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Kabul, Kunduz, Pol-e Chomri (Afghanistan)/Doha (Katar)/Washington. In der Nacht zum Samstag (31. August) wurde die nordafghanische Provinzhauptstadt Kunduz nach 2015 und 2016 erneut von einer Offensive der radikalislamischen Taliban heimgesucht. Medienberichten zufolge hatten die Angriffe der Aufständischen gegen 1:30 Uhr (Ortszeit) begonnen. Die Taliban selbst gaben später den Beginn der Kämpfe in einer Presseerklärung mit „ungefähr 3 Uhr“ an. Die „Mudschaheddin des Islamischen Emirats von Afghanistan“ hätten die Vororte von Kunduz-Stadt aus vier Richtungen angegriffen und bei ihrem Vorstoß auf die Innenstadt große Geländegewinne gemacht, heißt es im Statement weiter. Im Laufe des Samstags waren auch insgesamt acht Explosivgeschosse auf das Camp Pamir in Kunduz, wo sich derzeit mehr als 80 deutsche Soldaten befinden, abgefeuert worden. Bei dem Beschuss waren keine Personen zu Schaden gekommen. Inzwischen ist der Spuk in der Provinzhauptstadt vorbei! So gab das Büro der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs, UNOCHA) am heutigen Sonntagnachmittag in einer Eilmeldung bekannt: „Die Kämpfe zwischen den Taliban und afghanischen Sicherheitskräften am 31. August in Kunduz-Stadt sind beendet, es ist wieder Normalität eingekehrt.“

Bei dem massiven Vorstoß der Taliban über die Außenbezirke von Kunduz-Stadt in Richtung Zentrum hätten die Angreifer bedeutende Geländegewinne gemacht und mehrere Einrichtungen einnehmen können, darunter das Provinzkrankenhaus, die Zentrale der Elektrizitätsversorgung und den dritten Polizeibezirk der Stadt, so SPIEGEL ONLINE am gestrigen Samstag. Wie das ARD-Studio im indischen Neu-Delhi am Samstagabend meldete, hätten die schweren Gefechte in den betroffenen Bezirken von Kunduz den ganzen Tag über angedauert. Im Stadtzentrum habe sich zudem am frühen Abend ein Selbstmordattentäter inmitten von Sicherheitskräften und Journalisten in die Luft gesprengt.

Die Taliban reklamierten diese Tat für sich und verkündeten auf Twitter, dass auch der Polizeichef der Provinz Kunduz, Manzoor Stanekzai, unter den Toten dieses Anschlags sei. Dem widersprachen afghanische Regierungsstellen. Medienberichten zufolge wurde Stanekzai, der erst im Juli sein Amt angetreten hatte, allerdings bei dem Attentat verletzt. Die amerikanische Truppenzeitung Stars and Stripes behauptete, dass sich das Selbstmordattentat gegen den hochrangigen Polizeioffizier gerichtet habe, während dieser mit einer Gruppe von Reportern über die Ereignisse des Tages sprach. Insgesamt sollen bei der Explosion „mindestens zehn Menschen“ getötet und zahlreiche weitere Personen verletzt worden sein.

US-General und zwei afghanische Minister vor Ort in Kunduz

Stars and Stripes meldete außerdem, dass General Austin S. Miller, NATO-Oberbefehlshaber der „Resolute Support Mission“ und der US-Streitkräfte in Afghanistan, unmittelbar nach Beginn der Kämpfe nach Kunduz aufgebrochen war, um dort mit lokalen Sicherheitsexperten die Lage zu besprechen.

Nach Erkenntnissen des nationalen Fernsehsenders TOLOnews sollen im Laufe des Samstags in Kunduz auch afghanische Spezialkräfte eingetroffen sein und unmittelbar den Kampf gegen die Taliban aufgenommen haben. Die Luftwaffe Afghanistans soll zudem gezielte Einsätze gegen Aufständische in den Außenbezirken von Kunduz-Stadt geflogen sein. TOLOnews berichtete auch, dass Innenminister Massoud Andarabi und Verteidigungsminister Assadullah Khalid am Samstagnachmittag in Kunduz eingetroffen seien, um die Verteidigungsmaßnahmen zu koordinieren.

Der Beschuss des Feldlagers Pamir in Kunduz hatte nach Auskunft des Einsatzführungskommandos Potsdam am Samstagvormittag um 10:57 Uhr Ortszeit begonnen. Im Laufe des 31. August wurden dann laut Bundeswehr insgesamt acht Explosivgeschosse auf das Camp abgefeuert, vier davon schlugen im Lagerbereich ein. Es wurden keine deutschen Soldaten verwundet. Zurzeit befinden sich mehr als 80 deutsche Kräfte in Camp Pamir, das dem der Stab der afghanischen 20. Division als vorgeschobener Gefechtsstand des 209. Korps dient. Eine deutsche Expertengruppe berät und unterstützt den Stab, der für die militärische Sicherheit für mehrere Provinzen im Osten des Zuständigkeitsbereichs des Kommandos TAAC N verantwortlich ist (TAAC N = Train, Advise & Assist Command North).

Widersprüchliche Aussagen über den Ausgang der Kämpfe und die Verluste

In den Medienberichten vom heutigen Sonntag über das Ende der Kämpfe in Kunduz gibt es nur rare Hinweise auf eine Beteiligung der Amerikaner an den Gefechten. So schreibt SPIEGEL ONLINE, dass die afghanischen Sicherheitskräfte den Angriff auf die Provinzhauptstadt „mit Unterstützung durch US-Streitkräfte“ hätten abwehren können. Die US-Luftwaffe habe, wie auch die afghanische Luftwaffe, Einsätze gegen die Aufständischen geflogen.

Nach Angaben des afghanischen Innenministeriums wurden die Taliban schließlich in stundenlangen Gefechten zurückgeschlagen. Die Stadt Kunduz sei nun frei von Kämpfern der Miliz, so ein Sprecher. Die Lage in der Stadt habe sich normalisiert. Taliban-Sprecher Sabiullah Mudschahid bestritt dies gegenüber Journalisten und sprach von „Propaganda der Regierung“ und „Unwahrheiten“. Er versicherte, die Taliban hätten ihre Positionen in Kunduz bislang halten können.

Völlig widersprüchliche Aussagen gibt es auch zu den Opferzahlen der Taliban-Offensive auf Kunduz. Während die Aufständischen auf ihrer offiziellen Website „Voice of Jihad“ (Betreiber „Islamic Emirate of Afghanistan“) von „mehr als 43 getöteten afghanischen Sicherheitskräften“ und geringen eigenen Verlusten – sieben Gefallene und elf Verwundete – sprechen, beziffert die Regierung in Kabul die Verluste der Taliban wesentlich höher. Laut Regierungsangaben sind bei dem Angriff auf Kunduz-Stadt „drei Dutzend Talibankämpfer“ umgekommen.

Die zivilen Opfer dieser Attacke auf die Provinzhauptstadt gibt UNOCHA unter Berufung auf das Gesundheitswesen in Kunduz mit „fünf getötete und 56 verwundete Zivilisten“ an. Hinzu kämen noch die Opfer des Sprengstoffanschlags vom Samstagabend.

Im Vergleich zu den letzten beiden Großangriffen der Radikalislamisten scheint Kunduz diesmal mit dem Schrecken davongekommen zu sein. Die kurzzeitige Einnahme der Stadt durch die Taliban in den Jahren 2015 und 2016 hatte damals eine regelrechte Fluchtwelle ausgelöst – mehr als 40.000 Familien waren vor den religiösen Fanatikern geflohen (wir berichteten über die Taliban-Angriffe im Herbst 2015 hier und hier).

Politische Lösung eines seit 18 Jahren andauernden Konflikts?

Die Taliban wollten mit ihrem Überraschungsangriff auf Kunduz-Stadt offensichtlich ein klares Signal der Stärke Richtung Doha aussenden. Dort, in der Hauptstadt Katars, verhandeln seit Juli vergangenen Jahres Vertreter der Taliban-Führung mit Bevollmächtigten der US-Regierung über eine politische Lösung des inzwischen 18 Jahre alten Konflikts, der mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 und dem darauf folgenden Einmarsch von US-Truppen in Afghanistan begonnen hatte.

Dass die Taliban nach Kunduz-Stadt in der Nacht zum heutigen Sonntag dann auch noch das etwa 60 Kilometer südlich gelegene Pol-e Chomri, Hauptstadt der Provinz Baghlan, attackierten, spricht ebenfalls für den Plan, auf der Zielgeraden zu einem Abkommen die Vertragspartner durch zusätzliche Härte und Entschlossenheit beeindrucken zu wollen.

Die Taliban verfolgen mit dem möglichen Abkommen von Doha einen Komplettabzug der noch in Afghanistan stationierten rund 14.000 US-Soldaten und der anderen ausländischen Truppen. Die USA wollen bei den Verhandlungen im Gegenzug für eine Truppenreduzierung die feste Zusicherung erhalten, dass Afghanistan niemals mehr zu einem Rückzugsort für Terroristen wird.

Bundesregierung wird weitere Schritte gemeinsam mit den Partnern entscheiden

US-Präsident Donald Trump hatte erst am vergangenen Donnerstag (29. August) in einem Interview mit Fox News Radio angekündigt, nach dem Abkommen immer noch 8600 amerikanische Soldaten in Afghanistan belassen zu wollen. „Wir werden auf 8600 runtergehen, und dann von dort aus festlegen, wie es weitergeht“, so Trump bei Fox News Radio ohne weitere Details. Er versicherte allerdings, „immer eine gewisse amerikanische Präsenz in dem Land“ zu haben, um die Ausbreitung terroristischer Gefahren zu verhindern.

Eine veränderte Truppenpräsenz der Amerikaner am Hindukusch hat auch direkte Auswirkungen auf die internationalen Partner Washingtons. Deutschland ist momentan (Stand 19. August) mit 1149 Soldaten bei der „Resolute Support Mission“ in Afghanistan vertreten. Ob die Bundeswehr gegebenenfalls ihr Kontingent am Hindukusch personell verstärken wird, wenn die USA ihre Streitkräfte dort reduzieren, scheint allerdings unrealistisch.

Auf die Frage, ob die Bundeswehr in ausreichendem Maße dafür gerüstet sei, um eventuell „Ausgleichskontingente“ nach Afghanistan zu schicken, antwortete bei der letzten Regierungspressekonferenz am vergangenen Freitag (30. August) Kapitän zur See Frank Fähnrich, Stellvertreter des Sprechers im Verteidigungsministerium. Er bat mit Blick auf die immer noch laufenden Doha-Verhandlungen darum, einfach abzuwarten: „Ich möchte hier nicht von irgendwelchen Ausgleichskontingenten sprechen, weil wir wirklich sehen müssen, welchen Schritt die Friedensverhandlungen ergeben, welche Schritte in der NATO besprochen und entschieden werden. Dass wir uns im Konsens mit unseren Partnern entscheiden, ist, denke ich, selbstverständlich.“

Trump bezeichnete Afghanistan als „Harvard Universität des Terrors“

Mal sehen, wohin die militärische Doppeloffensive der Taliban, die rein politisch-strategisch motiviert gewesen sein dürfte, letztendlich tatsächlich führt. In den letzten Tagen ist deutlich geworden, dass Präsident Trump im Hinblick auf einen großen Truppenabzug aus Afghanistan nachdenklich geworden zu sein scheint. Die horrenden Summen, die der amerikanische Steuerzahler inzwischen für den längsten Krieg in der Geschichte der USA ausgeben musste und die vielen Opfer sind auch für die Administration Trump zu einer tonnenschweren Bürde geworden. Die Konsequenzen einer Beendigung des US-Engagements in Afghanistan wollen mehr als gut bedacht sein. Das hat Trump bereits erkannt.

Im Interview mit Fox News Radio bezeichnete der Präsident Afghanistan denn auch als „Harvard Universität des Terrors“. „Wir müssen Afghanistan aufmerksam beobachten – ich weiß nicht, ob ein Abkommen mit den Taliban am Schluss tatsächlich auch funktionieren wird“, so ein mittlerweile skeptisch klingender Trump.

Sediq Seddiqi, der Sprecher von Afghanistans Präsident Ashraf Ghani, konnte am Samstag bei einem Termin mit nationaler und internationaler Presse seine Enttäuschung über die Ereignisse nicht verbergen. Die aktuelle Lage in Kunduz zeige, wie wenig von der angeblichen Friedensbereitschaft der Islamisten zu halten sei. Der Angriff der Taliban in Kunduz stehe doch völlig im Widerspruch zu den Gesprächen in Doha. Zu diesem Zeitpunkt wusste Seddiqi noch nicht, dass die Talibankämpfer Stunden später auch Pol-e Chomri ins Visier nehmen würden.


Zu unserer Bildfolge:
1. Auf den Spuren der Taliban – Angehörige der afghanischen Armee kontrollieren eine Ortschaft in der Provinz Kunduz. Das Symbolfoto stammt vom April 2012.
(Foto: Robin Davis/55th Signal Company/COMCAM)

2. Der afghanische Fernsehsender TOLOnews informierte mit Beginn der Taliban-Offensive in Kunduz seine Zuschauer ausführlich über die heftigen Gefechte zwischen den Aufständischen und Regierungskräften in der Stadt.
(Videostandbilder: Quelle TOLOnews; Bildmontage mediakompakt)

3. Die USA verhandeln derzeit in der katarischen Hauptstadt Doha mit der Taliban-Führung über einen Frieden in Afghanistan. Nach dem Angriff der Radikalislamisten auf Kunduz-Stadt sagte Sediq Seddiqi, Sprecher des afghanischen Präsident Ashraf Ghani, in einer Pressekonferenz: „Der Angriff der Taliban steht doch völlig im Widerspruch zu den Gesprächen in Doha. Das zeigt doch nur, dass die überhaupt nicht bereit sind für Frieden in Afghanistan. Die wollen kämpfen.“
(Videostandbild: Quelle ARD)

Kleines Beitragsbild: Unsere Symbolaufnahme entstand am 15. Januar 2018 im Norden von Kunduz-Stadt bei einem Einsatz von Spezialkräften der afghanischen Armee gegen die Taliban.
(Foto: Sean Carnes/U.S. Air Force)


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