verlassen.“

Die Rahmenbedingungen für einen Abzug aller NATO-Truppen nannte Stoltenberg ebenfalls noch einmal. Die Taliban und andere Regierungsgegner müssten das inakzeptable Maß an Gewalt reduzieren und den Weg für einen Waffenstillstand ebnen, so der Generalsekretär. Außerdem müssten die Aufständischen jegliche Verbindung zu al-Qaida und anderen terroristischen Gruppen abbrechen. Afghanistan dürfe niemals wieder Terroristen als Ausgangspunkt und Rückzugsraum dienen. Keinesfalls dürften auch die Errungenschaften der letzten zwei Jahrzehnte verlorengehen, die unter großen Opfern erreicht worden seien, mahnte er. Dies gelte insbesondere für die Rechte, die mittlerweile afghanische Mädchen und Frauen hätten.

Generalsekretär Stoltenberg über das Dilemma am Hindukusch

Wesentlich deutlicher formulierte der NATO-Chef seine Einschätzung hinsichtlich Afghanistan in der Fragerunde im Anschluss an sein Pressestatement. Nach einem entsprechenden Hinweis afghanischer Pressevertreter auf die nach wie vor andauernden Gewaltakte der Taliban räumte Stoltenberg ein: „Es ist klar, dass wir in den kommenden Monaten vor einem Dilemma stehen werden. Denn wir können entweder beschließen, Afghanistan zu verlassen und damit zu riskieren, dass das bisher Erreichte verlorengehen und das Land erneut zu einem ,sicheren Hafen‘ für internationale Terroristen werden kann. Oder wir können beschließen, zu bleiben – mit dem Risiko, unser bereits langfristiges Engagement in Afghanistan weiter fortzusetzen und damit auch weiterhin in Kämpfe mit den militanten Islamisten verstrickt zu werden.“

Letzten Endes müsse der Frieden in Afghanistan aber von den Afghanen selbst herbeigeführt werden. Die NATO und ihre Partner könnten dabei allenfalls unterstützen. Dies geschehe ja auch bereits seit fast zwei Jahrzehnten – mit militärischer und finanzieller Hilfe. Das Bündnis werde sich auch weiterhin für Afghanistan engagieren, versicherte der Generalsekretär. Wie es um die künftige militärische Präsenz bestellt sei, hänge aber wesentlich vom Verlauf und vom Ausgang der Friedensverhandlungen in Doha und insgesamt vom weiteren Verlauf des Friedensprozesses in Afghanistan ab. Erst danach sei es möglich, endgültige Entscheidungen zu treffen.

Stellt der US-Präsident die Weichen in Richtung einer demütigenden Niederlage?

Die schwierige Lage in Afghanistan und die Alleingänge des amerikanischen Präsidenten in Sachen „Truppenabzug“ waren in den vergangenen Tagen auch der Stoff für kritische Kommentare.

So mutmaßte Andreas Rüesch am 9. Oktober in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ), Trump wolle ohne ersichtliche militärische Notwendigkeit seine Truppen „Hals über Kopf“ aus Afghanistan abziehen, weil ihm „offensichtlich die Angst vor der Abwahl im Nacken sitzt“. Der frühere Auslandskorrespondent warnt: „Jetzt auf einen Schlag die Flagge zu streichen und alle Truppen abzuziehen, heißt nicht nur, die Schulung der afghanischen Regierungsarmee abzubrechen, die Bekämpfung von Terroristen einzustellen und überstürzt sämtliche Militärstützpunkte zu räumen. Es bedeutet auch, die eigene Verhandlungsposition zu untergraben.“

Ursprünglich – so ruft Rüesch in Erinnerung – hätten die USA einen Abzug nur für den Fall in Aussicht gestellt, dass die Taliban sich glaubwürdig von der Terrorgruppe al-Qaida distanzieren und mit der Regierung in Kabul ein Friedensabkommen aushandeln würden. Nach monatelangen Verzögerungen hätten diese Gespräche im September zwar begonnen. Aber: „Weshalb sollten die Taliban noch ernsthaft weiterverhandeln und schmerzhafte Konzessionen machen, wenn die Amerikaner so oder so davonrennen?“

Rüesch kommt in der NZZ zu dem Schluss: „Einmal mehr zeigt sich, dass Trumps Ruf als genialer Makler Schall und Rauch ist, das Resultat einer geschickten Selbstvermarktung. In Afghanistan scheint er in Wirklichkeit die Weichen in Richtung einer demütigenden Niederlage zu stellen.“ Rüesch gibt weiter zu bedenken, dass die USA (sollte die irrlichternde Entscheidung des Präsidenten umgesetzt werden) auch einen geopolitischen Schauplatz einbüßen könnten, auf dem mit bescheidenem Einsatz wichtige Interessen hätten verteidigt werden können – von der Terrorbekämpfung über das Recht der afghanischen Mädchen auf Bildung bis zur Einflussnahme an einer geopolitischen Scharnierstelle zwischen China, Russland und Iran.

Verbindliche Abzugstermine erst nach der amerikanischen Präsidentschaftswahl

Die Mitteldeutsche Zeitung befasste sich am 22. Oktober mit der Konferenz der NATO-Verteidigungsminister und urteilte: „[So kurz] vor den US-Wahlen [waren die Brüsseler Beratungen] von Zurückhaltung und Verunsicherung geprägt. Keiner weiß, ob im Falle von vier weiteren Jahren mit Trump im Weißen Haus das Bündnis noch eine Zukunft hat. Europa steht möglicherweise vor einer Zeitenwende.“

Dabei gehe es nicht allein um die Frage, ob die NATO ohne die Vereinigten Staaten Moskaus Aufrüstung etwas entgegenzusetzen hätte, meint das Blatt. Auch die Befürchtungen, Washington werde seine Soldaten aus Afghanistan zurückziehen und damit das Bündnis allein am Hindukusch zurücklassen, müsse die NATO als äußerst bedrohlich empfinden. Die ohnehin kargen Erfolge eines zwei Jahrzehnte dauernden Einsatzes stünden auf dem Spiel.

Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer gab vor dem Hintergrund der Brüsseler Beratungen zum „Resolute Support“-Einsatz der NATO ein klares Bekenntnis ab. Die Bundeswehr stehe zu ihren Verpflichtungen in Afghanistan, erklärte sie während der Videokonferenz im Onlinedienst Twitter. „Ich erwarte weiterhin, dass die Partner gemeinsam das Land verlassen und man sich dazu untereinander abstimmt.“ In der NATO-Sitzung hatte US-Verteidigungsminister Mark Esper übrigens keine konkreten Ankündigungen zu einem möglichen amerikanischen Truppenabzug im Dezember abgegeben.

Die NATO geht davon aus, dass konkretere Termine für einen Abzug frühestens beim Treffen der Außenminister des Bündnisses im Dezember beraten werden – und damit also nach der US-Präsidentschaftswahl Anfang November.


Zu unserem Bildangebot:
1. Videokonferenz der NATO-Verteidigungsminister am 22. und 23. Oktober 2020. Die Coronavirus-Pandemie machte eine zweitägige Tagung im Hauptquartier des Bündnisses unmöglich. Die Aufnahme zeigt Generalsekretär Jens Stoltenberg bei der Eröffnung der Videokonferenz.
(Foto: NATO)

2. An den Beratungen nahmen in Brüssel lediglich die Ständigen Vertreter des jeweiligen NATO-Landes sowie hochrangiges Personal persönlich teil, die Verteidigungsminister der Bündnisstaaten waren auf einer großen Video-Leinwand zugeschaltet.
(Foto: NATO)

3. Im Bildvordergrund Botschafter Rüdiger König, seit August 2020 Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland im Nordatlantikrat in Brüssel.
(Foto: NATO)

Kleines Beitragsbild: Die afghanische und amerikanische Flagge – die Aufnahme entstand am 5. November 2011 im Eingangsbereich der Forward Operating Base Salerno in der Khost-Provinz im Osten Afghanistans.
(Foto: Ken Scar/7th Mobile Public Affairs Detachment/U.S. Army)


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